MIKLÓS GIMES / MATHIAS KNAUER / CHRISTOPH SCHAUB

26. JULI 1988 — EIN GESPRÄCH

ESSAY

Der Dokumentarfilmer Mathias Knauer, ein 68er, und Christoph Schaub (Wendel), eine Filmgeneration jünger, haben sich drei Filme aus der Zeit der Zürcher „Bewegung“, alle drei entstanden zwischen 1980 und 1982, noch einmal angeschaut und sie aus der zeitlichen Distanz neu beurteilt. Bei den Filmen handelt es sich um Zwischen Betonfahrten (1981), Super-8, von Pius Morger, um Züri brännt (1981), Video, vom Videoladen Zürich und Keine Zeiten sich auszuruhen (1982), Video, von Christoph Schaub und Thomas Krempke (Videoladen).

Zwischen Betonfahrten ist eine Collage von einzelnen Szenen, die das Lebensgefühl des im Beton und in der Verständnislosigkeit Eingeschlossensein auszudrücken versuchen, wenn möglich auch mit Humor. Züri brännt erzählt die Geschichte der Zürcher „Bewegung“ mit authentischem Dokumentarmaterial in triumphalistischen Tönen. Beide Filme wurden an den Solothurner Filmtagen 1982 gezeigt und kamen gut an, auch bei der Kritik, wobei Pius Morger bessere Presse hatte. Züri brännt wurde unteranderem der Vorwurf gemacht, er wende sich zu sehr an Leute, die schon „dazugehörten“, er betriebe den Ausverkauf der Bewegung in Form von „Kunst“, der Film lade zum leichten Konsum ein.

Keine Zeiten sich auszuruhen (auch „AJZ-Film“ genannt) ist ein von der grossen Öffentlichkeit relativ unbeachteter Videofilm, der Bilanz zog über die Zustände im AJZ und innerhalb der Bewegung anhand von Bildern aus dem Jugendzentrum und kritischen Flugblättern der Arbeitsgruppen, ein Beitrag zur Diskussion also, welcher der Bewegung Denkanstösse vermitteln wollte. (gim)

GIMES Was ist mit euch innerlich passiert, als ihr die drei Filme nun wieder gesehen habt.

SCHAUB Es war bei den drei Filmen unterschiedlich. Im Prinzip: eine liebevolle Distanz als Grundgefühl. Ich habe über einige Dinge gelächelt, mit einem solidarischen Lächeln; aber gleichzeitig habe ich die Bewegung, wie ich sie erlebt und in Erinnerung habe, in den Filmen nicht wiedererkannt, zumindest an manchen Stellen.

Bei Zwischen Betonfahrten war die Distanz wohl am grössten, da der Film ja eine Inszenierung ist, das meiste keine realen Ereignisse waren. Ich fand: Mein Gott, war das wirklich so? Nein, so war das nicht ... also das ganze Gefühlsmässige, stimmungsmässige darin: dass das Lebensgefühl vor und auch zum Teil noch während der Bewegung ein schlechtes war, dass man sich sehr als Opfer, als jemand empfand, der sich in einer schlechten Situation befindet — das ist, so fand ich, ein sehr fragwürdiger Blick aufs Ganze, damit war ich, glaube ich, damals einverstanden und heute weniger.

KNAUER Ich habe ja bei verschiedenen Filmen, die wir seinerzeit als Interventionsfilme bezeichnet haben, mitgewirkt, und es war da eine regelmässige Erfahrung, dass in einer aktuellen Spannungssituation, wo der Kontext beim Publikum vorausgesetzt werden kann, Filme, die handwerklich oder auch gestalterisch unbefriedigend, unausgegoren sind, sehr gut gehen und agitatorisch Wirkungen erzielen können, während sie, aus einer gewissen Distanz heraus, wo eben dieser politische Kontext und das aktuelle Wissen fehlt, dann nicht mehr überzeugen, höchstens noch als Zeitdokument und historisch zu interessieren vermögen.

Und da ging es mir nun so, dass gerade der Film, den man seinerzeit als den „künstlerischsten hätte bezeichnen wollen, also Zwischen Betonfahrten, der ja eigentlich ein Spielfilm ist - sich für mich heute als viel kontextabhängiger erwiesen hat, als der damals als aktionistischer empfundene Züri brännt, der sich mir heute als der gestaltetere Film darstellt. Und zwar meine ich damit nicht, dass da künstliche Elemente eingebracht worden sind, wie jener Text, der sich ja eindeutig von einem politischen Agitationsfilm absetzt und einen ästhetischen Anspruch erhebt, vielmehr die Art und Weise der „Formulierung“ dieses Films. Dass also bei Züri brännt sich aus der Distanz zeigt, dass da doch eine recht verbindliche Formulierungsarbeit dahintersteckte, während bei Morgers Film alles viel lockerer erscheint und heute in vielem unverbindlich wirkt, zumindest aber ganz davon abhängig wird, ob die einzelnen Szenen für uns heute noch glaubwürdig wirken, also schauspielerisch und inszenatorisch überzeugen. Manche Sequenzen sind da als Spielfilmszenen sehr fragil, wurden aber zur Zeit der Entstehung wohl gar nicht auf die Goldwaage gelegt, weil man das als spontanen Ausdruck, als unverstellte, nicht überformte Äusserung las, und weil alles verknüpft werden konnte mit noch frischen, eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, während die Szenen heute, auf sich selbst gestellt, nicht mehr diese Kraft haben. Diese Umkehrung war für mich eigentlich der Haupteindruck.

