VALÉRIE PÉRILLARD

REISEN INS LANDESINNERE (MATTHIAS VON GUNTEN)

SELECTION CINEMA

Behutsam nähert sich Matthias von Gunten in seinem Dokumentarfilm Reisen ins Landesinnere dem Alltag von fünf Menschen in der Schweiz. Ein Jahr lang, vom Sommer 1986 bis zum folgenden Frühling, hat er sie immer wieder aufgesucht, sie vor der Kamera arbeiten und reden lassen. Dabei konzentriert er sich vorwiegend auf deren Arbeitserfahrungen; soziales Umfeld, Beziehungen und Freizeit rücken in den Hintergrund. Die fünf Porträtierten kennen sich nicht untereinander. Vor unseren Augen aber entsteht im Ablauf der vier Jahreszeiten ein Geflecht aus unterschiedlichsten Lebenswelten, durchbrochen von einschneidenden Ereignissen im Leben der Einzelnen: Ein Stück Schweizer Wirklichkeit in ihren vielfältigen Facetten.

Catherine Schenker ist Nachrichtenkoordinatorin beim Fernsehen DRS. Täglich wählt sie Aktualitätenfilme aus, die von ausländischen Fernsehanstalten angeboten werden. Im nüchternen Büro sitzend, wird sie mit Bildern von israelischen Angriffen im Libanon, von Tschernobyl oder von behäbigen Regierungschefs konfrontiert, und während sie die Bildschirme fixiert, verhandelt sie in einer permanenten Telephonkonferenz mit Menschen, die sie seit Jahren nur über die Stimme kennt.

Vom Bürostuhl aus arbeitet Catherine an dem von der Tagesschau vermittelten Weltbild mit. Der italienische Maurer Giovanni Simonetto hingegen kommt jeden Tag über die Grenze nach Melide, um in der Swiss Miniatur liebevoll am Bild der heilen Schweiz zu bauen. Verbreitete Berufe sind es nicht, die wir in von Guntens essayistischem Film kennenlernen. Der Kulturgüterschützer Franz Jaeck arbeitet täglich mit der Möglichkeit eines Atomkriegs: Er nimmt das Inventar von Bauten und Kunstwerken auf, die im Fall eines Bombenangriffs speziell geschützt werden sollen.

Von untergehenden Zeiten zeugt Bertha Massmünster, die letzte Nachfahrin einer aussterbenden Bauernfamilie. Weder Konsumgesellschaft noch Altersschwäche bringen die Rentnerin von ihrer Lebensart ab. Sie weigert sich, ins Altersheim abgeschoben zu werden, pflegt und hegt beharrlich ihre Sachen, flickt, was sonst weggeschmissen wird. Nach „ursprünglichem Leben“ sucht der Aussteiger Hans Stierli, der seinen Couturierberuf an den Nagel gehängt hat und heute allein im Onsernonetal lebt.

Von Gunten sucht mit seinem liebevollen, doch nüchternen Blick nicht nach Antworten. Durch die ruhige Montage der verschiedenen Porträtfragmente lässt er den Zuschauerinnen viel Raum, in den Film zu versinken, zu assoziieren.

Wir nehmen teil an Veränderungen im Leben der einzelnen Personen, an Krankheit und Vereinsamung, auch an Selbstbehauptung. Inwiefern aber die Filmarbeit selbst Prozesse in Gang gesetzt oder beschleunigt hat, wird im Film nicht klar. Dass wir die fünf porträtierten Menschen in ihrem alltäglichen, ihre Identität bestimmenden Arbeitsumfeld kennenlernen, entspricht dem Bild der überfleissigen Schweiz. Ob im Tessiner Häuschen, im Büro oder in der Küche, immer wird gekrampft, manchmal auf Kosten der Gesundheit. Nie ist Freude spürbar, nie sind Sinnlichkeit und Lust Antrieb zu innovativen Leistungen.

Ein wunderschönes Bild für die verträumte, flügellose Flucht aus dem Alltag findet von Gunten auf einem Platz am Ende der Landebahn vom Flughafen Kloten: Hier verbringt der Versicherungsinspektor Hans-Peter Sigrist seine Wochenenden und hört den Flughafenfunk mit. Über Kopfhörer nimmt er Teil an der verheissungsvollen Welt im Himmel oben.

Valérie Périllard
ist Volkskundlerin und Regieassistentin in Zürich.
(Stand: 2019)
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