JORRIT BACHMANN / MARIA SUHNER

MIT SOLARKINO UND KAMERA UNTERWEGS IM HIMALAYA

FILMBRIEF

Die Temperaturen steigen und langsam beginnt die Trockenzeit, die «Dust-Season», im Westen Nepals. Wir ziehen über staubige Pfade von Dorf zu Dorf. Durch eine Region, die nicht durch Strassen erschlossen ist und kaum über Elektrizität verfügt. Eine Region, die wirtschaftlich wie politisch eine der fragilsten Gegenden Nepals ist und einen jeden fordert. Subsistenzwirtschaft bildet die treibende Kraft. Mit teils handbreiten Terrassenfeldern werden Steilhänge fruchtbar gemacht. Gearbeitet wird in der Gemeinschaft. Das Lebensgefühl ist dasjenige eines Kollektivs: ein Land aus Schwestern und Brüdern, Kleinen und Grossen, Boinjs und Didis, Bais und Dais. Ein Land, das eine einzige Speise isst: Daal Bhat. Und in der Trockenzeit, wenn die Rhododendronwälder blühen, werden die roten grossen National-Blüten an Hemden, Traktoren und ins Haar gesteckt. Läuft man durch das abgelegene Hügelland, fällt als erstes auf, dass viele singen und mit den Blicken oft weit über die Hügel und Getreidefelder schweifen. Die Schritte der Nepali sind schnell, sie laufen mit starken Beinen und starkem Rücken, bodenverbunden. Beladen mit Gütern der Umgebung, die sie mit einem Band um den Kopf in selbstgeflochtenen Körben tragen. Begegnungen am Wegrand sind stets mit einem Gespräch verbunden, auch mit Fremden; man nimmt sich Zeit füreinander und verabschiedet sich als Schwester und Bruder.

Es ist eine ruhige Zeit zwischen Monarchie, Bürgerkrieg und neuer Verfassung. Gleichmut, die Wunden der Vergangenheit und eine sachte Zuversicht halten sich die Waage. Man lebt und überlebt an den kargen Berghängen. Ruhig, kräftig, langsam; nach den Regeln der Natur und mit altbewährten Methoden. Strenge Monate wechseln sich mit Monaten des Wartens ab.

In diesem Gebiet waren wir, ein schweizerisch-nepalesisches Team, mit zwei Maultieren unterwegs, um Filme zu zeigen und den Leuten die Möglichkeit zu geben, selbst Filme zu drehen. In einem Gebiet, wo man sich auch in abgeschiedenen Gegenden für Filme begeistert, wo man Filme vom Fernseher in der Stadt oder von einfachen Handyclips, meist aber aus Geschichten und Liedern kennt und wo sich das Lebensgefühl und das Kinogefühl gegenseitig steigern. Die in Flüssen und Klippen gedrehten Gesangseinlagen der Nepali-Filme spiegeln sich in den tanzenden Jugendlichen der Berge, wie auch umgekehrt. Beim Anblick der Landschaft laufen die Nepali-Filme wieder und wieder vor dem inneren Auge ab – während einem der Wind durchs Haar weht und die Hemden flattern, während die Arme um die Hüften gelegt werden und der Blick ins riesige Tal schweift, summend, pfeifend, singend, die Melodien der Filmsongs im Ohr. Unheimlich kitschig sind die Musiknummern der Filme, schaut man sie in der Schweiz; wenn man durch den Himalaya läuft, erhalten sie Kraft, eine andere Dimension. Wenn der im Wind stehende Protagonist im knalligen Shirt, mit starken, weit geöffneten Armen und geballten Fäusten eine unerreichbare Liebe besingt, in einem Land, in dem freie Liebesbeziehungen nicht möglich sind, dann scheint die filmische Landschaft mit der Seele ihrer Gegend verbunden.