SCHAUB Nicht ganz spontan, aber beim ersten Nachdenken, wurde mir bewusst, dass alle drei Filme Liebeserklärungen sind, von ganz verschiedener Warte aus: Züri brännt ist eine ungebrochene, totale Liebeserklärung an sich selber - an die Bewegung, aber weil die Macher sich als deren Mitglieder verstanden haben, eben doch an sich selber.

Zwischen Betonfahrten dagegen kam mir als eine ziemlich verquälte Liebeserklärung vor, insofern es ja um die Ablösung noch von einer anderen Liebesgeschichte geht, einer verunglückten: Es wird ja klar gegenübergestellt das schlechter Leben vor der Bewegung und der kreative Ausdruck während der Bewegung nach dem 30. Mai. Dass da so eine Ablösungsgeschichte in die Liebesgeschichte hineinspielt, die dann im Gestus etwas Verquältes und Unspontanes, auch Unüberzeugendes bekommt.

Und der AJZ-Film ist eine Abrechnung mit einer Liebe: noch liebend zwar, aber es wird auf eine auch kopflastige Art gezeigt, was destruktiv in dieser Liebesbeziehung wirkte, all die Aberrationen während dieser eineinhalb Jahre.

Mir ging es auch so, dass Züri brännt zu meinem Erstaunen eigentlich der kräftigste und heute noch plausibelste war. Und das hat wohl auch damit zu tun, dass da jemand kommt, und der sagt: Was wir machen, das ist ganz toll. Es gibt da keinen Zweifel, es gibt nur etwas, und das ist gut: die Bewegung und alles, was dazu gehört. Man lässt sich nicht stören vom Schlechten - das gibt es zwar, aber wir sind so kräftig, wir sind so gut, so kreativ, dass das eigentlich ein paradiesischer Zustand ist. Betonfahrten ist gebrochener, da eigentlich immer als quälender Stachel betont wird, dass die andern, also der Staat, das Establishment, uns nicht leben lassen.

Beim AJZ-Film war ja eine Überlegung beim Machen, dass das AJZ voller Probleme war; man war deprimiert, dass das nicht so herauskam, wie man das wollte, und man war clever genug, nicht zu sagen, das ist halt, weil die Polizei die Fixer ins AJZ treibt, oder wegen der Repression, sondern man hat gefragt: Was haben wir falsch gemacht, was kann man besser machen, wie lösen wir die Probleme - das sind auch unsere Probleme, nicht nur Probleme, die uns von aussen aufgedrückt werden, auch wenn das tatsächlich auch der Fall war.

KNAUER Keine Zeiten, sich auszuruhen nimmt ja insofern unter den dreien eine Sonderrolle ein, als er nicht, wie die beiden anderen, ein „Werk“ sein wollte. Er stand in einem ganz konkreten kommunikativen Zusammenhang: Er war für die Vorführung zunächst im Autonomen Jugendzentrum selber gedacht, wenn ich das richtig verstehe. Er versuchte, gewisse Thesen in die dortige Diskussion hineinzutragen. Das gemeinsame Betrachten eines Filmes als Ausgangspunkt zu etablieren für ein gemeinsames Reden über die hier und jetzt anwesenden und von den Konflikten betroffenen Leute und über die Probleme, und von daher brauchte er gar keinen Werkcharakter zu haben.

Die beiden anderen Filme waren, bei aller Improvisiertheit und ihrem aktuellen Charakter, eben doch „Werke“ - es steckt da viel Arbeit darin, auch Denkarbeit, Gestaltungsarbeit -, und sie zielten gewiss von Beginn an auf ein grösseres Publikum, auch ausserhalb Zürichs, wenn wohl auch nicht vorgesehen war, dass Züri brännt sozusagen um die halbe Welt kommen würde.

SCHAUB Das finde ich auch ganz erstaunlich: Man spürt deutlich, die Macher hatten das grosse Publikum im Auge, das deutschsprachige Publikum, denn ganz viele Sachen, die damals bekannt und sonnenklar waren, wurden ausdrücklich gesagt oder untertitelt. Das ist in Betonfahrten nicht so. Der hat sich noch viel stärker darauf verlassen, dass man gewisse Signale kennt und erkennt, mit eben dem Problem, dass man das heute vergessen hat, oder dass man gar nicht dabeigewesen ist.

KNAUER Das eben ist die Kontextabhängigkeit, die sich heute zeigt.

SCHAUB Züri brännt hat auch eine starke Kontextabhängigkeit. Ich reagiere auf ihn heute ganz anders, er wirkt auf mich sehr lang, und man würde ihn wohl heute etwa um ein Drittel kürzer machen. Er ist einerseits Geschichtsschreibung der Bewegung, auf der anderen Seite einfach eine Deklaration der eigenen Positionen, Widerspruch zur Gesellschaft also. Der ganze Film bleibt in dieser Polarität, und das ist, hundert Minuten lang, heute langweilig. Was aber nicht langweilig ist und die Zeit überlebt hat, das meinte ich mit der „Liebeserklärung“ — ein Lebensgefühl kommt durch, ein gerades, ein volles.

KNAUER Gewiss könnte ich mir, hätte ich den Film gemacht und müsste ihn heute revidieren, auch manche Kürzung vorstellen. Betrachte ich ihn aber mit der Frage, was sagt er mir heute über die damaligen Ereignisse, über die Motive dieser Leute, dann bietet mir Züri brännt eben doch viel mehr als der Spielfilm. Weil er durch den Anspruch, die Methodik, auch Aussenstehenden gewisse Sachzusammenhänge zu vermitteln - wie du sie vorhin geschildert hast, den Gedankengang eines Zuschauers heute, der manches vergessen hat oder gar nicht dabei war, doch auf die entscheidenden Fragen lenkt.

