WOLFRAM KNORR

FELLINI UND DIE COMICS

ESSAY

WHOOM! CRASH! BOING! Und die schöne Nackte mit dem ausladendfülligen Hintern saust auf einer Rutschbahn direkt von ihrer knallgelben Muschel-Liegestatt hinunter in einen ornamentalen Swimming-Pool. SMASH! PLATSCH! Diese Szene wirkt mit ihren verrückt-dekadenten Details, ihrer Übertriebenheit und Phantastik, als wäre sie den Comics Bringing up Fathe oder Blondie entnommen, doch tatsächlich stammt sie aus Federico Fellinis Film Julia und die Geister.

Der dürre Kerl mit der Glatze, dem Haarbüschelchen am Nacken, der Tomatendose auf dem Kopf und der karierten, giftgrünen Jacke, dieser unfreiwillige Clown mit dem charakteristisch-breiten, weinerlichen Mund und der runden Nase, der mit langem Spazierstock durch den Bergschnee stapft und — weil er die dicke Zigarre eines vornehmen Herrn bewundert — diesem aus Versehen seinen Stock ins Gesicht knallt, könnte ebenfalls aus Fellinis Fundus sein, aus den «Clowns», ist jedoch der Held des Zeichners Frederick Burr Opper, dessen Strip «Happy Hooligan» weltberühmt wurde und sogar Charlie Chaplin beeinflusste.

Man könnte das beziehungsvolle Wechselspiel zwischen Comics und Fellini-Filmen fortsetzen und landete zwangsläufig bei Guiletta Masina, Heldin vieler Fellini-Filme, die schon äusserlich mit einer Comic-Figur mehr Ähnlichkeit hat als mit einer Filmschauspielerin: runder Kopf, blonde Fransenfigur, Knopfaugen mit Wimpern darüber, die stark und gerade sind wie die Stäbe eines Eisengitters — so sieht «Blondie» aus, jenes hohlköpfige Ding, das nach der Heirat dit «Dagwood Bumstead» mit viel Schläue die Hosen der ehelichen Gewalt überstreift.

Fellini und die Comic Strips, das sieht nach einer arg konstruierten Verbindung aus oder nach einem Gemeinplatz, denn schliesslich sind die beiden Medien ohnehin miteinander verwandt und haben sich immer wechselseitig beeinflusst. Nicht wenige Filmemacher benutzen Anregungen aus den Bilderstreifen für ihre Filme und berufen sich auch gerne darauf (so Alain Resnais, Jean-Luc Godard, François Truffaut, Philippe de Broca und Edouard Molinaro), aber nur einer hat sich wirklich intensiv damit auseinandergesetzt und sie in seine Filme voll bewusst integriert: Federico Fellini. Betrachtet man sich seine Geschichte, ist dies nicht mehr verwunderlich, denn seine Karriere begann er als Szenarist für Comics Strips.

Als Schüler korrigierte er Druckfahnen humoristischer Zeitschriften und arbeitete an Erzählungen für Bildergeschichten. Als der Verlag Narbini, der Reihen wie Mandrake, Jim, der Dschungelboy und Flash Gordon herausgab, von den Faschisten gezwungen wurde, die amerikanischen Serien, wenn, dann nur von italienischen Zeichnern und Textern fortzuführen, durfte der junge Fellini «Flashs» Abenteuer nach seinen Vorstellungen weiterentwickeln. In einem Interview, das er vor Jahren mit Mitarbeitern der «Cahiers du cinéma» führte, antwortete er auf die Frage, ob es denn nicht schwierig gewesen sei, sich in die Logik und Phantastik des Amerikaners Alex Raymond hineinzudenken

Ich besass damals die Arglosigkeit und den Enthusiasmus eines Achtzehnjährigen. In diesem Alter stellt man sich solche Fragen nicht. Ich kannte alle Figuren in- und auswendig, den Planeten MONGO und seinen Kaiser MING. Ich wusste intuitiv, welche Abenteuer Guy L’Eclair (hier ist Flash Gordon gemeint) und seinen Gefährten zustossen konnten. Ich hatte auch nicht das Gefühl zu arbeiten, vielmehr machte es mir Spass, für den Zeichner immer tollere Verwicklungen zu erfinden. Ich wusste noch nicht, was ein Drehbuch ist. Ich erfand eine Geschichte, schrieb die Dialoge und verteilte sie auf die acht oder zwölf Bilder je Tafel.

Später baute er — vor allem in Julia und die Geister — Dekors und Interieurs direkt aus Comics nach, vor allem aus den Bildergeschichten des «Corriere dei Piccoli». Sein Satyricon beginnt wie «Flash Gordon» und seine «Clowns» wie «Linie Nemo in Slumberland». Immer wieder einmal verriet er in Interviews und Gesprächen, dass er am liebsten «Mandrake», «Phantom» und «Flash Gordon» direkt verfilmen wollte, doch diese äusserst schwierigen Projekte steckte er jedes Mal zurück. Dafür leben seine Filme immer massiver vom hypnotischen Zauber, der mannequinhaften Feierlichkeit und der barocken Fülle der Comics. Man denke nur an die Szene des Guido Anselmi aus «Achteinhalb», der aus dem Gefängnis seines Wagens auszubrechen versucht, die monadische Zelle verlässt und schliesslich durch die Wolken schwebt. Ein Bild wie aus Mandrake. Unten, am Meeresstrand, die Personen der Filmproduktion, über ihnen der schwarze Drache Anselmi. Nur durch den Drehbuchautor, einem quasselnden Intellektuellen, wird er wieder, mit Hilfe eines Stricks, in die Realität zurückgeholt.