Surkhet liegt zwanzig Busstunden von Kathmandu entfernt und ist die kleine Provinzhauptstadt von Mid-West-Nepal. Von dort aus startete unsere Tournee. Nach letzten Vorbereitungen, bei denen wir von lokalen Angestellten der Helvetas Nepal unterstützt wurden, und nach dem etwas zeremoniellen Kauf zweier Maultiere mithilfe des Hotelbesitzers fuhren wir weit in die Hügel. Mit dabei der einheimische Journalist Bhakta sowie der rege Kommunikator und Übersetzer Abhimanyu aus Kathmandu. Wir planten mit 200 Kilogramm Gepäck durch die Berge zu ziehen; meist erreicht man die Dörfer der Provinzen Jajarkot, Dailekh und Kalikot nur zu Fuss. So kamen noch Träger hinzu, die schnell zu Freunden wurden und uns halfen, steinige Pässe von 3000 Metern Höhe und mäandrierende Flüsse in 700 Meter tief gelegenen Talsohlen zu überwinden. Kino läuft mit Strom, und so schleppten wir neben einem Projektor, einer Box und einer Leinwand zwei grosse Solarpanels mit. Zudem machte die 35 Kilogramm schwere Batterie, die unsere aufgrund von Einfuhrproblemen nicht vorhandene 13 Kilogramm leichte Batterie tatkräftig vertrat, das Wanderkino nicht gerade leichtfüssig. Wir hatten die wartungsfreie Ersatzbatterie in Kathmandu aufgetrieben, obwohl es sie offiziell dort gar nicht gibt. In den Bergen findet man Batterien mit Säure und destilliertem Wasser zum Nachgiessen. Die taugen wenig und gehen rasch kaputt, doch mindestens eine pro Dorf funktioniert meistens und dient dazu, mithilfe eines kleinen Solarpanels die Mobiltelefone aufzuladen. Empfang gibt es meist nicht oder nur Stunden entfernt auf einem Hügel. Mit den Handys werden Bilder und Lieder ausgetauscht und aufgenommen, und Filme finden den Weg zu unerwartetem Publikum. Unser Kinosystem war dementsprechend vertraut, wie ein riesengrosses Handy für das ganze Dorf. Unsere Hauptfilme waren indes länger und zumeist auch stärker im Inhalt. Je nach Kontext entschieden wir uns für den passenden Film, die passende Projektion für das jeweilige Dorf.

Da war beispielsweise das Melodrama Bato Muni Ko Phool (Flowers by the Wayside, Suroj Subba, Nepal 2011), eine bunt inszenierte Liebesgeschichte zwischen dem Kastenlosen Dhalit Kanchha und der hochkastigen Brahmanin Tulasi. Bereits im Vorspann beginnt der Film laut und heftig: Ein in Handschellen abgeführter Mann wird verhört, ihm droht der Tod am Strang. Eine aufgewühlte Menschenmenge belagert die Polizeistation. Laute Hetzrufe durchdringen die Stille der Verhörsäle: «Hängt den Mörder!» Der Dhalit soll büssen. Die Geschichte wird aufgerollt. Verschiedene, geschickt miteinander verwobene Erzählstränge lassen Spannung entstehen, und zahlreiche schön inszenierte, brave Liebesszenen münden in süsse Lieder, gesungen vom Liebespärchen, dem unschuldigen Dhalit und der schönen Brahmanin. Eine Geschichte von sehnsüchtiger Romantik, die das hierarchische Kastensystem aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet. Der Film behandelt die Kastenproblematik anschaulich und verständlich, ohne zu verurteilen. In den Hauptrollen spielen Rheka Thapa sowie der bekannte Sänger Babu Bogati, selbst ein Dhalit, ein Unberührbarer, der es auf künstlerischem Weg als Sänger schaffte, die breite Bevölkerung zu berühren. Nach wie vor sind die Kastengrenzen starr, die Weiler oft getrennt. In der Provinz Dailekh kreuzten wir Wasserstellen mit vier Hähnen für die vier Kasten, nebeneinander, getrennt. Eine Heirat über die Kastengrenzen hinweg wird gesellschaftlich nicht toleriert. Im Heimatdorf unseres Teammitglieds Keshab wurde ein junges Liebespaar drei Monate vor unserem Eintreffen von den eigenen Eltern erhängt, weil sie verschiedenen Kasten angehörten. So gross die Liebe zur eigenen Tochter oder zum Sohn auch ist, das soziale Verhalten ist in seiner Komplexität fix vorgegeben und hat gegenüber den individuellen Werten und Gefühlen immer Vorrang. In diesem Dorf entschieden wir uns zusammen mit dem Publikum und unserer lokalen Filmcrew für die Projektion von Bato Muni Ko Phool. Der Streifen vermochte zu erklären – traditionalistische Unterdrückung, wie die Reflexivität gesellschaftlichen Handelns –, und selten sahen wir, weder in der Schweiz noch in Nepal, ein solch gefesseltes und konzentriertes Publikum. Der Film hallte in sanften, intensiven Diskussionen nach.

