CATALIN DORIAN FLORESCU

DAS GELUNGENE ENDE — (ODER: ENDLICH, ENDLICH)

ESSAY

Der Lebensanfang ist uns allen gelungen, denn wir haben überlebt. Es war eine grosse Show, wir verursachten der Frau Schmerzen, die uns später zu lieben hatte, wir zögerten eine Weile, aber irgendwann waren wir in der Welt. Es wurde hell, der Geburtsschock oder der Protest darüber, wie man mit uns umging, brachte uns zum Schreien. Das war die erste Revolte unseres Lebens.

Dann wurden wir an die Brust der Mutter gelegt, ihre Stimme und das Saugen beruhigten uns, wir schliefen ein. Aber wir hatten dafür gesorgt, dass man um unsere Ankunft wusste. Akustisch waren wir eine Wucht, optisch weniger. Die Welt, die wir mit dem ersten Schrei abgelehnt hatten, stand uns zu Füssen. Wir sahen miserabel aus, aber wir waren ein Star. Schade, dass wir uns später an diese Sternstunde unseres Lebens nicht mehr erinnern würden.

Den Anfang haben wir geschafft, aber wie steht es um das Ende? Es ist kein angenehmer Gedanke, und die Gesellschaft tut alles, um ihn zu vermeiden. Wir werden uns früher oder später fragen müssen: Was für ein Ende will ich für mich? Mit zwanzig Jahren fragt man sich noch lange nicht, mit dreissig immer noch nicht, manche fragen sich noch viel später nicht. Eine Mischung aus Angst und Kränkung darüber, dass es mit uns zu Ende gehen soll, dass wir endlich sind, hält uns davon ab. Das Leben breitet sich erstmal vor einem aus ohne Horizont oder Begrenzung. Höchstens der Verlust mancher Freunde oder Verwandter erinnert uns daran, dass diese Endlosigkeit eine Illusion ist. Oder das Alt- und Gebrechlich-Werden unserer eigenen Eltern, die doch einst unsterblich waren.

Es gilt sich selbst zu fragen: Wie will ich enden? Was ist ein gutes Ende? Trotzig und selbstbewusst wie Belmondo in Godards stilbildendem Film Ausser Atem? Oder versöhnlich wie der kleine Bürger Lester, gespielt von Kevin Spacey, an der Peripherie einer x-beliebigen amerikanischen Kleinstadt in American Beauty?

Das trotzige Ende: Belmondo, der in Ausser Atem den Ganoven Michel spielt, will vor der Polizei flüchten, wird aber angeschossen und läuft verwundert eine Strasse hinunter. Die Polizei ist ihm dicht auf den Fersen, wie auch die Frau, die ihn verraten hat. Ihr hat er vertraut, mit ihr wollte er wegfahren. Vielleicht spürt sie Reue. In aussichtsloser Lage, von den Polizisten fast schon eingeholt, bereits schon am Boden liegend, schliesst er sich selbst die Augen. Er lässt niemanden über sich bestimmen, nicht einmal im Augenblick des Todes. Er stirbt so, wie er gelebt hat: kompromisslos.

