Die sogenannte Geschichtslosigkeit der Jungen und eine sich gleichzeitig manifestierende Tendenz zur Historisierung sind scheinbar sich zuwiderlaufende aktuelle geistesgeschichtliche Phänomene, die sich selbstverständlich auch im Film niederschlagen. Möglicherweise sind sie nicht einmal besonders charakteristisch für unsere Zeit. Geschichtslosigkeit: Wer heute anfängt, Filme zu machen, scheint sich nicht für die Vergangenheit zu interessieren, während doch die vorhergehende Generation aufgedeckt, befragt, erforscht hat, was zugedeckt und zugeschüttet war, als ob für ihre Identität, für das Verständnis ihrer Aufgaben das Auffinden einer Spur unerlässlich gewesen wäre. Restaurative Bewegungen, angefangen beim schnellen Verdrängen und Vergessen des Faschismus, trugen zu dieser Haltung bei. „Bewältigen“ hiess zuerst einmal wissen; „erklären“ hiess zuerst einmal fragen, was denn heute anders sei. Welches Verhältnis zur Geschichte hat eine neue Generation von Filmemachern, die weniger belastet ist von der Ungeheuerlichkeit des Vergessens und vom Trauma der Kontinuität eines Systems, das den Faschismus hervorgebracht hatte? Geschichtslosigkeit aber auch des Kinos: Es ist, als ob es keine Entwicklung innerhalb der Filmgeschichte gäbe, „eroberte Positionen“ werden wieder preisgegeben. Gleichzeitig wird die „Last“ der Vergangenheit immer grösser; alles ist schon dagewesen. Geschichtslosigkeit kann aber auch heissen, keine Geschichte zu haben - mit Geschichte ist nicht Story gemeint -, weil es nichts zu erzählen gibt oder weil die Distanz fehlt, die ein Ereignis erst zu einer Geschichte macht. Fragen, die heute an die Geschichte gestellt werden, sind nicht mehr die gleichen wie vor zwanzig Jahren. Die weit verbreitete Überzeugung einer inneren Gesetzmässigkeit und Richtung von Geschichte ist einer Unsicherheit gewichen, die sich in den Filmen widerspiegelt. „Unbewusst“ ist die Einschätzung der Cineasten, wo wir stehen und wohin wir gehen, miteingeflossen. Beschäftigung mit Geschichte kann über ihren „Sinn“ Auskunft geben. Wie lässt sich der Prozess der Filmgeschichte deuten? Gibt es eine Dialektik, gibt es Gesetzmässigkeiten, Epochen, die notwendigerweise durchlaufen werden müssen? Wir haben uns gefragt, warum 1987 drei erfolgreiche Spielfilme über den Zweiten Weltkrieg Jugendliche als Protagonisten hatten - es handelt sich um Au revoir les enfants, Hope and Glory und Empire of the Sun —, über marktstrategische Gründe hinaus. Die Augenzeugen sterben aus, immer mehr Menschen kennen den Zweiten Weltkrieg nur noch von Film und Funk. Es ist niemand mehr da, der die Wahrheit erzählen könnte, das kollektive Bewusstsein erinnert sich nur noch an den Film. Film ist ein vorzügliches Medium, um Ereignisse zu rekonstruieren, um Geschichte darzustellen, um zu erzählen. Geplant war eine Fallstudie zur Entstehung eines Films über eine historische Figur. Doch der Artikel zum Anna Göldi-Film von Gertrud Pinkus ist nicht zustande gekommen. Es fehlt auch die Auseinandersetzung mit Regisseuren, die den Versuch unternommen haben, ein historisches Ereignis als Film zu fiktionalisieren, die also Erfahrung im Erzählen haben, Markus Imhof etwa. Nur schon die Wirkungsgeschichte solcher Filme in einem Land wie der Schweiz, die sich mit der Geschichte schwer tut, dürfte interessant sein. Und wie verändert sich die Technik des Erzählens, welche Zeichen werden gesetzt? Wie kann die Stimmung einer Zeit erfasst werden, über die getreue Wiedergabe von Uniformen und Automodellen hinaus? Wie wird konkret der Ort des Geschehens rekonstruiert? Die vorliegende Ausgabe von CINEMA gibt, wie angetönt, auf diese Fragen keine Antwort, sondern trägt Material zusammen, Denkanstösse. In