Auch führten wir einen Dokumentarfilm im Gepäck, der die Arbeitsmigra­tion in die Golfstaaten thematisiert. In Search of the Riyal (Kesang Tseten, Nepal 2010) nimmt ein für den Westen Nepals hochaktuelles sozialwirtschaftliches Phänomen auf. Die Arbeitslosigkeit ist akut, Erbteilung erschwert die agrarwirtschaftliche Selbständigkeit der Einzelnen, und der Aufbruch zum Aufbau eines Kleingewerbes oder einer Stelle in der Stadt ist ohne Geld nicht möglich. Viele migrieren temporär nach Indien, immer häufiger auch nach Malaysia oder in die Golfstaaten. Das dort verdiente Geld soll ein besseres Leben in der Heimat ermöglichen, und auch das Abenteuer lockt. Ausbeutung ist die Regel, die Erinnerungen an das harte Leben auf den Baustellen oder in den Herrenhäusern des Golfes wird zurück zu Hause oft in Alkohol ertränkt. Die Dagebliebenen wissen kaum, wie es ihren Nächsten in der Ferne ergeht, und die Jungen nicht, was sie dort erwartet.

Der Film geht mit den Migranten mit, ist vor Ort und lässt sie sprechen. Er begleitet sie von Nepal in den Golf und wieder zurück. Offen und direkt. Ohne Scheuklappen. Aber auch etwas harzig in den endlosen und oftmals starr gehaltenen Aufnahmen der Interviewten. Und selten gibt es Bilder, die den Rezipienten Zeit lassen, über das Gesehene nachzudenken. Der viele Text, die schwierigen Inhalte, die unvertraute Umgebung, das Grau der Innenräume und das fahle Neonlicht vermochten die Konzentration der Zuschauer nur schwer zu halten. Erst gegen Ende des Films, als einige Migranten im Film wieder in ihre Heimat, in die nepalesischen Berge, in Reis- und Weizenfelder, in ihre einfachen Häuser zu ihren Familien zurückkehrten, war die Partizipation aller Zuschauer und Zuschauerinnen wieder voll da. Nicht nur, weil es einen sehr emotionalen Moment im Film markiert; die Menschen in Mid-West-Nepal wollen nepalesische Filme in Nepal sehen. Viele zeigten wenig Neugierde für anderes, ihnen Fremdes. Auch stellten sie uns kaum Fragen zur Schweiz, zu unserem Leben dort. Es gibt keine Zeitungen in den Dörfern, kein Fernsehen, kaum Radio. Was sollen sie uns fragen, wenn sie über kein Wissen, über keinerlei Eindrücke vom Ausland verfügen. Von den USA haben einige schon einmal gehört; die Schweiz muss irgendwo in den USA liegen. Die Leute mit Zugang zu Informationen allerdings, die Lehrer, die Journalisten, kennen die Schweiz, weil Prachenda, ein Maoist, der nach den ersten Wahlen die Regierung führte, den Satz verlauten liess, dass Nepal irgendwann so wie die Schweiz sein werde. In Search of the Riyal zeigten wir in von der Migration gekennzeichneten Gemeinschaften. Die Betroffenen waren sichtlich berührt, konnte sich doch zuvor kaum jemand die Golfstaaten vorstellen.

Ein weiterer, sehr poetischer Film, den wir mithilfe der Sonne auf die Leinwand brachten, ist ein Spielfilm, der sich in allen Bereichen vom dominierenden Hindi-Mainstreamkino absetzt. Numafung (Schöne Blume, Nabin Subba, Nepal 2002) ist eine kleine Frauenemanzipationsgeschichte, die im ländlichen Osten Nepals spielt, einer ebenfalls sehr abgeschiedenen Gegend fernab von Ärzten oder Gaststuben, von Internet oder fliessendem Wasser. Er zeigt die verschiedenen Lebensetappen einer jungen Frau in ihrem Heimatdorf und wie sie mit den traditionell vorgegebenen und festgefahrenen Familienstrukturen zurechtkommt. Lang gehaltene Zwischentitel wie «Sister», «Father» oder «Brother in Law» läuten die Etappen in Verbindung zu den einzelnen verwandtschaftlichen Beziehungen ein. Es ist ein feiner, stimmungsvoller Film, der nicht nur die Komplexität der gesellschaftlichen Muster zeigt, sondern auch innere Befindlichkeiten wie Trauer, Verzweiflung, Liebe und Einsamkeit sehr sensibel zum Ausdruck bringt, und der Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft für die eigenen Bedürfnisse kämpfen lässt. Numafung könnte als kleine Reinkarnation des neorealistischen Kinos der 1940er und frühen 1950er Jahre gesehen werden. Mit dem Einsatz von Laiendarstellern, den ausweglosen Situationen (Selbstbestimmung ist kaum möglich, das Leben fügt sich ohne Widerspruchsmöglichkeit in vorgegebene Strukturen) und den ruhig gehaltenen Kamerafahrten, die Spaziergängen über Felder und diegetischen, en passant gesungenen Liedern viel Raum gewähren, erinnert Numafung an Filme wie La Terra Trema (Luchino Visconti, I 1948) oder Ladri di Biciclette (Vittorio de Sica, I 1948).

