DORIS SENN

DER IMKER (MANO KHALIL)

SELECTION CINEMA

Ibrahim ist Imker. Mit Haut und Haar. Er ist Kurde, in der Türkei geboren, nunmehr im Pen­sionierungsalter und nach jahrelanger Flüchtlingsodyssee in der Schweiz gestrandet, wo er Asyl gefunden hat und in einer kleinen Einzimmerwohnung lebt. Hier leben auch sieben seiner elf Kinder. Die Repression und der Krieg in seinem Heimatland prägten Ibrahims Dasein von klein auf, zwangen ihn zur Emigration, trieben seine Familie auseinander. In seiner Hei­mat hatte Ibrahim mehr als 500 Bienenvölker – hier nun schickt ihn das Amt zum Kräuterbonbonseinpacken in eine Behindertenwerkstätte. Das Bienenzüchten sei in der Schweiz nur ein Hobby, klärt ihn die Beamtin auf.

Ibrahim ist von hünenhafter Statur und hat ein zerfurchtes, nichtsdestotrotz offenes, manchmal strahlendes Gesicht – insbesondere wenn er mit Kindern herumtollt: den Enkeln oder den Kindern seiner Freunde. Am glücklichsten aber ist er mit seinen Bienen, die er ungeschützt über seine Hände krabbeln lässt und deren Kisten er am Waldrand und auf Hügelkuppen aufstellt. Manchmal verbringt er die Nacht schlafend neben ihnen auf dem Wiesengrund, umringt von mächtigen Berggipfeln. Die Bienen sind sein Leben. Bis heute.

Der 49-jährige kurdischstämmige Regisseur Mano Khalil, der in Syrien geboren wurde und seit fast 20 Jahren in Bern lebt, machte sich einen Namen mit seinem brillanten Schrebergartenepos Unser Garten Eden (2010), der die kleineren und grösseren Culture Clashs unter Migranten und Einheimischen in der Gartenkolonie eines Berner Vororts dokumentierte. Nun zeichnet Khalil das einfühlsame Porträt eines Menschen und seines Lebens. Was für ein Leben! Und was für Gegensätze! Zwischen gestern und heute, zwischen der ruralen Gesellschaft dort und dem selbstzufriedenen Wohlstand hier, zwischen den blutigen Konflikten im Heimatland und der friedlichen Behäbigkeit in der Schweiz.

Ruhige Einstellungen und eine bedächtige Dramaturgie – Khalil ist sowohl für das Drehbuch wie für die erste Kamera verantwortlich – skizzieren in poetischen Episoden Ibrahims Biografie. Wir begleiten den alten Mann bei seinen Ausflügen mit den Bienen, bei seinen Besuchen auf dem Amt oder bei Freunden, bei der Trauer um einen im Krieg gefallenen Sohn und bei der Hochzeit eines anderen Sohnes – und tauchen unmerklich tief in Ibrahims Leben ein. Und auch ein bisschen in seine Seele. So viel Melancholie – und doch Zuversicht in ein und derselben Person! Der Imker erzählt das starke Porträt einer ebenso bescheidenen wie aussergewöhnlichen Persönlichkeit und skizziert in poetischen Episoden die Stationen eines Lebens, dessen Wechselfälle und schmerzhafte Turbulenzen für zehn ausgereicht hätten.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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