SCHAUB Aber die sind doch sehr einfach und rasch begriffen. Der Kommentar, so poetisch und so fulminant er ist, auch wortreich und geschwätzig, sagt eigentlich immer das selbe: Wir sind gut, wir sind der unruhige, der nervöse Schmelztiegel der Stadt, und daneben ist alles grau und schlecht. Und da muss ich sagen: Das finde ich eigentlich, für hundert Minuten, wenig. Warum geht das also trotzdem? Das hat wirklich nicht mit der analytischen Aussage zu tun.

Betonfahrten wollte keine Chronik der Ereignisse sein, sondern das „Leben“ in der Stadt zeigen, und hat dann eigentlich auch in der gleichen Polarität funktioniert. Ich finde, darin sind die beiden Filme sich recht ähnlich. Da es aber, vom Standpunkt des Spielfilms aus gesehen, eher unbeholfen geschah, war die Inszenierung wenig spielerisch, wenig ironisch, was ja der Bewegung sonst sehr eigen war. Die Ironie fehlt - was als Spiel gedacht ist, kommt schliesslich sehr thesenhaft daher.

Die einfache, kontradiktorische Aussage wirkt sich offensichtlich bei einem Spielfilm störender auf den Zuschauer aus. Offenbar verlangt ein Spielfilm in der Tendenz komplexere Aussagen.

KNAUER Aber das Analytische eines Filmes besteht ja nicht bloss da, wo er Thesen vorstellt. Analytisch ist er ja in seiner Auswahl der Motive, der Bilder und Szenen, die der Autorschaft von Belang erscheinen, wodurch eine Sache, eine politische Handlung, eine Bewegung dann der Analyse zugänglich wird: indem der urteilende Betrachter eben auf analytische Gedanken kommt. Was ich also bei Züri bräunt produktiv finde, ist, dass sich die Macher dieses Films eine Art Liste dessen vorstellten, was in diesem Film vorkommen muss, und eine Auswahl trafen, die ich heute als anregend empfinde. Während ich bei Betonfahrten viel mehr Schwierigkeiten habe - ich denke jetzt nicht an seine Parataxe, die kaum Aussagen machen will durch Verknüpfungen, sondern eher an das recht schmale Spektrum der Motive.

SCHAUB In Züri bräunt gibt es eine Einstellung, die zwei oder drei Mal wiederholt wird: Ein Transparent, auf dem nichts draufsteht, wird bei einer Demonstration mitgetragen. Dies Bild sagt für mich noch nichts Analytisches aus. Es sagt hingegen viel aus und zwar viel Interessanteres, als wenn man, wie an einer anderen Stelle, Aufnahmen vom Umzug des Sechseläutens parallel schneidet zu Aufnahmen einer Demonstration in der Langstrasse-Unterführung. Das ist eine Aussage, die so erwartbar ist, und also auch langweilig, dass sie mir heute nichts mehr zu sagen hat. Der Film vermittelt etwas auf der Ebene eines solchen durchsichtigen Transparents.

GIMES Man müsste doch schon genauer werden und fragen: Welche Elemente der Bewegung mobilisieren Gefühle und welche nicht.

KNAUER Und sind das wirklich politische Zusammenhänge, um die es da geht: im ästhetischen oder im stofflichen Sinne?

Was politisch ist an Vorgängen, also, was die Polis betrifft, die Organisation des Zusammenlebens, den politischen Kampf mit seiner gestaltenden oder natürlich auch negatorischen Seite, scheint sich ja der unmittelbaren, dokumentarischen Darstellung im Film weitgehend zu entziehen, denn es geht da ja meist um abstrakte Dinge. Es ist ebenso schwierig Ausbeutung, wie Gerechtigkeit oder auch nur das „Volk“ in einem Dokumentarfilm zu zeigen. Bilder von einer Demonstration zeigen ja nicht das Volk, sondern zunächst einfach Leute, und erst durch den Zusammenhang, den der Film bildet, wenn also die Motive des Demonstrierens deutlich werden, kann das Politische ins Spiel kommen und erscheinen die eventuell abgebildeten Leute als Volk.

Von daher hatte natürlich die 80er-Bewegung auf ihrer Ausdruckspalette eine ganze Reihe von Mitteln, die sich einer filmischen Abbildung angeboten haben, wo ich mich aber frage, ob das eigentlich bereits politische Zusammenhänge sind, die sich darin zeigen. Wird einem wirklich klar, was die demonstrierenden Leute politisch wollten? War also diese vielberedete Nackt-Demonstration eine unpolitische Fuchtelei aus einem Unbehagen heraus — oder gab es da Motive, die man in Richtung auf eine Umgestaltung der Wirklichkeit als politisch bezeichnen kann?

SCHAUB Ich glaube, die Nackt-Demo und ähnliche Ausdrücke der Bewegung mobilisieren etwas bei den Rezipienten - über die Presse natürlich, über die filmische Darstellung das psychisch attraktiv ist. Da ereignen sich befreiende Momente, die den Zuschauer in einen angenehmen Zustand versetzen.

Attraktiv ist meistens, was man selber nicht lebt, was aber attraktiv wäre zu leben. Das aber ist, meine ich, politisch effizienter als die Verhandlung mit einer Liegenschaftenverwaltung, mit dem Stadtpräsidenten. Es wird bei den Leuten mehr bewegt.