Numafung ist eine melancholische Liebeshymne ans Leben in den himalayischen Bergen. Er nimmt gesellschaftliche Schwierigkeiten auf und versucht mit menschlicher Tiefe, neue Blickwinkel auf das Vertraute zu geben. Die Leute in den gänzlich abgeschiedenen kleinen Dörfern und Siedlungen mochten ihn.

Unser Kassenschlager – hätten wir denn eine Kasse gehabt – war aber mit Abstand Hasi Deu Ek Phera (Smile One Time, Nepal 2011) von Star-Regisseur Shiva Regmi. Eine Komödie mit slapstickartigen Versatzstücken, Jingles und irrwitzigen Tönen unterlegt, mit verkanteten Kameraeinstellungen und unendlich vielen Zoom-ins und Zoom-outs. Die Möglichkeiten des Filmemachens werden ausgekostet und übertrieben, die Geschichte wird mit etlichen Zeitsprüngen in rasantem Tempo aufgetischt. Sie handelt von einem kleinen Jungen, der bei einem Autounfall die Eltern verliert und nun vom schnarchenden Onkel Hari (gespielt von Hari Bansha Acharya) aufgezogen wird. Für die Nepali, bei denen ganz selbstverständlich die Frauen die Erziehung übernehmen, an sich schon eine irrwitzige Situation. Eingebunden werden Themen wie Alkoholismus, Liebe, häusliche Gewalt oder Kleinkriminalität, raffiniert, witzig und nah, mit harmloser Moral. Onkel Hari – eine Mischung aus Bud Spencer und Mr. Bean – schlägt sich mit den Bösen und setzt sich mit aller Kraft für das Glück seines Zöglings ein. Hasi Deu Ek Phera steht ein für Fürsorglichkeit und hält den eingespielten, sehr rohen Erziehungsmustern einen sanften, liebevollen und unkonventionellen Umgang mit Kindern entgegen. In Kathmandu nahmen wir eine kurze Einführung mit dem Regisseur auf, worin er die Aussagen, die er mit dem Film zu vermitteln versucht, kurz erklärt und das Publikum von Mid-West-Nepal begrüsst.

Hasi Deu Ek Phera ist in erster Linie köstliche Unterhaltung. Wird eine filmische Illusion aufgebaut, wird sie sofort wieder auf allen filmischen Parametern mit Witz und Ironie durchbrochen. Das gemeinsame Lachen in der Dorfgemeinschaft war für viele ein Erlebnis an sich. Unsere anfängliche Befürchtung, dass das Publikum bei Dunkelheit wie gewohnt schlafen geht, löste sich bereits bei der ersten Vorführung auf, als um elf Uhr nachts nach vierstündigem Programm lauthals nach mehr geschrien wurde.

Aus den vier Hauptfilmen suchten wir jeweils den zum Dorf passendsten aus und zeigten meist auch einen kurzen «Handwash-Movie» von Unicef mit ein paar einfachen Methoden des Händewaschens, die der Ausbreitung von Krankheiten vorbeugen. In Jajarkot beispielsweise starben vor zwei Jahren Tausende an einer Choleraepidemie, die Kindersterblichkeit ist immens und die medizinische Versorgung dürftig. Mit einem Film, durch das Kino sind solche Informationen derart einfach an die Leute zu bringen, dass es sich beinahe aufdrängt, es zu tun. Nach dem, was wir in den Dörfern gesehen hatten, machten wir aus dem gleichem Gedanken heraus zusätzlich Aufnahmen von einem einfachen Arzt im Distrikthauptort Dailekh Bazar. Er erklärt Ursachen kommuner Krankheiten und wie mit den lokalen Ressourcen Vorbeugung oder Linderung erreicht werden kann.