Das versöhnliche Ende: American Beauty ist ein Psychogramm des amerikanischen bürgerlichen Lebens. Man hat ein Haus an der Peripherie, das genauso aussieht wie die Nachbarhäuser, zwei Autos, man hat Familie, aber niemand redet wirklich mit dem anderen. Jeder ist in sich eingekapselt und führt höchstens noch Monologe wie die Ehefrau, die im Auto wiederholt: «Ich bin kein Opfer.» Ihr Mann, Lester, wird am Ende vom Nachbarn erschossen. Sein Kopf liegt auf dem Küchentisch, das Blut fliesst über die Stirn, und aus dem Off hört man seine Stimme: «Ich habe gehört, dass in der Sekunde, in der du stirbst, dein ganzes Leben an dir vorbeizieht. Zuerst einmal ist jene Sekunde, keine Sekunde, sie zieht sich ewig hin, wie ein Meer aus Zeit. Ich sah, wie ich im Pfadfinderlager im Gras lag und Sternschuppen beobachtete. Und wie gelbes Laub von den Ahornbäumen fiel, die unsere Strasse säumten. Oder die Hände meiner Grossmutter und wie ihre Haut wie Papier wirkte. Und das erste Mal, als ich den brandneuen Firebird meines Cousins Toni bestaunte. Und Jenny und Caroline. Eigentlich sollte ich ziemlich sauer sein für das, was mir widerfahren ist. Aber es fällt schwer, wütend zu sein, wenn es so viel Schönheit auf der Welt gibt. Manchmal habe ich das Gefühl, die Schönheit auf einmal zu sehen, aber es ist einfach zu viel. Mein Herz fühlt sich an wie ein Ballon, der kurz davor steht zu platzen. Und dann geht mir durch den Kopf, dass ich aufhören sollte, die Schönheit festhalten zu wollen. Dann durchfliesst sie mich wie Regen und ich kann nichts empfinden ausser Dankbarkeit für jede einzelne Minute meines kleinen, dummen Lebens. Ich bin sicher, Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede. Aber keine Angst, eines Tages verstehen Sie es.»

Seine letzten Gedanken versöhnen Lester mit seinem Leben. Das ist mehr, als manchen von uns gelingen wird. Denn wir hängen obsessiv am Leben, wir haben doch nur dieses eine «kleine, dumme Leben». Wir würden alles geben, damit es nie zu Ende ginge. Wir haben doch nur alles angeschafft, um ein Bollwerk gegen den Tod zu bauen. Und je mehr wir das Ende aus unserem Leben, das in Krankenhäusern und Altersheimen zu erfolgen hat, verbannen, desto mehr schneiden wir uns davon ab, und damit auch vom Bewusstsein, ein endliches Leben zu führen.

Dieses Bewusstsein würde alles auf den Kopf stellen: unsere Überschätzung, unsere Rastlosigkeit, unsere Masslosigkeit. Während jahrhundertelang jedes Kind vom Sterben umgeben war, vom Alt- und Krankwerden, sind heutzutage die Medizin, die Fitness – die mit Gesundheit nichts zu tun hat, sondern nur mit dem Wunsch, leistungsfähig und begehrenswert zu bleiben – und die Jugendbesessenheit die Handlanger unseres vermeintlichen Triumphs über die Endlichkeit. Wer wollte es uns verübeln? Wer wollte es anders haben? Zyniker vielleicht? Oder doch Realisten?

Das taube Ende: La dolce vita von Fellini ist ein Film über die Selbstentfremdung eines Mannes, Marcello Rubini, der in seinem unwichtigen Reporterleben die Sehnsucht nach Höherem spürt. Er ist nicht fähig, sich zu binden oder glücklich zu sein. Der Film ist auch ein Kommentar über eine vergnügungssüchtige, dekadente, gelangweilte Gesellschaft. Am Ende befindet sich Marcello im Kreis solcher Leute, er hat sich aufgegeben, ist zum Dandy geworden. Die ganze Clique bricht ein ins Haus eines Bekannten und vergnügt sich dort bis zum Sonnenaufgang. Übernächtigt treten sie heraus und gehen im Gleichschritt durch den lichten Pinienwald auf den Strand zu, wo die Fischer einen riesigen, toten Fisch an Land ziehen. Sie schauen der Kreatur direkt ins starre, offene Auge, und es ist, als ob sie zurückschaute. Wer sind hier die Toten überhaupt?

Das Wind- und Wellenrauschen verstärkt sich, als Marcello plötzlich eine Stimme hört, die nach ihm ruft. Es ist eine junge Frau, die jenseits einer mit Meereswasser gefüllten Mulde steht und versucht, ihm mit Gesten klarzumachen, dass sie sich kennen. Hier wäre vielleicht die letzte Gelegenheit für einen neuen Anfang. Aber stattdessen ruft er, dass er sie nicht versteht, und folgt bald seinen Freunden. Zuletzt hat man nur noch die stärker werdenden Geräusche des Windes und des Meeres im Ohr.