Der AJZ-Film dagegen hatte es bei der Bewegung im AJZ sehr schwer: Er wurde heftig kritisiert, es kam zu wirklich handfester Aggression gegen den Film, weil der Film eben nur nachdenkt, möglichst wenig zu werten versucht, und weil er vor allem diese Polemik gegen den Staat und die Polizei nicht hat, weshalb viele Leute enttäuscht waren, nicht auf den Trip gehen zu können, wie in Züri brännt, und den ganzen Power nochmals erleben zu können.

KNAUER Was du hier beobachtest, rührt doch daher, dass er ganz einfach die Widersprüche nicht glättet. Hier gibt es nicht nur eine These, eine Opposition von Gut und Böse - da gibt es Widersprüche, die man aushalten muss und von denen aus man etwas unternehmen muss. Das macht ihn eben viel „dokumentarischer“, aussagekräftiger. Man kann daran anknüpfen, um weiterzudenken. Zwar ist er keine ausformulierte Reflexion (als These, Vorschlag, Parole), aber die blosse Tatsache, dass diese schlechte Wirklichkeit im AJZ, das bittere Auseinanderklaffen von Utopie und den ungelösten, vielleicht unlösbaren Problemen - etwa jenes mit den Alkoholikern, die man nicht rauswerfen wollte -, die aber ständig Schwierigkeiten brachten, in diesem Film ohne Beschönigung da sind, macht eben das Wirkliche an ihm aus, und damit auch das Politische.

SCHAUB Er war ja in dieser Hinsicht ganz „Anti-Bewegung“. Die Bewegung kannte nie den Zustand des „Nicht-Wissens“. Man hatte immer eine Lösung, vereinfacht zwar, und das wusste man, es gab da immer ein Blinzeln dabei, aber man hat die Kraft zelebriert, eigentlich alles zu wissen und es besser zu wissen.

Und darin ist der AJZ-Film das genaue Gegenteil. Wir brachten verschiedene Meinungen, Fakten, aber immer mit der Haltung, wir wissen selber nicht, was damit anzufangen ist. Es muss eine Lösung geben, postuliert der Film, aber die haben wir noch nicht, darum zeigen wir mal die Probleme, die es gibt. Ich verstehe, dass es zu jener Zeit schwierig war, das so anzunehmen, denn der Zustand, viele Probleme zu haben und nicht zu wissen, wie sie zu lösen sind, ist schmerzlich.

GIMES War das Selbstverständnis der Filmer in Züri brännt das einer narzisstischen Selbstfeier? War es nicht eher eine Art Legitimationsbedürfnis der Videoladen-Leute, die ja gar nicht so unbedingt akzeptiert waren - man fragte sich ja: Was soll diese dauernde Filmerei, was sind das für selbsternannte Chronisten?

SCHAUB Ich war damals im Videoladen noch nicht dabei, aber ich weiss, dass es eines der Probleme war, sich dauernd legitimieren und absetzen zu müssen von den Equipen des Schweizer Fernsehens und anderer Anstalten. Nach Züri brännt gab es das Problem dann nicht mehr.

Aber der Narzissmus kommt so zustande: die Bewegung selber war ja ein narzisstisches Kind. Man hat sich ja selber dauernd beobachtet. Die Bewegung hat einen Spiegel vor sich hergetragen, sich selber dauernd angeguckt und sich gesagt: Ich bin toll. Was ja auch bestätigt wurde vom weltweiten Presseecho. Und die Züri brännt-Macher waren natürlich alle Bewegungsleute und übernahmen deren Selbstverständnis.

Nun verstanden sich die Macher und auch Silvano - der den Kommentar schrieb - im Dissens zu den anderen Dokumentarfilmern. Man wollte sich abgrenzen. Silvano zum Beispiel hat eine bitterböse Kritik geschrieben über Bruno Molls Samba lento. Man wollte einen Film über sich selber machen und nicht über ein Thema, wie etwa entlassene Lehrer oder Dienstverweigerer.

Bewusst forciert wurde die Deckungsgleichheit als Macher und Bewegungsmitglied. Die vier, die das gemacht haben, mussten das forcieren und wirkliche Distanzen, die da waren, zur Seite schieben, um den Film überhaupt machen zu können. Es gab ja in früheren Nummern von CINEMA Diskussionen darüber: Sollen wir als „Bewegte“ gehen oder als Filmer, was machen wir mit der Kamera. Das war ein Widerspruch, der nur aufgelöst werden konnte, indem wir sagten: Wir machen einen Film daraus, aber einen Film über uns, und wir behaupten uns als Bewegung. Das ist natürlich eine geschickte Auflösung dieses Widerspruchs.

KNAUER Filmemachen heisst ja, wie auch Schreiben, immer wieder, dass man Distanz nimmt, selbst wenn man selber Teil einer Bewegung, gar einer ihrer Wortführer ist. Wenn man sich an den Schreibtisch setzt, nimmt man Distanz, man muss Distanz nehmen. So haben die Filme, die sich etwa mit den Bewegungen um 1968 auseinandersetzen, eine Weile auf sich warten lassen, kamen also erst in den frühen siebziger Jahren. Man konnte nicht gleichzeitig demonstrieren und eine Reflexion darüber machen. Man konnte Flugblätter schreiben, ja, aber eben keine filmische Reflexion, die ja ein recht teurer und auch langwieriger Prozess ist, bei dem man sich immer fragen muss: Was wird der Film zur Zeit seines Erscheinens zu sagen haben? Und aus dieser Distanz heraus neigen Filme, die sich politischen Stoffen zuwenden und politischen Charakter haben, eher zur Reflexion. Ich frage mich also, ob es nicht mit den Umständen dieser Bewegung zusammenhängt, dass möglich war, was du da als Sonderfall beschreibst.