Bei Fellini wird alles, selbst die Aussenwelt, zur «Innenarchitektur», zum monströsen Lusthaus, zum Alp- und Wunschtraum einer magischen Innenwelt, die aus ornamentalem Interieur und bacchantischer Bildfülle besteht. Kaum eine Szene gibt es da, die nicht den merkwürdig stilisierten Reiz alter Comics besässe. So wie in den Comics die Farbe eine erzählende und dynamische Funktion hat — weshalb es egal ist, ob der Hintergrund einer Figur plötzlich knallrot ist, wenn die Farbe nur die Wut oder Scham der Figur optisch zum Ausdruck bringt — so dient sie auch Fellini der Modifizierung des Erzählflusses und der Stimmungs-Situation.

Wenn Julia und die Geister mit knalligen, poppigen Farben beginnt, so wollen sie Wirklichkeit nicht aussparen, sondern private Gesichter künstlerisch objektivieren. Fellini will, wie Lee Falk («Phantom»), kein Abbild der Realität (was ihn ohnehin nie interessierte), sondern ein Sinnbild der Realität.

Das «Pictographische» der Comics, jenen Webrahmen aus Perspektive, Farbe, Zeichenstil und Wortblasen, setzt er um in seine visionären Bilder, die wie Metamorphosen wirken. Sein jüngster Film Amarcord ist voll davon. So sind etwa die Schulszenen in ihren kühnen Ellipsen von der bösen Komik der Katzenjammer Kids und Little Orphan Annie; die Bilder sind manchmal fast deckungsgleich. Wenn die Schüler ihren seltsamen Geistertanz vor dem Hotel aufführen oder der kleine Junge dem weissen Ochsen im Nebel begegnet, so erinnern die Bilder bis in Details an die Traumszenen aus Little Nemo, jenem kühnen Strip von Winsor McCay, der um seinen träumenden Helden eine radebrechende Gesellschaft aus bösen Buben (die manchmal wie alte Männer aussehen), Strolchen und surrealen Tieren baute. Auch die Fahrt des Ozeanriesen, der in einer Nacht an den Provinzlern vorbeirauscht, gibt es in ähnlicher Form im «Little Nemo».

Nichts ist denn auch falscher als Fellini vorzuwerfen, er könne keine Geschichte erzählen, jeder seiner Filme zerfalle in Episoden, die er bloss, mehr wahllos als zwingend, aneinanderreihe. Gerade der Episoden-Charakter macht aber deutlich, was Fellini letzten Endes will: Bilder erfinden, die für sich erzählen. Es sind Bilder, die einem zuteilwerden lassen, was man vielleicht früher, vielleicht noch nie gekannt hat, ein intensivstes Erleben mit den Augen. Mitten in einer Welt, die Bilder fast nur noch als Signale kennt, auf die man reagiert wie Pawlows Hund auf Klingelzeichen, mitten in dieser Welt macht Fellini Filme, die keineswegs etwa der Kulturindustrie dank besonders geschickter Manöver durch die Maschen schlüpfen. Vielmehr, weil er die naiven Comics benutzt, die noch keine finnische Erzähl- und Bildstruktur besitzen.

Die Comics, die der kinematographischen Technik zu nahekommen, gefallen mir weniger, sie sind am wenigsten künstlerisch. Gefühlsmässig waren mir die sehr einfachen, linearen Comic Strips immer näher, die fast ausschliesslich humoristisch sind. Von denen allerdings hat der Film viel übernommen. Gewisse, auf amerikanische Verhältnisse abgestimmte Dekors von Chaplin sind wirklich Georg Mac Manus entliehen. (Fellini)

Diese alten Comics waren noch darauf angewiesen (bei den modernen wird mit raffinierten Perspektiven gearbeitet), Vorstellungen (der Erzählung) mit der Wahrnehmung zu verbinden. Wahrnehmungsraum und Vorstellungsraum waren identisch. Darum die Pointierung und phantastische Wucherung der Zeichnungen, der Hang zur masslosen Übertreibung und magischen Utopie. Die scheinbar hemmungslose Verwendung der Farbe erhöhte schliesslich das Kurvige oder Florale oder Geblähte der Strips zum Toll-Barocken.

Dass sich Fellini von diesen, lange brachliegenden. Schätzen Anregungen und Einflüsse holte, ist nur zu verständlich. Amarcord scheint die Summe seiner langjährigen «Bild-Erfahrung» zu sein, denn höchstens vielleicht noch in Roma, arbeitete er mit so weiträumigen Dekors, durch Farbe und Licht imaginierte Räume, in denen sich zugleich üppig, seltsam, verführerisch und grotesk aufgeputzte und kostümierte Gestalten produzieren und in Szene setzen.