Das geflüsterte Ende: Was hat Bill Murray Scarlett Johansson am Ende von Lost in Translation gesagt? Sie sind zwei in Tokio Gestrandete, die im selben Hotel absteigen und sich für einige Tage Gesellschaft leisten. Sie sind beide einsam, er, der alternde Filmstar, und sie, die in einer Beziehung mit einem sie vernachlässigenden Mann gefangen ist. Der Film wird oft als Komödie vorgestellt, aber es herrschen in ihm viel zu viel Melancholie und Ratlosigkeit, um eine solche zu sein. Die Spannung zwischen den beiden wird sich nie in Sexualität entladen, sie berühren sich nur zweimal ganz leicht. Am Ende, als er bereits schon im Taxi sitzt, entdeckt er sie in einer Fussgängerzone. Er umarmt sie fest und flüstert ihr etwas ins Ohr. War es etwas Zärtliches, Aufmunterndes? Gar eine Liebeserklärung? Wir werden es nie erfahren. Die Protagonisten bewahren sich ihre Intimität vor den voyeuristischen Zuschauern. Wir sind mit diesem Ende alleine gelassen, aber doch vertröstet.

Es gab einen faszinierenden, aber brandgefährlichen Philosophen, Emil Cioran, der über das Sterben schrieb. Und weil er im Leben nichts anderes als eine sinnlose Verlängerung der Ohnmacht sah, ein Sich-Verstricken in der eigenen Unfähigkeit und Wenigkeit, empfahl er den Selbstmord. Im Selbstmord zeige man wieder Grösse, übernehme die Kontrolle, die einem entglitten sei.

Sie werden vielleicht sagen, dass man nicht übertreiben sollte. Denn das Leben ist eine gute Gelegenheit für viel Schönheit und für Momente, in denen wir über uns hinauswachsen.

Hätte Cioran besser geschlafen – er litt an Schlaflosigkeit –, wäre er wohl kaum auf solche Gedanken gekommen, möchte man denken. Hätte Cioran die heilsame, befreiende Kraft des Schlafes erlebt, so hätte er erfahren, dass jeder Tag einen natürlichen Rhythmus hat, einen Anfang und ein Ende, und dass man sich nach getaner Arbeit vertrauensvoll dem Schlaf übergeben kann.

Der Schlaf, der grosse Taktgeber unseres Lebens, Befreier und Verschlinger zugleich. Der kleine Tod am Ende des Tages, nur damit wir am nächsten Tag wiedergeboren werden. Für manche ist dieser Taktgeber befreiend, sie erleben ihn als einen Eintritt in eine andere Welt, eine Traumwelt. Andere wiederum sehen in ihm bloss ein schwarzes, das Bewusstsein auslöschendes Loch. Für Cioran war er der grosse, herbeigesehnte Abwesende, denn das Leben war ein Kontinuum ohne Anfang oder Ende. Er kannte die Gnade des täglichen Endes nicht und wünschte sich den grossen Knall, das erlösende Finale. Aber nicht einmal Cioran folgte Cioran: Er starb im hohen Alter und nicht durch die eigene Hand.

Jedoch, lag Cioran wirklich in allem so falsch? Es stellt sich uns die Frage nach dem richtigen Leben, denn man kann sich kein Ende ohne das dazugehörende Leben vorstellen. Das Ende ist nichts Isoliertes, jedes Leben findet sein eigenes individuelles Ende. Und wir haben die Wahl darüber, welches Leben wir führen wollen. Und ebenso haben wir die Wahl, welches Ende dem Leben folgen soll. Cioran zeigt uns eben auch auf, dass wir Verantwortung für uns tragen. Dass wir das Leben – und auch dessen Ende – nicht passiv erleiden dürfen.

Wollen wir in dieses Leben hineinwachsen, unsere menschlichen Qualitäten vervielfältigen und verfeinern oder dumpf und müde leben und sterben? Wir haben die Wahl, während es Menschen gibt, die in Knechtschaft leben und sie nicht haben. Nur so, indem wir uns dieser Wahl stellen, wird unser Leben zu seinem – hoffentlich – guten Ende kommen. Man kann nicht ungestraft das Leben ohne sein Ende denken – oder das Ende ohne das dazugehörige Leben.