Die Bewegung von 1980 - die ich eher als eine kulturelle denn als eine politisch sich formulierende Bewegung sehe, da sie nicht einer politisch zweckrationalen Handlungsweise verpflichtet war - hatte eher den Charakter eines ins Künstlerische übergreifenden Protestes. Was man etwa als „Müllern“ bezeichnete, war ja keine politische, sondern eine ästhetische Methodik.

SCHAUB Das ist der grosse Streitpunkt. Ich finde auch, dass die Bewegung eine kulturelle war, keine Theoriebildung kannte. Es ist ja praktisch nichts übriggeblieben an politischen Forderungen acht Jahre später. Übriggeblieben sind kulturelle Ausdrucksformen, die es noch gibt. Aber es war ja die Leistung der Bewegung, dass sie neue politische Kategorien praktizierte, dass sie gesagt hat: das ist eine Form von politischer Opposition ...

KNAUER Was denn zum Beispiel?

SCHAUB Das „Müllern“ zum Beispiel - man kann das nicht zu oft machen, aber damals waren das politische Argumente, es war politisierend und hat sehr viel bewegt, viel mehr als wenn einer politisch zweckrational argumentiert hätte.

KNAUER Ich bestreite keineswegs, dass diese Manifestationen politische Wirkungen hatten, schon allein weil sie Repressionen auslösten. Aber betrachtet man die Auswirkung des „Müllerns“ auf das Schweizer Fernsehen, so muss man doch zugeben, dass dieses Fernsehen in keiner Weise verändert worden, ja nur noch schlimmer geworden ist.

SCHAUB Das ist eine verfehlte Erwartung, dass damit das Fernsehen besser werden könnte. Die Bewegung wollte das Fernsehen entmystifizieren. Das ist ihr gelungen.

GIMES Die Frage also: Wie weit wurde bei Züri brännt bewusst gestaltet? Welche Ziele hatte man bei dieser Gestaltung? Man hatte ja Material, das einem die Bewegung lieferte.

SCHAUB Ich war ja nicht selber dabei, aber es wurde schon sehr viel überlegt - auch zum Videospezifischen an der ganzen Geschichte, dass man also mit einem Trickmischer arbeiten konnte, mit Solarisationen, mit Blenden, Fotos einstanzen konnte. Man hat da auch viel an Konzept entwickelt. Aber es scheint mir heute, dass doch viel weniger gestaltet worden ist, als damals behauptet wurde. Die videospezifische Bearbeitung - mit wenigen Ausnahmen, am Schluss die Montage mit dem Godzilla-Film und Zürich etwa - hat doch heute kaum mehr grosse Bedeutung, hat sehr gealtert.

KNAUER Beim Wiedersehen von Zwischen Betonfahrten ist mir bei einigen Szenen sehr deutlich geworden, dass seine wichtigste Aussage, die er für mich heute macht, das Bild eines Zerfallens der politischen Kultur ist. Nicht nur da, auch das allbekannte Beispiel in Züri brännt könnte genannt werden, wo der Unterrock der Stadträtin Lieberherr diskreditierend als Mittel zitiert wird, wie das mit den Methoden einer nichtfaschistischen Opposition nicht zu vereinbaren ist. Wo man sich über die Mittel keine Gedanken mehr macht, da ist eben das Zerfallen einer politischen Kultur. Dazu gehört auch der demotivierende Schlusssatz von Morgers Film, der zugunsten des umweglosen Subito jegliche Organisation in Frage stellt, einer nach dem Lustprinzip sich richtenden Beliebigkeit das Wort redet - eine Haltung, die sich sehr leicht dann auch in den Dienst der demokratiefeindlichen Kräfte spannen lässt.

SCHAUB Das ging ja vorab gegen die Parteien, die etablierten Organisationen. Die Bewegung war politisch nicht so naiv, dass sie einfach nur ein Lustprinzip postuliert hätte. Dafür gab es ja schon fast zu viel, was damals organisiert worden ist - es gab die Knastgruppe, die Sanitätsgruppe, die Kinogruppe usw., die alle Sitzungen hatten, Flugblätter herausgaben, Strategien entwickelten.

In Betonfahrten wurde nur der ganz naive Ausdruck der Bewegung genommen. Ich wäre nicht so begeistert in der Bewegung gewesen, wenn das alles so naiv angegangen worden wäre, und sie wäre auch politisch nicht so erfolgreich gewesen. Betonfahrten war am politischen Aspekt der Bewegung eher desinteressiert. Das Interesse von Pius galt mehr einem Lebensgefühl, dem kulturellen Ausdruck, und da liegen ja auch die stärkeren Momente.

KNAUER Ich rede ja nicht von den Intentionen der Autoren, sondern von ihren Filmen, die mir in vielem ein treffendes Bild jener Bewegung liefern, wenn vielleicht auch seismographisch naiv abbildend.

Wohl gibt es heute noch einige Projekte, Projektgruppen. Aber die Repression, die ja wirklich gewaltig war, hat die Bewegung in ihrer Breite eigentlich ausgelöscht. Ich frage mich daher, ob das nicht mit dem Wesen ihrer Politik zu tun hat. Dies ist mein Eindruck - oder dann stimmt einfach das Bild nicht, das die Filme zeichnen.

