DORIS SENN

ATÉ VER A LUZ (BASIL DA CUNHA)

SELECTION CINEMA

Der Film läuft an – und schon geht’s ab: Eine Gang bedrängt einen aus ihrer Runde, der zur Wache abkommandiert war. Doch der Stoff ist nicht mehr an seinem Platz. Der Chef kommt dazu. Er beschuldigt den «Wachmann», versetzt ihm einen Kopfstoss, die Bande legt nach. Der Angeschuldigte verteidigt sich, während die andern losgeschickt werden, um die Lage auszukundschaften. Alles in einem unruhigen und doch präzisen Hin und Her: die Beschuldigungen, die Ausflüchte, die Schläge und Tritte, das Ausschwärmen. Die Kamera vermittelt das Ge­fühl, mittendrin zu sein.

Mittendrin, das heisst in einem der ärmlichen Vororte Lissabons – Reboleira, berüchtigt für seine kriminelle Energie und kreolische Lebenslust – auf Augenhöhe mit Drogendealern, kleinen Gangstern, Gelegenheitskillern. Nebst dem Bandenchef mit dem wasserstoffblonden Kraushaar sind da noch «Eisenarm», der volltätowierte Muskelprotz mit Armprothese, und Sombra, der einzelgängerische Reggaeman mit dem Rastaschopf und dem Gecko, den er «Krokodil» oder «Drachen» nennt. Sombra schuldet dem Bandenchef Geld – und man schuldet ihm Geld. Sombra holt es sich, um es wieder abzuliefern. Seine Welt ist die Nacht; tagsüber hockt er in einem Kellerverlies. Er kommt erst raus, wenn die Sonne verschwunden ist und bewegt sich allein durch die schmalen Gassen, eingehüllt vom Dunkel, das einzig von Taschenlampen oder von schummrigen Strassenleuchten erhellt wird.

Basil Da Cunha – in der Schweiz aufgewachsen mit portugiesischen Wurzeln – kehrt mit Até ver a luz («Bis du das Licht siehst») zu jenen Menschen und in jene Quartiere zurück, die bereits in seinen Kurzfilmen – darunter jüngst Tambem os vivos choram – im Zentrum standen. Schon dort porträtierte er eine Art Lumpenproletariat, er kreierte Fabeln in einer Mischung aus Fantasie und Realität. Und so ist auch Até ver a luz, trotz des gewalttätigen Milieus, das er schildert, von einer eigenwilligen Poesie und Magie durchzogen.

Das 27-jährige Ausnahmetalent Da Cunha studierte an der HEAD in Genf und wurde mit Até ver a luz zum dritten Mal nach Cannes eingeladen. Mit diesem seinem Langfilmdebüt präsentiert Da Cunha einen roh geschliffenen Solitär. Até ver a luz fasziniert mit seinem dokumentarischen Gestus – die Schauspieler sind alle Laien, Kumpels aus Reboleira –, den die geschmeidige Kamera (Patrick Tresch wie bei Tableau noir, CH 2013, von Yves Yersin) noch unterstützt. Die Spannung aus der Plotline ergibt sich dabei wie von selbst. Da Cunha entwickelt viel erzählerische Wucht aus der Improvisation und dem chronologischen Dreh mit seinen Darstellern. Dabei liegt es nahe, dass Da Cunha selbst seine Vorgehensweise und seine Art des Filmemachens mit Jazzmusik vergleicht. Und in der Tat ist Até ver a luz – wie das Erleben von Musik – ein atmosphärisches Ereignis.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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