Das verschlüsselte Ende: Über das Ende von Odyssee 2001 wurde viel geschrieben. Regisseur Stanley Kubrick erklärte: «Über die philosophische Bedeutung von Odyssee 2001 könnt ihr spekulieren, wie ihr wollt.» Seitdem geistert ein Rätsel durch die Filmgeschichte. Was wollte Kubrick uns damit sagen?

Als einziger Überlebender der Mannschaft eines Raumschiffes, das unterwegs zum Jupiter ist, findet Bowman den Monolith, der sich schon vorher auf der Erde und auf dem Mond gezeigt hat. Bowman ist vollkommen alleine, nachdem er den mörderischen Computer HAL, der seine Leute umgebracht hat, ausgeschaltet hat. Zum Schluss des Films werden eine Reihe psychedelischer Szenen gezeigt, in denen sich der Raumfahrer in futuristischen Räumen als sterbender Greis sieht. Anschliessend schwebt er als Säugling im Weltraum und schaut auf die Erde. Niemand hat dieses verstörende Ende wirklich verstanden, und doch kann es niemand wirklich ganz vergessen.

Das missratene Ende: Taxi Driver von Martin Scorsese hätte an sich einen sehr stimmigen Schluss. Wenn der Regisseur diesen Schluss nur nicht künstlich verlängert hätte. Travis, gespielt von Robert de Niro, ist ein einsamer, in den Wahnsinn abgleitender Taxifahrer, der vor allem nachts fährt. Er hinterlässt eine Spur der Gewalt, als er am Ende des Films das Mädchen Iris befreien möchte, die mit Drogen gefügig und zur Prostitution gebracht wird.

Er verpasst sich einen Irokesenschnitt, steckt sich Pistolen in die Ärmel und fährt zum Haus, das als Bordell dient. Er erschiesst den Zuhälter Spot auf offener Strasse und dann jeden, der sich ihm auf den langen Fluren in den Weg stellt. Er setzt sich neben dem schreienden Mädchen hin, blutüberströmt, stellt die Pistole unter sein Kinn und drückt ohne Erfolg ab. Die ganze Zeit hört man die langsamen Schläge einer Trommel, wie bei einem Begräbnis.

Als die Polizisten hereinkommen, setzt er sich die Finger an die Schläfe und drückt symbolisch ab. Jetzt beginnt die Filmkamera ihren Rückzug. Wir sehen die Verbrechensszene aus der Vogelperspektive, dann wieder die Flure, die toten Körper, das Blut an den Wänden. Dann sind wir plötzlich auf der Strasse und sehen, weiterhin von oben, die Menschenmenge, die sich vor dem Eingang versammelt, und die Polizeiwagen. Man will rufen: «Stopp! Perfekt!» Doch Scorsese geht weiter, nur er weiss wieso. Oder vielleicht die Produzenten, die ein solch düsteres Ende nicht haben wollten.

Jedenfalls wird uns in der nächsten Szene eine Wand gezeigt, an der ein Brief klebt, und wir hören aus dem Off die Stimme des Vaters von Iris, der sich bei Travis bedankt. Und Travis? Während wohl für Mord in Amerika viele lebenslänglich ins Gefängnis wandern, fährt dieser einige Zeit später wieder Taxi. Und die Frau, die ihn früher einmal abgelehnt hat, scheint plötzlich nicht mehr abgeneigt zu sein. Schliesslich ist Travis nun ein Held. Ein verkitschtes, allzu märchenhaftes Ende, auch wenn wir nicht ganz wissen, ob es die Realität ist oder Travis sich das alles bloss vorstellt.

