VALÉRIE PÉRILLARD

LA MÉRIDIENNE (JEAN-FRANÇOIS AMIGUET)

SELECTION CINEMA

„Parier c’est mentir“, so Jean-François Amiguet zu seinem neuen Film La méridienne. Wie könnten denn auch seine Hauptfiguren Marthe, Marie und François die Wahrheit sagen, wo sie sich ihrer doch gar nicht bewusst sind? Im Agieren aber setzen sie Zeichen, Hinweise auf unausgesprochene Sehnsüchte und diffus wahrgenommene Selbsttäuschungen. Der Raum dazu ist beschränkt, konzentriert sich vorwiegend auf die herrschaftliche französische Villa, wo die beiden Schwestern Marie und Marthe seit zehn Jahren mit François leben.

Benannt sind Villa und Film symbolträchtig Méridienne1. Die „méridienne“, das ist das Mittagsschläfchen in mediterranen Gegenden, das Dösen, in dem Träume und äussere Reize sich vermischen und nach Klarheit nicht gefragt wird. Die „méridienne“ ist aber auch die einladende Ottomane auf der Terrasse, die in den schattigen, leicht verwilderten Garten geht.

In der Ottomane verbringt Marie ihr Leben, träumt und wartet. Taucht François wie ein Wirbelwind auf, küsst er sie liebevoll, gesellt sich Marthe hinzu, springt er auf, diese zu küssen. Hinter der zärtlichen Verbundenheit des Trios steckt mehr als geschwisterliche Zuneigung, in jeder Geste, in jedem Blick ist erotisches Spiel spürbar. Wie ein heiteres Gesellschaftsspiel mutet denn auch die Geschichte um die trügerische Suche nach grossen Gefühlen an.

Sexualität sucht François ausserhalb des Hauses in flüchtigen Beziehungen. Da beschliesst er eines Tages, sein Leben zu ändern, und das heisst in seinem Fall, innerhalb Monatsfrist zu heiraten. Marthe und Marie begegnen dem Plan mit gemischten Gefühlen. Marthe fährt vorerst einmal weg, an einen Kongress. Um herauszufinden, ob man geliebt wird, sei das sicherste Mittel, weg zu gehen. Marie hingegen liegt weiterhin lasziv in ihrer Ottomane, spielt gedankenverloren mit dem für sie zu grossen Ehering, der für die Zukünftige von François bestimmt ist. Unterbrochen werden ihre Träumereien durch die Besuche des Detektivs, den sie im Auftrag François’ engagiert hat. Er, der nichts über sich weiss, hofft durch die Rap porte eines permanenten Beobachters einen Hinweis auf die richtige Frau zu finden. Der Plan scheitert, die Frauen geniessen François’ Charme und Frische. Doch ob adoleszent oder im reifen Alter, heiraten wollen sie ihn nicht. Als es François schliesslich bei den beiden Schwestern versucht, weisen sie ihn ab. Die Zeit des unbefangenen Zusammenlebens zu dritt, wo alles möglich schien, weil nichts bis aufs Letzte gelebt wurde, ist nun abgeschlossen. Marie heiratet den Detektiv.

Den schwebenden Gefühlen der Protagonistinnen steht die konsequent durchstrukturierte und stilisierte Inszenierung entgegen, die an Eric Rohmers Comédies et proverbes erinnert. Amiguet ist mit seiner stringenten Umsetzung ein poetischer Film gelungen, der weniger von der Story lebt als von sonnendurchfluteten, atmosphärischen Bildern, Bilder der „Méridienne“ eben.

Valérie Périllard
ist Volkskundlerin und Regieassistentin in Zürich.
(Stand: 2019)
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