Die allererste Szene von À perdre la raison nimmt den Ausgang der Geschichte bereits vorweg. Eine Frau liegt im Spitalbett und äussert wieder und wieder den Wunsch, man möge ihre Kinder in Marokko beerdigen. Erst dann beginnt die Geschichte von vorne, als Liebesgeschichte: Murielle und Mounir sind bis über beide Ohren verliebt. Mounir lebt seit über zwanzig Jahren bei André, der ihn einst als Ziehsohn adoptiert und von Marokko nach Europa geholt hat. Als das junge Paar heiratet, bietet André den beiden an, zu ihm zu ziehen. Bald kommen Kinder hinzu. André unterstützt Mounir und Murielle auch finanziell. Aber mit der Familie wächst Murielles Unbehagen gegenüber der Abhängigkeit von André. Immer mehr engt sie die buchstäbliche «ménage à trois» ein.
Ein Lichtblick ist Mounirs Plan, als Familie zurück nach Marokko zu ziehen. Als André deswegen wütend wird, krebst Mounir zurück und überredet Murielle, mit ihm und André in ein Haus mit mehr Platz zu ziehen, schliesslich ist bereits das vierte Kind unterwegs. Murielle gibt klein bei, stürzt aber mehr und mehr in eine Depression. Emotional komplett isoliert begeht Murielle schliesslich eine schreckliche Tat.
Wie Émilie Dequenne die stille Verzweiflung einer ursprünglich glücklichen Frau spielt, die in der Tötung ihrer Kinder endet, ist beeindruckend. An den Filmfestspielen in Cannes wurde sie dafür als beste Schauspielerin ausgezeichnet. An Dequennes Seite spielt Tahar Rahim, dessen Karriere seit seiner umwerfenden Darstellung in Un prophète (F 2009) steil aufwärts geht. Die psychologisch interessanteste Figur, André, wird vom belgischen Charakterdarsteller Niels Arestrup gespielt. André tritt als paternalistischer Gönner auf, dessen Grosszügigkeit nach und nach ins Possessive und schliesslich in pure Macht umschlägt. Mounir und Murielle opfern dem zunächst so bequemen Arrangement ihre Freiheit und Autonomie als Paar, Murielle schliesslich auch ihren Verstand.
Die Beklemmung, der die Hauptfigur Murielle ausgesetzt ist, hat der belgische Regisseur Joachim Lafosse sehr geschickt inszeniert, indem er die Kamera oft in einer Ecke des Zimmers platzieren liess, sodass ständig der Eindruck entsteht, es sei noch jemand im Raum. Auch Lafosses gewählte Erzählstrategie besticht: Die Geschichte beginnt nicht nur mit ihrem Ende, sondern die erzählte Zeit beträgt fast sechs Jahre. Infolgedessen ist À perdre la raison von Ellipsen durchzogen. Was nicht gezeigt wird, wird damit fast ebenso wichtig, wie das, was gezeigt wird. Der Film vermeidet es zudem gekonnt, eine Erklärung für die Kindstötung zu liefern. Vielmehr erleben die Zuschauer ganz nahe mit, wie Murielle langsam in einen inneren Abgrund stürzt, aus dem es für sie nur einen Ausweg gibt, den Tod.