einem Gespräch mit Martin Schaub äusserte sich Richard Dindo zur Rolle des „Rekonstruktionsfilmers“ in einem Land, das Geschichte verdrängt und deshalb für Mythen so anfällig ist. Klar wird, wie stark die Biographie des Autors mit der Art seines Erzählens verknüpft ist. In zwei Gesprächen wird der Versuch unternommen, die jüngste Filmergeneration in die Diskussion und Arbeit von CINEMA einzubeziehen - die Fragestellung der diesjährigen Ausgabe bot sich dazu an. Die Aussagen von Marcel Gisler und Samir erlauben eine Art Standortbestimmung, weil sie gegensätzliche Standpunkte vertreten. Das Gespräch mit Matthias Knaur und Christoph Schaub, deren Filmdebüts fünfzehn Jahre auseinanderliegen, ermöglicht eine Einschätzung der ersten „Videogeneration“, die ihren militanten Auftritt auf der Strasse gleichzeitig filmen konnte, und mutmasst über das Altern von Filmen, die im Umfeld eines jener periodischen historischen Ereignisse entstanden sind, welche in der Schweiz die Identität einer Filmergeneration jeweils mitprägen, was in der Gegensätzlichkeit der Standpunkte hier klar zutage tritt. Die Beiträge über Frankreich und Amerika weisen auf Cinematographien hin, die ein spezielles Verhältnis zur Geschichte entwickelt haben. Filme spielen in Amerika eine komplexe öffentliche Rolle, denn sie sind Projektion, Teil des öffentlichen Wunschdenkens und gleichzeitig Elemente einer Geschichtsschreibung. Geschichte im amerikanischen Film ist immer Zeitgeschichte. Filme über Vietnam werden zum Indikator, wie weit die Amerikaner die Wahrheit dem Film vorziehen: Vietnam oder The Movie. Frankreich hat sich von der Auseinandersetzung mit der Geschichte abgewandt und die Themen „erkalten“ lassen. In seinem Aufsatz macht Serge Daney klar, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg neben der Geschichte der Fakten eine zweite Geschichte gibt, die das Unsagbare zum Thema hat, die Konzentrationslager und die Atombomben. „Die traditionellen Figuren der historischen Filme verschwinden, es bleibt eine schreckliche, leere, nackte Struktur und das ‚neue‘ Wissen, dass man weder als Henker noch als Opfer geboren wird ... Dieser andere (der auch ich sein könnte) ist der ahistorische Held des modernen Kinos und der Nouvelle Vague.“ Weil sie sich weigern, neutral zu sein, können die Franzosen nicht naturalistisch filmen. Mit der „Temperatur der Ereignisse“ und dem Naturalismus führt Daney zwei Kategorien ein, welche für die Thematik des ganzen Bandes unerlässlich sind. Die filmhistorischen Beiträge können höchstens Türen aufstossen, auf Diskussionen hinweisen, die in breiterem Rahmen zu führen wären über konkrete, alltägliche Filmgeschichte, wie etwa über die Bedeutung der Videoclips oder über den Prozess der Kanonisierung. Gefragt ist in diesem Zusammenhang nicht, welche Filme den Leuten in 200 Jahren die Wahrheit über uns erzählen werden, sondern welche Filme heute als Klassiker gelten, also Bestand haben. Welche Kriterien offenbart diese Art von Selektion? Da ist ein offenes Feld. Während Roland Cosandey fragt, ob mit dem Bildband von Hervé Dumont das öffentliche Interesse an Schweizer Filmgeschichte sich erledigt, erinnert Alfred Messerli in seinem Betrag über die Wirklichkeit des Imaginären daran, dass filmverrückte Kinder die ersten wahren Helden des Kinos waren, die Antoines Doinel der Schaubudenzeit. Miklós Gimes

CINEMA #34
REKONSTRUKTION
EDITORIAL
ESSAY
KÖNNEN FAKTEN UND „CINEPHILIE“ DER FILMGESCHICHTSSCHREIBUNG GENÜGE TUN?
SELECTION CINEMA
LIEBESERKLÄRUNG (URSULA BISCHOF, GEORG JANETT, EDI HUBSCHMID)
NOCH FÜHREN DIE WEGE AN DER ANGST VORBEI (MARGRIT BÜRER, KRISTIN WIRTHENSOHN)
IMAGO – MERET OPPENHEIM (PAMELA ROBERSTON-PEARCE, ANSELM SPOERRI)