BETTINA SPOERRI

ROSIE (MARCEL GISLER)

SELECTION CINEMA

Lorenz, ein Schriftsteller, lebt seit längerem in Berlin, wohin er aus der Schweizer Provinz geflohen ist. Da erreicht ihn die Nachricht, seine Mutter Rosie habe einen Schlaganfall erlitten. Er fährt zu ihr – und da holt den bekennenden Homosexuellen seine Herkunft, die Zwänge einer Kleinfamilie ein. Zurück in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen sind, bei der Mutter, erhoffen sich Lorenz und seine Schwester Sophie (Judith Hofmann) eine schnelle, einfache Lösung; die betagte Frau (Sibylle Brunner), die auch besorgniserregend viel Wein und Zigaretten konsumiert, soll ins Heim – wie es die überforderten Pflegerinnen und Betreuerinnen vor­schlagen. Doch Rosie macht ihnen allen einen Strich durch die Rechnung; sie will zu Hause bleiben und ihr Leben weiterhin ganz selbstbestimmt leben. Zwischen Lorenz, der sich dem Konflikt immer wieder zu entziehen versucht, und seiner Schwester, verstrickt in einer unglücklichen Ehe, entstehen immer grössere Spannungen, derweil die Mutter immer sturer und dickköpfiger wird. Doch die Umstände zwingen Lorenz schliesslich, sich zu stellen: seiner Verantwortung in der Familie, einem drückenden Familiengeheimnis – und der aufrichtigen Liebe eines jungen Mannes (Sebastian Ledesma) zu ihm.

Sibylle Brunner beherrscht in der Titelrolle diesen Film souverän. Ihre standfeste, eigenwillige Rosie, die durchaus auch ihre verletzlichen Seiten hat, bleibt einem im Gedächtnis – sie hat für ihre Darstellung denn auch den Schweizer Filmpreis 2013 als beste Schauspielerin gewonnen. Fabian Krüger bleibt neben ihr ein recht steifer, reservierter erwachsener Sohn, dessen selbstbewusste Fassade aber doch im Fortgang der Ereignisse zu bröckeln beginnt. Wenn auch Sophie und manche Nebenfiguren etwas zu eindimensional gezeichnet sind, so weist das Drehbuch zu diesem Film doch bemerkenswert viele subtile, gelungene Dialoge auf, die nicht, wie oft im Schweizer Spielfilm, die Psychologie explizit durch die Figuren erklären, sondern das komplexe Schuld- und Verantwortungsgefüge in einer Familie in Wortwechseln oder im (Ver-)Schweigen erfahr- und spürbar machen.

Marcel Gislers Film, der in seinem Heimat- und Geburtsort Altstätten in der Ostschweiz angesiedelt (und auch mehrheitlich gedreht) ist und, wie er selbst sagt, auf – verfremdetem – autobiografischem Material basiert, erzählt von den Rollen, wie sie jeder in einer Familie annimmt, der einschränkenden Enge, aber auch den Möglichkeiten, in der Konfrontation mit den Ursachen dieser Enge weiterzukommen und sich zu befreien – und das auf unprätentiöse und gerade deshalb so überzeugende Art und Weise.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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