SCHAUB Beide Filme spiegeln die Bewegung nicht richtig wieder, indem sie Zweifel und Widersprüche, die es gab, ausradierten, beide waren nicht daran interessiert, den Zweifel darzustellen oder die Streitigkeiten. Nur einmal - bei Züri brännt - gibt es einen Dissens: wo es um die Strategie bei der Grossdemonstration ging. Das AJZ, das es damals ja schon gab, erschien als kreativer Schmelztiegel, wo Chaotisches sinnvoll organisiert wird - mit eigener Feuerwehr, Sanität usw. -, da wurde geschummelt. Und Betonfahrten zeigt nur den politisch naivsten Ausdruck der Bewegung.

Es gab natürlich die Stimmen: Mich scheisst alles an usw., aber das war nicht die prägende Kraft der Bewegung.

GIMES In Züri brännt gibt es - mit Ausnahme der Episode mit den Studenten - nirgends eine politische Einschätzung des Kräfteverhältnisses, obwohl die Bilder dazu ja einiges sagen: Wenn etwa Lieberherr und Widmer schon am dritten Tag ins Volkshaus gehen, um sich „abschlachten“ zu lassen, so geschieht das natürlich im Bewusstsein ihrer politischen Stärke. Und man hat es als ihre politische Schwäche interpretiert, was grundfalsch war.

SCHAUB Auch die Bilder von den Strassenschlachten zeigen einen Widerspruch zum Kommentar und Gestus des Filmes. Es ist da ja klar, wer der Stärkere ist: der Staat, die Polizei. Der Film ist nicht an einer Einschätzung interessiert, weil das Axiom des Filmes ist: Wir sind die Besten.

GIMES Und bei Züri brännt - wird da vorausgesetzt, dass die Sintflut, das Ende doch einmal kommt?

SCHAUB Ich glaube, die Sintflut wird vermutet. Am Schluss von Züri brännt die Winterlandschaften und dazu der Kommentar: „Es wird hart, es wird Winter, aber ...“, und dann kommt nochmals das Aufbäumen: Es wird kein Filmfestival vorbeigehen, ohne dass es knallt, keine Wahl ohne Boykott usw. Und die kräftigen Forderungen werden als politische Realität vorweggenommen, natürlich fälschlicherweise. Es wird damit gespielt, dass der Tod, die Sintflut kommt. Es war ja für die Bewegung auch ein Sarkasmus charakteristisch, dass alles Scheisse ist und man einfach das Beste daraus machen muss.

GIMES Dennoch wollte ich euch fragen, was ist das Grundgefühl, als Filmer in einer Zeit zu arbeiten, wo es diese politische Konjunktur nicht gibt? Und was ist das Grundgefühl, wenn ihr diese Filme wieder anschaut in der heutigen Zeit?

SCHAUB Wie geht man um mit Phasen, wo politisch nichts manifest geschieht? Das war ein grosses Problem im Videoladen, nachdem die Bewegung zerschlagen war. Alle, die im Videoladen filmten, hatten sich immer an politischen Ereignissen orientiert. Schliesslich wollte man das nicht mehr, und es kam diese Leere, etwa 1983 bis 1985.

So gab es eine filmische Entwicklung, die biographisch für alle Beteiligten schwerwiegend war. Man begann sich anders filmisch zu definieren und sich anderen Themen zuzuwenden, Themen, die mit der eigenen Biographie etwas zu tun hatten, oder man begann selbst etwas zu erfinden. Nur Filme zu machen, die von politischen Ereignissen ausgehen, das geht auf die Länge nicht.

KNAUER Als Filmemacher - oder überhaupt als Publizist, sofern man frei ein Projekt auswählt, das einem wichtig scheint - ist es für mich ja nicht grundsätzlich verschieden, ob ich ein Projekt verfolge, das an einem Brennpunkt der Aktualität sich orientiert, oder ob man sich einem anderen Gegenstand zuwendet. Beide Male reagiere ich auf ein Ereignis, eine Beobachtung, auf Erfahrungen oder ein Unbehagen, das ich habe, als Zeitgenosse, als politischer Mensch, und versuche, das in einem Film zu formulieren.

SCHAUB Aber es gibt doch den Unterschied, dass du nicht einsam bist, wenn du dich an einem Brennpunkt der Aktualität aufhältst. Da bist du getragen und hast weniger Schwierigkeiten, dich zu legitimieren. Allem wirst du eher in den Künstlerstatus gedrängt.

GIMES Es ist also irgend etwas entstanden in jener Zeit, vielleicht weil die Einsamkeit überwunden werden konnte oder was auch immer, in jener politischen Konjunktur. Das Klima heute ist ganz anders. Wenn man die jüngsten Abstimmungsresultate in Zürich nimmt oder die Geschichte mit den Flüchtlingen, so musst du sagen: Da ist ein Tiefpunkt erreicht, der in Europa kaum noch Überboten werden kann, bei vergleichbarem Wohlstand. Das beeinflusst doch den Filmemacher.

KNAUER Wenn du an einem Film arbeitest, bist du ja immer allein. Du hast zwar Freunde, die dich beraten, aber entscheiden musst du oder die Autorengruppe selbst.