Wir zogen durch das Hügelland, durch die Berge am Fusse des Himalayas und brachten diese Filme in Dörfer, die ruhig in der Sonne an Hängen, auf Kuppen und in Tälern lagen. Niemand konnte wissen, womit wir in sein Dorf kamen, niemand wusste, dass es eine Gruppe, ein Team mit Leuten aus Nepal und der Schweiz und zwei Maultieren gibt, die stunden- und tagelang über die kleinen Pfade ziehen, schwer beladen mit Kino, Solarkraft und Filmausrüstung. Die Ankunft in den Dörfern war denn auch jeweils ganz verschieden. Viele Male wurden wir sofort sehr herzlich begrüsst und tags darauf gleich nochmals, vom ganzen Dorf, mit aufgestelltem Willkommenstor, Blumenkränzen und sagenhaft langen Ansprachen – und etwas kürzeren von unserer Seite. Manchmal musste Bhakta, der Journalist im Team, lange mit skeptischen Leuten reden, uns erklären und erklären, was wir machen, was das Wanderkino ist, dass die Kamera, die wir mit uns führten, in die Hände des Dorfes gegeben werden würde, um Filme für das Dorf zu machen, über Angelegenheiten, die das Dorf beschäftigen. Abhimanyu setzte seine rhetorischen Fertigkeiten ein, erklärte unser Projekt sehr präzise und überzeugte die eine oder den anderen, dass wir keine Missionare, auch keine Geldgeber und nicht zum Flicken der Dächer gekommen seien, dass wir weder Universitäten noch Wasserkraftwerke bauen könnten.

Dass wir indes lediglich Kino machten und die Möglichkeit mit uns brächten, kleine Filme zu produzieren. Von Menschen aus dem Westen hatten viele nur gehört. Dass sie die heiligen Kühe ässen, dass sie riesige Geldberge mit sich trügen und dass diese für ein bisschen «so tun als ob» leicht zu haben seien: Man tut dann mal so, als sei man Christ oder als arbeite man an einer Entwicklung für was auch immer. Die Vorstellungen und Gerüchte haben durchaus ihre Berechtigung, waren es bisher doch einzig Missionare und teils unterentwickelte Entwicklungsorganisationen, die die Gegend besuchten und Ideologien oder Geld da liessen. Nur wenige haben mit den Leuten gelebt, sich ausgetauscht und gemeinsam gearbeitet. Und selbstverständlich waren auch wir Geldesel, denn wer kann in Nepal ein Projekt aufziehen, 30 000 Franken Budget generieren und zwei Maultiere kaufen.1 Der Gedanke hat auch dann seine Berechtigung, wenn man berücksichtigt, dass wir mehrere Monate unentgeltlich arbeiteten hatten und das Geld auf der Tour knapp wurde. Wenn vieles mehr oder weniger klargestellt war, war die Neugierde aller gross – und die Prophezeiung Abhimanyus, dass wir nie alleine sein würden, bewahrheitete sich.