Ich bin kein Regisseur, sondern Schriftsteller, ich weiss zu wenig über das Handwerk des Filmemachers und über die Notwendigkeit, einen Film mit einer grossen Eröffnung zu beginnen. Ich achte darauf, dass der erste Satz in einem Roman immer Charakter hat. Ein guter erster Satz ist wie eine gelungene Eröffnung beim Schachspielen. Er gibt den Rhythmus, die Stimmung, die Musikalität des weiteren Textes vor. Er packt den Leser oder auch nicht.

Man kann also nicht vom Ende reden, ohne auf den Anfang zu achten und eigentlich auf alles dazwischen. Denn mit dem ersten Akt nimmt das Drama seinen Lauf und kommt viele Seiten später zu seinem natürlichen Ende. Es steuert auf dieses eine Ende zu, noch lange bevor der Leser oder gar der Autor es kennen. Alles hängt mit allem zusammen, alles ist organisch verbunden und jede Entscheidung, die ich über den Text treffe, wirkt sich auf das Ganze aus.

Ich kenne wenig Regisseure, die auf einen packenden Anfang setzten. Am ehesten Fellini. In La dolce vita wird eine Jesusfigur mit ausgebreiteten Armen über Rom geflogen. Sie scheint alle zu segnen: die Armen, die bald in die nach dem Krieg an der Peripherie hochgezogenen Wohnblöcke einziehen werden. Die Touristinnen, die sich auf einem Hausdach sonnen. Sogar den Vatikan segnet sie.

In 8 ½ träumt der Protagonist, ein Regisseur in der Schaffenskrise, dass er in einem Tunnel steht und in seinem Auto gefangen ist. Auf keiner Seite kann er hinaus, zu dicht stehen die anderen Autos, aus denen ihn ausdruckslose Gesichter anschauen. Aus einem Bus hängen Arme heraus. Man hört sein Atmen immer lauter. Ein klaustrophobischer, beunruhigender Anfang. Dann aber schwebt er über die Autodächer hinweg, steigt in den Himmel. Plötzlich erscheint sein Rechtsanwalt an einem Strand und hält ihn an einem Seil fest, ein wenig wie einen Drachen. Der Rechtsanwalt sagt: «Runter, endgültig runter mit ihm.» Dann beginnt er zu stürzen, bis er nach Luft schnappend im abgedunkelten Zimmer eines Sanatoriums erwacht.

Und There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson beginnt mit einem einzigen metallischen Ton, wie die Sirene einer Fabrik, der sich steigert, während die Kamera die Szenerie zeigt: die kalifornische Halbwüste. Unter der Erde, in einem dunklen Schacht, sucht Daniel, gespielt von Daniel Day-Lewis, nach Silber. Man schaut ihm beim Wühlen zu, beim Platzieren der Dynamitstäbe, beim Heraufsteigen. Sobald das Dynamit explodiert ist, will er wieder hinunter, stürzt Hals über Kopf in die Tiefe und bricht sich ein Bein. Aber er hat Silber gefunden, später wird es Erdöl sein.

Die letzte Einstellung des Anfangs zeigt einen Raum, in dem die Silberklumpen auf einer Waage gewogen werden. Vor dem Tisch liegt Daniel am Boden. Wie er es mit gebrochenem Bein bis dorthin geschafft hat, ja, wie er überhaupt aus dem Schacht herausgekommen ist, weiss keiner. Aber es ist von nun an klar: Dieser Mann ist so eigenwillig, so unverwüstlich, so unermüdlich, dass ihn nichts und niemand von seinem Vorhaben abbringen kann. Dieser Mann geht über Leichen, wenn es sein muss. Und so wird es auch kommen, bis zum bitteren Ende.

Solche Anfänge ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, entwickeln einen Sog. Hier ist die Vision eines besonderen Künstlers am Werk, ein starker gestalterischer Wille. Solche Anfänge geben dem Werk Charakter und Richtung.

Aber das Ende? Wie setzt man ein gutes Ende? Ist es ein offenes, alles in der Schwebe lassendes Ende? Ist es eines, das beruhigt und harmonisiert? Eines, das man gleich wieder vergessen kann, oder ein verstörendes, das umso länger erinnert wird? Wie verhilft man seinem Werk zu einem würdigen, nicht gefälligen Ende? Sodass man auch nach Jahrzehnten sagen wird: «So muss es enden und nicht anders.»