Was in der Zeit einer intensiven politischen Auseinandersetzung wie 1968 oder 198C anders ist: dass sehr vieles geschieht, was anregt, was du dir nicht erst durch Recherchen aneignen musst. Entscheidend ist aber, dass sich da eben sehr viel mehr Spektakuläres zuträgt. Einen Harlan County könnte man in der Schweiz nicht machen, einen Streik mit Schiessereien hat es in der Schweiz seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.

Nun ist es ja nicht die Schuld der Filmemacher, wenn sich solches nicht zuträgt. Man könnte also deswegen zur Fiktion greifen, aber als Dokumentarist kann man sich ja nicht solche Gelegenheiten schaffen.

Ich sträube mich, bei der Wahl der Themen mich am Sensationscharakter des Sujets zu orientieren. Natürlich fragt man sich bei der Wahl eines Stoffes, ob es da das sogenannte Filmische gibt, Bewegung, Aktion usw., oder ob man Gefahr läuft, bei einer traktathaften Darstellung zu enden. Aber wie manche Journalisten immer an gewisse Extrempunkte zu gehen, das ist für mich keine mögliche Haltung.

SCHAUB Es gibt keinen absoluten Wert der Sensation. Der Film von Richard Dindo, Dam, Michi, Renato und. Max, hat einige „Bewegungs“-Szenen, Strassen-Demonstrationen usw., und zwar zum Teil die selben Szenen, die auch im AJZ-Film verwendet wurden. Aber in Dindos Film verbreiten die gleichen Szenen eine ganz andere Atmosphäre. Die „Bewegungsfilme“ sind mit dieser Direktheit zum Sujet gemacht worden. Die Wirklichkeit erscheint im Film gewissermassen eins-zu-eins. Das positive Lebensgefühl ist in die filmischen Mittel eingeflossen und solche Mittel sind bewusst gesucht worden.

Bei Richard haben diese Szenen einen ganz anderen Zweck. Ich habe gestaunt, dass sie bei mir etwas ganz anderes mobilisierten, dass sie geradezu bedrückend wirkten. Es ist mir bei diesen Demonstrationsszenen traurig und unwohl geworden, bei den anderen Filmen geschah mir das nie.

KNAUER Dass hier etwas Spektakuläres sich ereignet hat - nicht in einem negativen Sinne für die Kameras wirkungsvolle Aktion, ist offensichtlich. Ich meine, das hat den Filmemacher als Gestalter in gewisser Hinsicht „entlastet“.

Ein spannender, attraktiver Stoff, der aus sich selber eine Kraft entwickelt, ein Interesse beim Leser oder Zuschauer entfacht, entlastet von der sonst unabdingbaren Notwendigkeit, dass die Kraft des Films aus seiner Form selber kommt.

SCHAUB Zwei der diskutierten Filme sind ja auf Video produziert worden, einer auf Super-8. Gewiss haben die beiden Videofilme die Ästhetik weiterer Filme geprägt. Man hat damals sehr an den Montagefilm geglaubt. Auch mir hat diese Methode der assoziativen Aneinanderreihung von Szenen, von denen man behauptet hat, sie produziere eine atmosphärische Spannung, sehr eingeleuchtet, diese lose Struktur, die nur über Stimmungen sinnvoll wird.

Die Entwicklung führte aber zur Einsicht, dass das als dramaturgisches Prinzip in einem Film nicht reicht Man droht damit allzusehr in die Beliebigkeit und Unverständlichkeit zu rutschen, man ist auf ein Publikum angewiesen, das sich kulturell in einem nahem Umfeld bewegt.

Aber tatsächlich gibt es keinen Film, der später jenes Lebensgefühl noch einmal gezeigt hätte. Wenn in einem Schweizer Spielfilm nun Häuser besetzt werden, so ist das bisher immer missglückt. Es scheint, man kann das in der Schweiz besonders schlecht: aktuelle Ereignisse fiktionalisieren.

KNAUER Die Frage wäre: Hat je ein Autor „gemüllert“? Morger gewiss nicht. Der Videoladen auch nicht.

SCHAUB Züri brännt ist ein ernsthafter, auch in manchem schwerer Film, etwa wegen seiner geschichtsschreibenden Akribie, mit der ein Ereignis nach dem andern erzählt wird. „Müllern“ kannst du ja nur in einer ganz besonderen Situation und Stimmung, für eine kurze Zeit. Filmen dagegen ist eine langfristige Geschichte und hat mit ganz vielen Gefühlslagen zu tun.

KNAUER Also warum tauchen diese kreativen Leute denn nicht auf? Sind sie vereinzelt? Lässt sich der politische Schwung in der Vereinzelung des Filmschaffenden nicht mehr realisieren?

SCHAUB Ohne die Bewegung damit zu diskreditieren, kann man sagen: Dieser kulturelle Ausdruck hält ausserhalb des Zusammenhangs der damaligen Ereignisse nicht stand.

KNAUER Gewiss war 1980 ein Zeitpunkt, wo eine gewisse Politikmüdigkeit vorhanden war, durchaus auch bei Leuten, die bei der 68er-Bewegung überaus aktiv waren, dann aber die Erfahrungen mit der Zersplitterung machen mussten, vor allem aber bei vielen jungen Leuten, wie es sich an der Stimmabstinenz zeigt - wo also viele den Eindruck hatten, dass man mit den bestehenden politischen Mitteln nichts erreichen kann, was innerhalb einer absehbaren Zeit Erleichterung schafft.

