PIERRE LACHAT

DIE RÜCKKEHR DES VERRÜCKTEN — ZUMEIST PROVISORISCHE ANMERKUNGEN ZU ARMAND SCHULTHESS — ‘J’AI LE TÉLÉPHONE’ VON HANS-ULRICH SCHLUMPF

CH-FENSTER

Hans-Ulrich Schlumpfs Film über, genauer: zu jenem am 19. Februar 1901 in Neuenburg geborenen und am 29. September 1972 in Äressio bei Locarno gestorbenen Alfred Fernand Armand Schulthess zeichnet sich durch keine besondere kreative Dimension und Machart aus, muss denn auch nicht etwas als ein Produkt der Kunst oder Journalistik genommen und gewürdigt werden, sondern als ein kinematographischer Gegenstand, der wie ein Zufall in die Welt gekommen ist. Er spiegelt nicht, wie der Dokumentarfilm im landläufigen Sinn, Fakten Wider, dokumentiert nicht, sondern ist ein Dokument, ein Faktum, das sich den beschriebenen Fakten anschliesst, sich ihnen einverleibt, sich ihnen zurechnet und ihnen zuzurechnen ist. Vom ersten Augenblick seines Entstehens an war der Film schon ein unabdingbares primäres Schulthessianum, ein Teii also des wenigen Materials, das der Nachweit noch vom Sein und Tun des Armand Schulthess berichten würde. Ein seltener Glücksfall des Non-Fiction-Films, des Mediums, das als wirkliche Erinnerungsdeponie funktioniert, die Vergangenheit nicht nur beschreibt, sondern überhaupt erst aufbewahrt. Nicht zu vergleichen mit einer alten Wochenschau, die vom Gehaben Verstorbener allenfalls ein Bild liefert und bei Verlust durch Informationen aus andern Medien zu ersetzen wäre. Schulthess ist von Schlumpf nicht porträtiert, sondern recht eigentlich am Leben erhalten worden. Was da gefilmt wurde, war nie öffentlich, war sogar das Gegenteil von öffentlich, etwas, das Schulthess für sich behielt und das von denen, die ihn überlebt haben, verramscht, aus Bewusstsein, Erinnerung und Gebrauch entfernt worden ist. So würde es sich nämlich mit Schulthess heute verhalten, ginge Schlumpfs Film jetzt verloren, oder wäre er nie gemacht worden: als ob es den Mann nicht gegeben hätte, als ob mit seinem Nachlass er selbst der Müllabfuhr übergeben worden wäre.

Mit einer Scheu und einem Respekt, die an Berührungsangst grenzen, hat Schlumpf die Fakten in keinem Augenblick zu forcieren versucht, sie additiv, undidaktisch, mit keinem Endzweck aneinandergereiht. Nur eins geht als Idee aus dem hervor, was da schmucklos dargetan wird: dass Schulthess allein war, in monumentaler, neurotischer Lebensuntüchtigkeit die Kommunikation scheute und vorgab, sie zu suchen. Diese Vorstellung herauszuarbeiten, war notwendig, weil ohne sie die Einmaligkeit, mehr noch: die Daseinsberechtigung des Films nicht zu erklären gewesen wäre. Er musste zuerst und vor allen Dingen Nachricht sein, auch unvollständige, und gewissermassen etwas von dem nachholen, was Schulthess selbst zeit seines Lebens versäumt hatte, wozu er nicht imstande gewesen war, was er am Ende gewollt und doch wieder nicht gewollt hatte: dass man von ihm wisse. Das Telephon, das Schlumpf im Untertitel seines Films zu Recht herausstreicht, dürfte die Beziehung andeuten, die Schulthess zur Aussenwelt vielleicht gesucht hat. Dieses Medium erlaubt es einem ja, mit den Leuten zu verkehren, auf Distanz.

Es gibt nur zwei Arten, über Schlumpfs Film zu schreiben, und beide sind wiederum nur Arten, über Schulthess zu schreiben, so vollkommen «durchlässig» ist der Film, so sehr fehlen die Möglichkeiten des Vergleichs, des Herbeiziehens von etwas Drittem. Man könnte das Faktische wiederholen, das hiesse, den Film im Protokollauszug abdrucken, und es wäre Neuigkeit genug, hätte nicht Schrumpf das selbst schon im Tages-Anzeiger-Magazin getan. Oder man kann das tun, was Schlumpf hat unterlassen wollen oder müssen: Schulthess, sein Tun und Denken, interpretieren, versuchen, das Ungewohnte, Beunruhigende, Tabuartige auf bekannte, vertraute Kategorien zurückzuführen, im Bewusstsein, dass derlei Reduktionen auf den platten «Common sense» immer etwas schäbig und prosaisch wirken, gern den Anschein erwecken, als würde die Welt mit billigen Mitteln wieder ins banale Lot gebracht. Es muss daher gesagt sein, dass im Folgenden das, was ich als das Bürgerliche und Neurotische in der Welt des Armand Schulthess betrachte, nicht als solches denunziert, sondern verstanden werden soll. Und vor allem ist noch der Vorbehalt anzubringen, dass dieser Versuch zu verstehen und zu deuten provisorisch ist und wacklig ausfallen muss wie selten ein anderer in der Arbeit des Filmkritikers.

