RENÉ MÜLLER

LES GRANDES ONDES (À L'OUEST) (LIONEL BAIER)

SELECTION CINEMA

In seiner Komödie Les grandes ondes (à l’ouest) schickt Lionel Baier zwei Schweizer Radiojournalisten samt Techniker durch das Portugal der frühen Siebzigerjahre. Das ungleiche Trio soll über helvetische Hilfeleistungen im armen Land berichten und damit ein möglichst positives Bild der Schweiz vermitteln. Das ist keineswegs ein einfaches Unterfangen, wie Julie, die politisch engagierte Jungreporterin, und ihr an Gedächtnisverlust leidender Kollege Cauvin bald merken müssen. Oder fehlt ihnen schlicht der journalistische Drive? Jedenfalls tuckern sie ziemlich unbeholfen in ihrem charmanten VW-Bus durch ein ihnen völlig unbekanntes Land – begleitet vom verträumten Jugendlichen Pelé, der als Übersetzer fungiert. Eine richtig packende Geschichte fürs Radio ist vorerst nicht in Sicht, Menta­litätsunterschiede und Kommunikationsprobleme erschweren die Arbeit der drei zusätzlich. Bald gerät die Radioequipe aber Mitten in die Turbulenzen der Nelkenrevolution, des friedlichen Putsches, der die über vierzigjährige Diktatur in Portugal beenden soll. Die Truppe versteht nicht recht, wie ihr geschieht. Doch die Aufbruchsstimmung, der heitere Ungehorsam und der Glaube an die freie Liebe ziehen auch die perplexen Schweizer in ihren Bann.

Lionel Baier hat mit Les grandes ondes (à l’ouest) das breite Publikum im Visier. So feierte die leichtfüssige Komödie auch am Filmfestival von Locarno auf der Piazza Grande Premiere. Für den Internationalen Wettbewerb wie 2008 mit Un autre homme hat es aber nicht gereicht. Dennoch: Baiers bisher wohl konventionellster Film wurde wohlwollend aufgenommen, besonders die liebevoll gezeichneten Figuren und die pointierten Dialoge scheinen das Publikum zu überzeugen. Ein Glücksgriff ist die Besetzung: Patrick Lapp ist vor allem als Moderator beim französischsprachigen Schwei­zer Radio bekannt, in der Rolle des Bob kehrt er nach mehr als zehn Jahren zum Film zurück. Die Regisseurin (La reine des pommes) und Schauspielerin Valérie Donzelli besticht als schlagfertige Julie und Michel Vuillermoz, der oft als Nebendarsteller (Les herbes folles, J’aime regarder les filles) zu sehen ist, als Cauvin. Und nicht zu vergessen: Der Dokumentarfilmer Jean-­Stéphane Bron (L’expérience Blocher) überrascht in einer kleinen Rolle als Bundes­rat, und als belgische Journalisten treten Lionel Baier und die Regisseurin Ursula Meier (Home) ganz kurz vor die Kamera – an selbstreflexiven Gags mangelt es dem Film also ebenfalls nicht. Les grandes ondes (à l’ouest) ist mit Comme des voleurs (à l’est) (2006) Teil einer von Baier geplanten Tetralogie über Europa. Die vier Filme sollen, geografisch ausgerichtet nach den vier Himmelsrichtungen, eine Art «Gefühls­kar­to­gra­fie» der Europäer untereinander skizzieren.

René Müller
*1977, Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Neueren Deutschen Literatur in Zürich und Paris. Er ist beim Migros Museum für Gegenwartskunst für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Von 2007 bis 2012 Redaktionsmitglied von CINEMA.
(Stand: 2014)
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