HANSPETER RADLECHNER

DER SCHUH DES PATRIARCHEN (BRUNO MOLL)

SELECTION CINEMA

Bruno Moll konnte sich bei seinem filmischen Porträt des Bally-Unternehmens und dessen Gründer auf schriftliche Äusserungen stützen, deren Authentizität keine Zweifel offenlassen. Das umfangreichste Material lieferten Moll vor allem die Tagebücher, welche Carl Franz Bally (1821 -1899) und dessen Sohn Eduard Bally (1847-1926) hinterlassen hatten. Hinzu kommen Zitate aus Briefen, Ansprachen und Festschriften.

Geschichte von denen erzählt, die selbst Geschichte machten - Geschichte von oben also –, ist keine ungewohnte Perspektive. Nun entzieht Bruno Moll freilich dieser schon fast traditionellen Erzählhaltung und Geschichtsschreibung den Boden, indem er sie formal aufbricht. Dabei operiert Bruno Moll auf verschiedenen, oft parallel verlaufenden Ebenen. So lässt er in seinem Film zwar die Vertreter von drei Bally-Generationen auftreten (alle drei durch Beat Lüthy verkörpert), doch sie bleiben stumm, das heisst, für ihre Sprache stehen jeweils die Zitate aus den Tagebüchern oder Reden.

Diese in leicht vergilbtem Schwarzweiss in der Art einer „Photo vivante“ inszenierten Sequenzen werden ergänzt durch eine Anzahl von historischen Bilddokumenten, welche die industrielle Entwicklung des Bally-Konzern aufzeigen. Formal davon abgesetzt - das Heute ist in Farbe gedreht - und als durchgehender weiterer Erzählstrang in die 140jährige Geschichte des Bally-Unternehmens eingebunden, wird die Fabrikarbeit, das Produzieren der Schuhe, am Beispiel der Fertigung eines einzelnen Modells, vom Zuschneiden des Leders bis zum fertigen Schuh, dargestellt. Wenn dabei Bruno Moll diese Fertigung nicht in ihrem produktionstechnischen Zusammenhang, sondern aufgelöst in einzelne Sequenzen zeigt, so entspricht dies wiederum der mit der Mechanisierung immer mehr vorangetriebenen Aufsplitterung und Entfremdung der Arbeit in spezialisierte Einzeloperationen.

Der Film macht deutlich, wie sich auch die patriarchalische Haltung der Bally-Unternehmer gegenüber den Arbeitern in die Gegenwart fortsetzt: „Ein Mitspracherecht wäre komplett verfehlt. Es gehört zum Beruf des Unternehmers, dass er die Entscheidungen trifft. Die Arbeiterschaft will das so.“ Diese Äusserung macht im Film der Manager A.M. Niederer, derzeitiger Chef der Bally-Gruppe in der Oerlikon-Bührle Holding AG, die heute über neunzig Prozent des Bally-Aktienkapitals besitzt. Eine schon von früheren Filmen bekannte Eigenart seines „filmischen Essays“ ist es auch, dass Moll keine Fragen stellt, keine Stellung bezieht. Der Zuschauer soll sich seine eigene Meinung bilden können. Bruno Molls „Kommentare“ beschränken sich auf rein filmische Mittel, auf die vielschichtige Montage etwa, auf einen ruhigen Fluss der (nie illustrierenden) Bilder, auf die Auswahl der Zitate und der ihnen zuweilen unterlegten Musik.

Hanspeter Radlechner
ist Kulturredaktor bei der Solothurner Zeitung. Ehemaliger Mitherausgeber des CINEMA.
(Stand: 2019)
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