VALÉRIE PÉRILLARD

NOCH FÜHREN DIE WEGE AN DER ANGST VORBEI (MARGRIT BÜRER, KRISTIN WIRTHENSOHN)

SELECTION CINEMA

In ihrem Dokumentarspielfilm gehen Margrit Bürer und Kristin Wirthensohn den alltäglichen Ängsten nach, die das Leben jeder Frau bewusst oder unbewusst prägen. Durch die assoziative Montage von inszenierten und dokumentarischen Szenen wollen die Autorinnen Bedingungen und Auswirkungen dieser Angst visualisieren: Expemplarisch erleben vier Frauen verschiedenen Alters in gespielten Szenen die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit durch die Angst vor Vergewaltigung.

Dass Vergewaltigung Teil der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau ist, veranschaulichen zwischendurch sexistische Werbeplakate, fleissige weibliche Hände bei der Verrichtung unqualifizierter Arbeit oder lange Fahrten durch Quartiere, deren funktionale Architektur die Frauen isolieren, auf ihr Heim verweisen.

Doch es gibt Möglichkeiten, sich dem lähmenden Effekt der Angst entgegenzusetzen: Wir sehen Künstlerinnen, die sie zum Gegenstand ihrer Kunst machen. Und wir sehen Frauen, die in Selbstverteidigungskursen lernen, sich zu wehren.

Bewusst haben die Autorinnen auf die Darstellung offener Gewalt verzichtet: Einschränkend sei nicht nur die reale Bedrohung, sondern auch die verinnerlichte Angst, die bei jedem verdächtigen Zeichen lähmende Phantasien produziere.

Eine Fahrt mit der Eisenbahn erinnert an Berichte von Vergewaltigungen im Zug, unwillkürlich sucht der Blick der Reisenden nach anderen Frauen im Abteil. Eine Frau beschleunigt ihren Gang, als sie beim nächtlichen Heimweg Schritte hinter sich hört; ihr gesenkter Blick nimmt nur noch das Trottoir wahr.

Alltägliche Szenen also, wie sie Frauen in x-beliebigen Varianten erleben. Und doch bleiben sie blutleer, unsinnlich in der Bildsprache. Zu eindimensional sind die Szenen und die Bilder konzipiert, als dass sie das Wechselspiel zwischen Realität und Phantasie fassen könnten. Zu sehr werden die vier Frauen auf ihre exemplarischen Rollen reduziert, losgelöst von ihren Beziehungen, ihrer Arbeit, ihrem Alltag. Nichts erleben wir von der guten Laune, die durch die bedrohlichen Schritte im Rücken plötzlich in Anspannung oder Angst kippen kann; nichts von der Heftigkeit der Wut; nichts von den Phantasien, welche die ängstlichen Reaktionen auslösen, obwohl diese eigentlich Thema sind. Diese Verkürzungen äussern sich auch dann, dass kaum zwischen Vergewaltigung und Angst vor Vergewaltigung unterschieden wird, das Unaustauschbare austauschbar wird.

Noch führen die Wege an der Angst vorbei greift ein politisches Thema auf, das in der bürgerlichen Öffentlichkeit und Gesetzgebung individualisiert wird, in der feministischen Diskussion über die patriarchalische Gesellschaft jedoch einen wesentlichen Platz einnimmt. Die Autorinnen haben sich eingehend mit dem komplexen Thema befasst und beleuchten es von verschiedenen Seiten. Doch ihr Konzept bleibt zu didaktisch: der unrhythmische Schnitt und die linearen Szenen lassen keine dialektische Dichte von Bedrohung, Phantasie, Angst und Widerstand zu. Dabei könnte gerade der Film leisten, was ein Text nur schwer kann: eigenständige Bilder für die Angst und die Wut finden.

Valérie Périllard
ist Volkskundlerin und Regieassistentin in Zürich.
(Stand: 2019)
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