Vielleicht ist im Film etwas ähnliches vorgefallen: Die Zuschauer, besonders auch die Kritiker, die für jedes neue Phänomen dankbar sind, weil es ihre Gedankenproduktion anregt und sie wieder etwas zu schreiben haben, haben die „Bewegungsfilme“ sehr begrüsst. So wie man 1976, als das Filmkollektiv gegründet worden ist, grosse Artikel in verschiedenen Zeitungen über diesen Kollektivprozess lesen konnte und damit neue Aspekte in die Filmkritik eingebracht werden konnten, so hat man auch Züri brännt und Betonfahrten begrüsst: Da kommt eine neue Generation, spricht eine andere Sprache - noch bevor man gefragt hat, was wird denn da gesagt und wie? Die Filme sind damals erfolgreich gewesen, Züri brännt lief während Wochen im Kino Walche. Das war ein soziales Faktum, die Leute wollten das sehen. Diese Frische aber nutzt sich ab, und spätere Filme können sie sich nicht ausborgen. Sie ist aus dem unmittelbaren Zusammenhang jener Bewegung möglich gewesen, und sonst wäre sie nur noch möglich vermittels einer ästhetischen Transformation, wo dann die Wut, der Protest sich in andere Formen umsetzt, in eine filmische Sprache.

Die Basis des filmischen Ausdrucks ist ja, dass man eine Sprache besitzt, eine Sprache erworben hat auf dem Weg vieler Erfahrungen und Lernvorgänge. Auch zuallererst durch Absetzung von anderen Sprachen. Es erstaunt nicht, dass viele, die von den Ereignissen damals mitgetragen worden sind, heute nicht mehr da sind oder vielleicht erst auf langen Umwegen zu diesem Ausdruck finden werden.

Die Leute um Züri brännt waren damals in einer frühen Phase ihrer filmischen Entwicklung, und ein Ereignis wie die 80er Bewegung konnte sie ausserordentlich in Schwung bringen. Das war historisch immer eine grosse Chance für die Entwicklung der Leute selber wie auch der Kunstmethoden. Beim russischen Revolutionsfilm war ja die Wurzel der grossartigen Produktivität und der Innovationen nicht, dass in Russland besonders viele filmbegabte Leute gesessen hätten, sondern es war das revolutionäre Aufreissen aller Strukturen, die den Mut gab zu den höchst riskanten künstlerischen Entscheidungen.

SCHAUB Die Unbeschwertheit im aktuellen Zusammenhang war natürlich auch bei uns ganz wesentlich. Sobald man dann später als vereinzelter Autor gemessen wird, ist es viel schwieriger. Wenn du einmal das ganze Business kennst, kannst du nicht mehr unbeschwert sein, und es braucht eine irrsinnige Kraft, noch frei zu arbeiten. Aber wenn man beginnt - ich habe damals beim AJZ-Film von alldem gar nichts gewusst und nur an das mir ganz nahestehende Publikum im AJZ gedacht ist man noch nicht in dieser Defensive.

KNAUER Es können in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs Filme, die produktionsmässig nur im Ausnahmezustand denkbar sind, leichter möglich werden. Sonst muss ja schon durch die verschiedenen Vorbereitungsphasen des Schreibens, Geldsuchens usw. etwas herauskommen, was von diesen problematischen Produktionsbedingungen reguliert ist.

Was bei uns wenig vorkommt, ist, dass plötzlich Autoren auftauchen, die während Jahren von der Pike auf das Filmen kennengelernt haben und dann als eigenständige Erscheinungen dastehen, ohne Schaden genommen zu haben, wie etwa Ettore Scola.

GIMES Was bedeutet für euch diese Rückkehr zur filmischen Normalität? Was ist die politische Referenz heute?

SCHAUB Ich habe keine klare, eindeutige politische Referenz. Ich finde vieles, was 1980 geschah, sehr interessant und gut, politisch sinnvoll. Aber bin nicht so naiv zu glauben, dass das einfach auf heute übertragen werden kann. Auch in den siebziger Jahren hat es viele sinnvolle Sachen gegeben, und die haben mir bei meiner Politisierung viel gebracht. Es passiert sehr viel und viel Spannendes, aber momentan ist es nicht so, dass die Kräfte, synergetisch sozusagen, so zusammenfliessen, dass es grosse und spektakuläre Ausbrüche gibt. Filmisch interessieren mich nicht abstrakte Grössen und Kräfte. Es interessiert mich, was mit dem Individuum geschieht in diesem Kräftefeld. Ob ich nun dokumentarisch arbeite oder einen Spielfilm mache.

KNAUER Eines der wichtigen Aktionsfelder ist natürlich immer die Auseinandersetzung mit der audiovisuellen Unkultur. Das ist eminent politisch. Das Schaffen einer Welt, die sich gegen den kommerziellen Lärm zur Wehr setzt.

Vor aller Veränderung muss ja immer erst einmal wahrgenommen werden, was denn eigentlich stört.

Miklós Gimes
ist Mitglied des Filmkritiker-Teams des Zürcher Tages-Anzeigers.
(Stand: 2019)
Mathias Knauer
1942, Musikwissenschaftler, politischer und Medienjournalist, Mitglied des Filmkollektivs Zürich, Filmemacher (Ein Streik ist keine Sonntagsschule, 1975; Kaiseraugst, 1975; Cinema mort ou vif, 1977; Aufpassen macht Schule, 1978; Die unterbrochene Spur, 1979/82; Pueblo, 1985), lebt und arbeitet in Zürich.
(Stand: 2019)
Christoph Schaub
Mitglied des Videoladens Zürich, gewann als Filmemacher mit seinem Spielfilmerstling Wendel den Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken.
(Stand: 2019)
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