Würde man einzelne Bilder charakterisieren, so würden unwillkürlich Adjektive auftauchen wie bizarr, märchenhaft, barock, orientalisch, jugendstilhaft. Vielleicht noch treffendere. Doch alle zeigen, wie besetzt jene Begriffe sind, weil sich mit ihnen reflexartig jene Assoziationen einstellen, von derem «freundlichen Terror» Fellinis Bilder nichts wissen.

Sie sind weder geschmackvoll, noch geschmacklos; sie sind — wie die naiven Comics — von jenem zauberhaften «Überschuss an Ausdruck», der über den Ausstellungswert, den alles Sichtbare hat, hinausreicht und transzendiert.

Der Schnee in der Kleinstadt, der sich zu riesigen Paketen türmt, die abendlichen Strassen in ihrer seltsamen Künstlichkeit und selbst die zwergenhafte Nonne, die den Verrückten vom Baum holt, diese und andere Bilder, sind nicht bloss ästhetisch originelle Einfälle, sondern mehrdeutig Stimmungshaftes wie sie in den Strichen grosser Comic-Künstler so unnachahmbar zum Ausdruck kommen. So hat Georg Mac Manus in seinem Bringing up Father nicht nur den damals modischen Jugendstil verwendet, sondern ihn auch (wie Fellini in Achteinhalb) psychologisch motiviert.

Wie bei den Comics verschwinden Bilder — Eindrücke —, um sofort neuen Platz zu machen. Niemals wird der Strom der Verwandlungen unterbrochen, die weniger innerhalb einer Handlung motiviert sind, als durch die Bedeutung, die sie als rhythmische und assoziative Elemente produzieren. Fellini liebt lange Einstellungen, in denen Verschiedenstes zugleich erscheint, mehrere Personen Gänge ausführen, die Kamera durch ihre Bewegung die Szenerie verwandelt. Szenische Improvisationen folgen einander so, dass eine durch die andere inspiriert und verändert erscheint. Diese Folge lässt schwerelos und auch komisch werden, was sich, einzeln betrachtet, bisweilen monströs ausnähme. Sie hebt das Monströse nicht auf, sondern verwandelt es in Spiel.

Das ist wohl auch der Grund, weshalb Fellini zwar seinen Film Einstellung für Einstellung im Voraus nicht skizziert, dafür aber die Kostüme und Typen genau festlegt.

Gerade weil er mit den Comics wie kein anderer arbeitet, wäre interessant, wenn er einmal verwirklichen würde, was er sich immer wünscht: «Flash Gordon», «Mandrake» und «Phantom» zu verfilmen. «Das wäre ideal. Dann wäre mein Gewissen erleichtert... ich wäre der glücklichste aller Menschen.» Fellinis Filme sollte man mit der gleichen optischen Naivität betrachten wie die Comics.

FELLINI ET LES BANDES DESSINES

Quand Sandra Milo (dans Juliette et les esprits) glisse sur un tobogan de son lit dans une piscine, cette scène extravagante et fantastique semble sortir directement des bandes dessinées. Et l’on pourrait multiplier les exemples de ce genre.

Fellini est effectivement très influencé par les Comic strips et les a consciemment intégrés dans ses films. A 18 ans il réinventait les légendes des bandes dessinées américaines. Il aurait toujours aimé faire des films de «Mandrake», «Phantom» et «Flash Gordon».

Chez Fellini, peu de scènes n’ont pas la fascination stylisée des vieux Comics, tous ses décors servent à illustrer un monde intérieur magique. Il ne veut pas une représentation «objective» mais une représentation symbolique de la réalité. Ses images visionnaires retransmettent l’élément «pictographique» des Comics, ce sont des images qui parlent d’elles-mêmes et procurent un vécu visuel intensif. Fellini s’inspire des Comics naïfs et presque exclusivement humoristiques qui possèdent ce magique «surplus expressif».

Amarcord semble être la somme d’une longue «expérience de l’image»: Fellini n’avait jamais travaillé avec des décors si vastes, des espaces faits de lumière et de couleur dans lesquels se meuvent des personnages à la fois étranges, grotesques et fascinants. Il est difficile de décrire chacun des différents aspects de ce monde avec des mots.

Amarcord est un «fleuve» en mutation perpétuelle, mutation qui n’est pas motivée par l’action mais par la signification. Fellini aime les plans complexes; par ses mouvements la caméra transporte d’une scène à l’autre. Ce qui pourrait devenir monstrueux gagne, par cette technique, une légèreté et une gracilité comique. Il transforme ainsi le monstrueux en jeu.

Pour se garantir cette liberté d’improvisation dans des environnements décoratifs complexes, Fellini ne planifie pas plan par plan mais définit par contre très exactement les costumes et les types.

Wolfram Knorr
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(Stand: 2020)
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