VALÉRIE PÉRILLARD

DER WILDE MANN (MATTHIAS ZSCHOKKE)

SELECTION CINEMA

Früher war er etwas Besseres, der deutsche Herr aus Salzgitter, doch heute verschlägt es ihn als Vertreter von Präservativautomaten in ein nebliges Schweizer Kaff. Fr tritt in den Landgasthof „Der wilde Mann“ ein. Die verschlossenen Bauern, die abends in der Wirtschaft Karten spielen oder in der Dorfmusik üben, beachten den Herrn nicht. Ein Fremder hat hier nichts zu suchen, und was seine Automaten gegen die Seuche, gleich als Maul- und Klauenseuche missverstanden, tun könnten, das verstehen die Bauern auch nicht.

Die Unzufriedenen aber, die unter der Enge der dörflichen Gemeinschaft und des monotonen Alltags leiden, wittern eine Möglichkeit auszubrechen. Stolz zeigt ihm der Wirt sein hauseigenes Studio: Hier dreht er seine Filme, die dann im zugehörigen Kino vor leerem Saal vorgeführt werden. Der dünkelhafte Herr aber interessiert sich einzig für den tölpelhaften Operateur, der sich partout nicht verführen lassen will.

Da der Deutsche weder seine Automaten verkaufen noch seinen homosexuellen Neigungen freien Lauf lassen kann, will er sich zurückziehen. Doch mit dörflicher Ruhe ist nichts. Die Nacht ist voll penetranter Geräusche, ein Kalb wird geboren, Schweine werden geschlachtet. Der Landgasthof erwacht zu gespenstigem Leben.

In dieser Nacht wird der Herr aus Salzgitter manchen skurrilen Gestalten begegnen, und was sie von ihm fordern, ist die Möglichkeit, sich darzustellen und lang gehegte Wünsche an den Mann zu bringen. Die Serviertochter will ihn verführen und legt sich zu ihm ins Bett, eine Schauspielerin packt ihre Koffer und will am nächsten Morgen mit ihm nach Deutschland verreisen. Absurd wirken sie, wenn sie in den theatralisch inszenierten Szenen rücksichtslos und stur ihr Ziel verfolgen, ohne die Reaktionen des fremden Herrn, der sich offensichtlich nicht um sie schert, im Geringsten zu beachten. Dieser versucht nochmals sich an den Operateur ranzumachen, doch der wehrt sich und sticht mit dem Messer zu. Der Arzt wird herbeigeholt, um die blutende Wunde des Herrn von Salzgitter zu pflegen. Hemmungslos probiert er eine neue, nutzlose Maschine an ihm aus und verschwindet nach nichtgetaner Arbeit wieder. Alle sind sie m sich selber verfangen, der deutsche Herr in seiner Schwermut, die Dorfbewohnerinnen in ihrem verbohrten Ernst. Nichts Leichtes, Unbeschwertes haftet ihnen an, und wenn sie mitten in der Nacht eine Filmszene drehen, so geschieht dies mit der gleichen Verbissenheit, mit der einer der Dorfmusiker noch spät in der Nacht in seine Trompete bläst, weil er nachsitzen muss. Aller Schwere zum Trotz wirken sie dennoch witzig in der treffenden Überspitzung verschrobener schweizerischer Charaktere.

Da Zschokke von Literatur und Theater her kommt, wird sein Film zu einem eigenwillig versponnenen Seh- und Hörvergnügen. Glänzend sind die Dialoge, pointiert die einzelnen Szenen, die vor allem von Dieter Laser und Ingrid Kaiser eindrücklich interpretiert werden.

Valérie Périllard
ist Volkskundlerin und Regieassistentin in Zürich.
(Stand: 2019)
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