Das ultrakurze Ende: There Will Be Blood ist eines jener Meisterwerke, das man nicht so schnell vergisst. Am Ende erschlägt Daniel seinen Kontrahenten in seinem Bowlingraum. Er setzt sich keuchend neben den leblosen Körper. Als jemand nach ihm ruft, dreht er den Kopf und ruft: «I am finished.» Dann wird ausgeblendet. Dieser Schluss ist so kompromisslos wie der Anfang. Daniel hat sein Werk zu Ende geführt. Er ist aber auch am Ende.

Das beiläufige Ende: Im rumänischen Film Hinter den Hügeln von Cristian Mungiu bringen die Nonnen und der Pope eines abgeschiedenen Klosters ungewollt eine junge Frau um, die sie für besessen halten. Sie binden sie zu lange fest. Die herbeigerufenen Polizisten nehmen einige der Nonnen und den Popen mit auf den Polizeiposten, zum Verhör. Das Auto hält an einer Strassenkreuzung an, die Kamera befindet sich im Rücken der Polizisten, die vorne sitzen, und nimmt durch die Windschutzscheibe die Strasse auf. Die Polizisten unterhalten sich entspannt, als dann plötzlich ein Bus vorbeifährt und einen Haufen Dreck auf die Fenster des Autos schleudert. Schluss.

Niemand kann dem Künstler die Verantwortung für ein gutes Ende abnehmen, denn das, wofür er sich entscheidet, wird seinem Werk im Idealfall den letzten Schliff geben. Zum Teil ist es ein Geheimnis, wie man zu diesem Ende kommt, zum Teil aber muss der Künstler in das Werk hineinhorchen, um zu verstehen, welches Ende sich auf natürliche Weise aus dem Bisherigen ergibt.

Auch im Leben müssen wir auf ein passendes Ende achten. Das aber scheint mir Teil einer grösseren Verantwortung zu sein: jener, ein auf unsere Möglichkeiten, Talente, Fähigkeiten, Werte und Hoffnungen abgestimmtes Leben zu führen.

Ich weiss, dass es viele Unwägbarkeiten, Krankheiten, Unfälle in einem Menschenleben gibt, die unserem Schicksal jederzeit eine andere Wendung geben können. Anders steht es mit dem Werk des Künstlers: Dieser kann das Ende des Werks bewusst setzen, er kann sich Zeit lassen, kann es durchdenken. Er kann herumexperimentieren, während wir in der Regel nur einen einzigen Versuch haben. Das Leben selbst. Und trotzdem: Im Leben wie in der Kunst müssen wir alle eine Bewusstheit an den Tag legen, die am Schluss beiden einen besonderen Glanz verleiht.

Das pessimistische Ende: Für Béla Tarrs Filme braucht man genug Sitzleder. Unendlich langsam und repetitiv entfalten sich seine Werke. Das Turiner Pferd sah ich in London, am Anfang waren wir dreissig Zuschauer im Saal, am Ende nur noch die Hälfte. Jedoch lohnte sich das Warten auf das Ende, es machte aus einem eigenwilligen Film einen visionären.

Vater und Tochter leben in einer kargen, vom Wind gepeitschten Senke. Man sieht nicht über ihre Ränder hinweg. Die ganze Handlung besteht nur aus den sich wiederholenden Handlungen eines jeden Tages: den Vater anziehen, Kartoffeln kochen und mit den Fingern essen, das magere Pferd versorgen, schweigen, aus dem Fenster schauen, dem Wind zuhören, sich für die Nacht vorbereiten. Als eines Tages der Brunnen austrocknet, packen sie ihr Hab und Gut auf den Karren und verlassen ihren Hof. Die Kamera verfolgt sie minutenlang, bis sie hinter dem Rand der Senke verschwunden sind.