Schulthess wollte alles erfahren, kennenlernen, studieren, wissen, ordnen, deuten, und es kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, wie buchstäblich das Wort zu nehmen ist. Totalität des Denkens: Es gibt keine Abstraktion, keine bewusste, reflektierte, lebensnotwendige Einteilung der Welt in Haupt- und Nebensachen, in Interessantes und Langweiliges, keine Bescheidung was die eigene Erkenntnisfähigkeit betrifft. Zum Sinn des Daseins wird nicht dieses selbst, sondern das restlose Vereinnehmen der Welt, die am Ende nicht mehr als solche, als Ort des Lebens von Belang ist, sondern nur insofern, als sie Schulthess Information liefert, sein Wissen bereichert.

Was er zusammentrug, ordnete Schulthess der Natur gemäss. Auf sichtbare, augenfällige Weise, denn er trug es in die Natur hinaus. Rückführung aufs Natürliche, dieses säkularisierte Gottgewollte, als bürgerliche, konservative Zwangs-Vorstellung par excellence. Was von der grossen Mutter, die ewiglich wahret, eingerichtet worden ist, soll nicht nur von den Menschen nicht umgekrempelt werden, sie können es gar nicht verändern. Denn was da biologisch gewachsen ist, hat sich nicht etwa wahllos entwickelt, sondern drückt im kleinsten wie hu grössten eine umfassende Ordnung und Harmonie aus, die der Mensch sehr wohl, allerdings nur mit grösster Anstrengung und Ausdauer, rekonstruieren kann, jedoch auf keinen Fall korrigieren. Schulthess’ System von Gartenwegen und Schrifttafeln sollte diese biologisch kohärente Harmonie widerspiegeln. Nichts ist dem bürgerlichen Geist ein grösserer Greuel als Unordnung, Anarchie, nichts ist ihm schrecklicher als die Vorstellung, das Prinzip der Natur könnte der blinde, unberechenbare Zufall sein- Daher stets die Zuflucht, die am Ende bei Mystifikationen und Geheimwissenschaften genommen wird, denn sie verwandeln, zumindest im Reich der Einbildung, das Chaos der Welt doch noch in eine Harmonie. Bei Schulthess war’s die Sterndeuterei, die ja eine doppelt tröstliche Funktion hat: Sie führt das vorherbestimmte Schicksal wieder ein und zaubert, indem sie das reale Bild des Kosmos durch ein symbolisches ersetzt, die Angst vor der Riesigkeit des Weltraums weg, die Angst auch, der Planet Erde könnte nur einer in einer sehr grossen Zahl yon sehr ähnlichen Himmelskörpern mit sehr ähnlicher Fauna und Flora sein. So übercascht es denn auch nicht, in Schulthess’ System dieses zu entdecken: Es fehlt offenbar das Studium des Marxismus als des wichtigsten Nährbodens des modernen Denkens, der auf ein abstraktes Verstehen der Welt weniges, auf die konkrete Herstellung ihrer Bewohnbarkeit für den Menschen vieles gibt und demzufolge der traditionelle Schrecken des akademischen Schriftgelehrtentums ist. Schulthess kannte, anders gesagt, keinerlei Praxis; die sogennant wertfreie, «reine» Wissenschaft kristallisierte sich bei ihm in neurotischer, radikal weitabgewandter Zuspitzung.

So sehr der Film als solcher äusserlich das Resultat eines glücklichen Zufalls ist, so wenig zufällig dürfte Schlumpfs inneres Interesse an einer Figur wie Schulthess sein. In ihm ist leicht eines der Königsmotive des schweizerischen Filmschaffens wiederzuerkennen: der «Verrückte».

Armand Schulthess — ‘J’ai le téléphone’. Premiere: Solothurner Filmtage 1974. Produktion: Hans-Ulrich Schlumpf, EDI, SRG, Pro Helvetia. Ein Film von Hans-Ulrich Schlumpf. Kamera und Trick: Kurt Aeschbacher. Texte von Armand Schulthess gesprochen vpn Arnold Kubier. Musik und Ansage, gespielt und auf Wachsplatten aufgenommen von Armand Schulthess. Einleitung und Kommentar von Hans-Ulrich Schlumpf gesprochen von Urs Bihler. Übersetzungen gesprochen von Karen Meffert. Zitate gesprochen von Peter Kner. Mit Ausschnitten aus Gesprächen mit Dorfbewohnern von Aressio und ehemaligen Arbeitskollegen in der Bundesverwaltung in Bern. Verleih: Film-pool. 16 mm. 550 Meter/55 Minuten. Farbe.

LE RETOUR DU FOU

Armand Schulthess — ‘J’ai le téléphone’ de Hans-Ulrich Schlumpf est vu par Pierre Lachat comme film documentaire (plutôt: «non-fiction») exceptionnel, le cinéma étant devenu, dans ce cas, un véritable dépôt de la mémoire humaine. Schulthess, dans le film, n’est pas portraitisé, mais sauvé de l’oubli. Proyisoirement et sans volonté, de dénigrement, l’article interprète comme «bourgeoises» (au sens largej la manière de vivre et la pensée de Schulthess, anälyse que Schlumpf lui-même n’a pas voulu ou na pas pu entreprendre. Schulthess renvoie à une constante du cinéma suisse (tout entier, mais romand avant tout): au «fou» tel qu’il est apparu dans les films de Tanner, Goretta, Marti et Butler.

Pierre Lachat
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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