Unter aller Augen machten wir das Training mit den Interessierten, erklärten, dass mit Film verschiedenartige Geschichten erzählt werden können, dass es unterschiedliche Einstellungen gibt und wie Ton und Bild auf die eine oder andere Weise miteinander korrespondieren. Wir erklärten, was ein Stativ ist, dass langsame Bewegungen manchmal mehr sein können und dass die besten Filme entstehen, wenn man sich im Voraus überlegt, was ungefähr man aufnehmen will. Nach dieser Einführung (und noch etwas mehr) begann das Ausprobieren, das Fragen, das Helfen, der faszinierte Blick durch die Kamera – eine Welt im Rahmen. Unglaublich schnell wurde das Handwerk begriffen, hatte die neue Filmcrew zahlreiche Ideen und filmte sofort los. Über Nacht wurde ein Thema gesucht, das möglichst viele Dorfbewohner ansprechen sollte. Sie diskutierten und fanden das Thema, mal über Wasser, über soziale Strukturen, über die lokale Wirtschaft oder die kulturellen Bräuche.2 Sie suchten die besten, abgelegensten Standorte für Panoramaaufnahmen, kletterten die Felsen hoch, filmten, sprangen mit ihren Flip-Flops wieder die Felsen hinunter, in einer Hand die Kamera und in der anderen ein Kleinkind. Mit der Kamera in der Hand begann sich eine Aufgabe zu entwickeln: ein Film fürs eigene Dorf, produziert von einem selbst. Der Kameramann mit Kind im Arm war Maoistenkämpfer gewesen – Mid-West-Nepal war eine Hochburg der Maoisten und während des Bürgerkriegs ein stark umkämpftes Gebiet. Er hatte ein überaus gutes Filmauge, auch wenn er zum ersten Mal eine Kamera in den Händen hielt, fand er äusserst schnell einen Standort für die Kamera und einen passenden Ausschnitt. Vielleicht deshalb, weil Feldstecher und Beobachtungsgabe für ihn ein Leben lang lebenswichtig gewesen waren. Es war gut, einen ehemaligen Kämpfer nun mit einer Kamera in der Hand zu sehen, der den Wünschen und Anliegen der Dorfbewohner nachging. Auch sein Freund, der Regisseur, ermutigte uns, als er sich während des Drehs mit leuchtenden Augen zu Maria wandte: «Miss, we are very happy you give this opportunity to us. Very happy.» Es war unsere erste Filmcrew, in Morka, dem Dorf, das wir so mochten. Bereits bei unserer Ankunft hatten wir gemerkt, was für eine positive Grundstimmung dort herrschte – keine Spur von der Lethargie in manchen anderen kleinen Dörfern. Offensichtlich auch eine Folge von erfolgreicher Entwicklungszusammenarbeit, welche die Bevölkerung über die initiierten Ansätze hinaus zu selbständigen Projekten zu mobilisieren vermocht hatte.

Auch in den Dörfern, die wir danach erreichten, war es nicht schwierig, begeisterte Menschen zu finden, die sich für eine kurze, intensive Zeit der Filmausrüstung und einem dorfeigenen Thema annahmen. Die Leute, die mitmachten, waren unterschiedlich. Mal ältere Männer, mal Kinder, ein Gastwirt, ein Lehrer, eine arbeitslose Dorfgang oder ein Frauenteam. Zu letzterer Filmcrew kam es erst im etwas ‹selbstbewussteren› Kalikot, der Provinz, die wir am Ende der Tour durchquerten. Generell waren Frauen schwierig zu mobilisieren, waren sie doch mit Haus und Familie viel beschäftigt und gesellschaftlich kaum zu anderem ermächtigt.

Der Film wurde gedreht: Interviews aufgenommen und Panoramaaufnahmen eingefangen. Viel Material wurde zum solarbetriebenen Laptop gebracht. Während des Schneidens waren wir oft umzingelt von Kindern, ab und zu auch von alten Frauen, die mit ihren halbblinden Augen, die Tabakpfeife in der Hand, neben uns sassen und uns lange, lange zuschauten und lachten. Man gewöhnte sich daran, irgendwie, und man brauchte selbst fast keinen Platz mehr, ab und zu schubste man den hinten etwas zurück, manchmal die rechts, manchmal zog man ein wenig mühevoll das Bein unter fremden Beinen hervor und schnitt am Laptop weiter. Der Platz um einen herum war nachgiebig, beweglich.

Geschnitten wurde das meiste am Tag der Vorführung – eine logistische Herausforderung, musste doch der Laptop an der Batterie gespiesen werden und diese für den Filmabend voll geladen sein. Es hiess, die Panels gut zu richten, über Mittag zu laden und immer wieder zwischendrin den Laptop zu tanken. Aufladen und Last anhängen geht nicht gleichzeitig. Und bis zum Sonnenuntergang, während des Aufstellens der Leinwand exportierte der Computer die Filme und die Sonne füllte unsere Batterie mit letzter Kraft. Der Aufbau war manchmal nicht ganz leicht: inmitten so vieler neugieriger Menschen die Kabel legen und den Projektor schützen. Doch unter den vielen fand man auch immer jemanden, der im Nu auf Bäume klettern konnte. Im Klettern und Improvisieren sind die Nepali unschlagbar, und es gab keinen Ort, wo wir unsere Leinwand nicht hätten aufstellen können. Sie schlugen sieben Meter hohe Pflöcke in die Erde, an denen sie hochkletterten und Karabiner anbrachten, und sie stiegen steil auf die Strohlager, unter denen Büffel, einige Ziegen und Ochsen dem Treiben verdutzt zuschauten.