Doch dann, nach einigen weiteren Minuten, tauchen sie wieder am gleichen Ort auf und kehren in Eile zum Haus zurück. Sie sperren es auf, stecken das Pferd in den Stall und treten ins Haus ein. Was sie drüben gefunden haben, muss schlimmer sein als die Aussicht zu verdursten. Wenn man die politischen Zustände in Ungarn kennt – der Heimat des Regisseurs –, so ist das ein geradezu apokalyptisches Ende.

Das optimistische Ende: Fellinis 8 ½ endet mit einem grossen Fest. Der Regisseur Guido Anselmi, gespielt von Marcello Mastroianni, hat seine Schaffenskrise überwunden und befindet sich am Strand, wo man für seinen neuen Film ein riesiges Baugerüst hochgezogen hat. Es geht auf den Abend zu, und die Scheinwerfer gehen an. Er will den Film nicht mehr drehen, sondern einen Neuanfang in seinem Leben wagen. Von allen Seiten tauchen die Menschen auf, die darin eine Rolle spielen: die Eltern, die Ehefrau, die Geliebte, der Produzent, die Schauspieler. Leise beginnt, wie so oft bei Fellini, die Zirkusmusik, fünf Clowns spielen Blasinstrumente. Zu seiner betrogenen Ehefrau sagt er: «Luisa, ich fühle mich wie befreit. Diese Verwirrung bin ich selbst, aber ich habe keine Angst, es zu sagen. Es ist eine Freude zu leben. Lass uns gemeinsam leben. Nimm mich, so wie ich bin.» Und sie antwortet: «Ich weiss nicht, ob das, was du sagst, richtig ist, aber wenn du mir hilfst, will ich es versuchen.»

Dann, auf das Kommando des Regisseurs hin, der nun die Regie in seinem Leben übernommen hat, wird ein weisser Vorhang weggezogen und dahinter verbirgt sich eine lange, steile Treppe. Auf ihren Stufen stehen sie nun alle, und auf ein weiteres Kommando hin beginnen sie, sich miteinander unterhaltend, die Treppe hinunterzugehen. Die Kulisse nimmt immer mehr die Form einer Manege an, in der sich alle bei der Hand nehmen und im Kreis tanzen. Die Clowns spielen, bis die Nacht fällt.

Das persönliche Ende: Sie küssten und sie schlugen ihn von François Truffaut endet mit einer langen Kamerafahrt. Der Junge Antoine, der von allen Erwachsenen in Stich gelassen wurde – auch von den Eltern –, wird für das Stehlen einer Schreibmaschine in eine Besserungsanstalt gesteckt. Schon immer wollte er das Meer sehen, also bricht er eines Tages aus und macht sich auf den Weg zum Meer. Will er flüchten, oder will er nur seinen Traum verwirklichen? Die Kamera fährt parallel zu ihm, minutenlang sehen wir ihm beim Laufen zu. Als er dann an der Küste ist, macht er einige Schritte ins Wasser, aber weiter kommt er nicht.

Das Meer ist Sehnsuchtsort und Falle zugleich. Er läuft kurz orientierungslos umher, kommt wie zufällig in die Nähe der Kamera und blickt in der letzten Einstellung mir, dem Zuschauer, in die Augen. Ein Moment höchster In­timität. Eine Komplizenschaft zwischen uns beiden. Was will er mir sagen? «Verstecke mich!» Oder: «Kennst du einen Ausweg?» Oder: «Und wie steht es mit dir?»

Als sich die Blicke Antoines in meine Augen versenken, berühren und durchdringen sich Film und Wirklichkeit. Sein Leben geht in meines über. Für einen Augenblick ist das Ende aufgehoben.

Catalin Dorian Florescu
*1967 in Timisoara, Rumänien. 1982 zweite Flucht mit den Eltern in den Westen, seitdem in der Schweiz wohnhaft. Hochschulstudium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich, von 1995 bis 2001 als psychotherapeutischer Begleiter in einem Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige tätig. Weiterbildung in Gestalttherapie. Mit Jacob beschliesst zu lieben (C. H. Beck Verlag 2011) gewann er den Schweizer Buchpreis.
(Stand: 2014)
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