Zwei Provinzen Auf den ersten Blick scheinen die Mottos der zwei ersten Nummern des neuen «CINEMA» etwas miteinander zu schaffen zu haben. 1969 notierte Tanner: «Unsere Strassen, Häuser, Mitbürger werden jetzt gesehene, beobachtete und kommentierte Grössen... Lange Zeit haben wir geschwiegen. Jetzt beginnen wir zu reden, und unsere Mundart ist wahrscheinlich nicht schlechter als andere. Wir reden also. Wir reden mit Euch.» 1973 sagte Fellini: «Meine Provinz kann auf jeden beliebigen Punkt der Landkarte liegen.» Bei näherer Betrachtung werden die Unterschiede evident: In Tanners Formulierung schwingt das Aufbegehren eines Mannes, einer Provinz, einer Heimat mit, die nicht angehört worden sind. Sie liegt nahe bei dem Manifest, dass Godard (der Exilschweizer) im Zusammenhang mit La Chinoise formuliert hat: «50 Jahre nach der Oktoberrevolution herrscht der amerikanische Film über den Film der ganzen Welt. Dieser Tatsache ist nicht viel beizufügen. Ausser, dass auf unserer bescheidenen Stufe auch wir zwei oder drei Vietnams schaffen müssen inmitten des ungeheuren Imperiums Hollywood-Cinecittà-Mosfilms-Pinewood usf. und sowohl ökonomisch wie auch ästhetisch, das heisst auf zwei Fronten kämpfend, freie nationale Kinematographien schaffen müssen, Brüder, Genossen, Freunde.» Später hat Volker Schlöndorff gesagt, es sei an der Zeit und für den Film überhaupt unerlässlich, provinzielle Kinematographien zu schaffen; auf ihn hat sich Alain Tanner verschiedentlich berufen. Fellinis Provinz ist «metaphysischer Art»; sie kann sich überall befinden, denn sie ist eine «Provinz der Seele». Fellini stellt sie fest und gehört ihr an: mindestens ist er fasziniert. Provinz heisst bei ihm Rückständigkeit, und diese Rückständigkeit trifft man in Italien an, «wenn man sich aus dem gewissen Kreis der hunderttausend Personen herausbegibt, die sich alle mehr oder weniger untereinander kennen, einen Zug nimmt, den man sonst nie benutzt, einen Wagen zweiter Klasse besteigt und die Reden anhört, die dort die Leute miteinander führen.» Haben sich die beiden Mottos wieder genähert? Es macht fast den Anschein. Doch die Filme aus der schweizerischen Provinz und Fellinis Filme trennen Welten. Roma und Amarcord sind grandiose visuelle Feste, und schon ihr Aufwand und ihre weltweite Publicity lassen argwöhnen, dass die Provinz der Seele in ihnen mehr gefeiert als kritisiert wird. Unsere Filme sind bescheiden. Vielen scheinen sie sogar verkrampft. Sie sind es oft, weil sie immer eine aufklärerische Mission zu erfüllen haben, weil sie die Provinz der Seele öffnen sollen. So vergessen wir in dieser Nummer von «CINEMA» neben Amarcord, der wie der Ozenriese «Rex» an uns vorbeirauscht uns selbst nicht. Dieses Heft ist keine Ovation an Amarcord, sondern ein Versuch, einem Phänomen kritisch gerecht zu werden. Martin Schaub

CINEMA #20/2
FELLINI: AMARCORD