Die Filmabende waren wunderbar. Alle kamen aus ihren Häusern: Kinder, Junge, Alte, Frauen und Männer. Es trafen Leute ein, die stundenlang durch die Berge gelaufen waren, um das bewegte Licht und die Geschichten der Dörfer zu sehen. Um die zwei- bis dreihundert Zuschauer umringten die Leinwand, hörten der Filmcrew zu, die vor der Projektion gern und lang ins Mikrofon sprach.

Und dann ... als ein weisses Stück Xenix-Leinwand im Himmel, eine Hausfassade lebendig wurde, als Kinder mit ihrer Hand das Tuch abtasteten – noch immer seltsam flach und auf einmal so farbig geworden –, als sie den Zauber mit grossen Augen aufmerksam prüften, ihn von der Leinwand zurück zur Quelle des Lichtstrahls verfolgten ... dann legte sich langsam die warme Nacht über alle, und die Menschen versanken ganz im Film. Die Reaktionen des Publikums und die Nepali-Songs hörte man weit durch die dunklen Berge hallen.

Wir brachten ein Erlebnis und eine fantastische filmische Welt. Wir erlebten Kinoabende, für die die Worte fehlen, blickten in die Gesellschaften, die nicht mehr fremd waren, und fanden eine fantastische cineastische Welt.

Das Projekt wurde finanziell und logistisch unterstützt von DEZA, Helvetas Swiss Intercooperation, Sherpa Outdoor, Sherpa Tensing, goSolar und dem Kino Xenix.

Insgesamt wurden elf Kurzfilme produziert. Eine vom Dorf Morka initiierte Kooperative erzählt, was sich wirtschaftlich für das Dorf verändert hat und wie aus vielen kleinen Beiträgen Grosses vollbracht werden kann, und Bauern erzählen, wie mit einem neuen Bewässerungssystem (Small Scale Irrigation) die Ernte optimiert und mit geschickter Wasserspeicherung (Rainwater Harvesting) Trinkwasservorräte angelegt werden können. Auch Leute im Dorf Managhat erzählen – während die Ernte eingebracht wird –, wie das Leben vor und nach dem Bewässerungssystem war. In Simser geht eine Männercrew auf die Spur einer alten Tradition: Sie wollen wissen, wie es sich für eine Frau anfühlt, jeden Monat für fünf bis zehn Tage während der Menstruation auf dem Feld oder im Stall zu sein. Gefunden wurden Frauen und Männer, die sich darüber Gedanken machen, Vor- und Nachteile abwägen und innerhalb des gesellschaftlichen Systems neue Ansätze finden, würdevoll mit den menstruierenden Frauen umzugehen. In Ma­telapul erzählen Einwohner, wie der wirtschaftliche Kollaps des ehemals florierenden Handelsdörfchens – verursacht durch eine Strassenanbindung – mit Mut zum Übergang in einen ‹neuen› Sektor teilweise überwunden werden konnte: mit Agrikultur. Lehrer und Kinder von Bharta geben Auskunft über das Schulsystem in ihrem Dorf, legen Wünsche für Verbesserungen offen. In Thapachaur ist nepalesisches Neujahr, und wir wollen wissen, was sich die Menschen im neuen Jahr für das Dorf wünschen. In Bestara machen sich Männer auf die Suche nach dem Geheimnis der Frauentänze. Volkstänze und Schwerttänze wollen auch in Siradi gefilmt werden, ein kleines Festival entsteht spontan. In den Distrikthauptorten Dailekh und Manma werden die Leute auf der Strasse gefragt: «Wenn du in deiner Stadt etwas ändern könntest, was würde es sein?»

Jorrit Bachmann
*1981, Studium der Geografie und Umweltwissenschaften an der Universität Zürich. Organisation und Durchführung von Open Air Kinos. Freiberuflich tätig als Bühnentechniker. Projektleiter von Solar Wanderkino Nepal und Gründungsmitglied von Swiss Solar Culture. www.kinonepal.ch
(Stand: 2014)
Maria Suhner
*1981, Studium der Filmwissenschaft, NETZWERK CINEMA CH, an der Universität Zürich. Nebenberuflich in der sozialpädagogischen Arbeit tätig. Projektleiterin von Solar Wanderkino Nepal und Gründungsmitglied von Swiss Solar Culture. www.kinonepal.ch
(Stand: 2014)
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