SENTA VAN DE WEETERING

LIEBE UND ZUFALL (FREDI M. MURERFREDI M)

SELECTION CINEMA

Der Zufall und der Film – das ist eine langjährige Hassliebe. Ohne Eingriffe des Zufalls in die Handlung wäre die Filmgeschichte um viele Werke ärmer. Eine Überdosis Zufall hingegen macht skeptisch, und dies umso mehr, je konventioneller ein Film erzählt ist. So ist es ein geschickter Kniff, dass Fredi M. Murers neues Werk den Zufall gleich in den Titel nimmt. Er wird damit als gegeben vorausgesetzt, über fehlende Glaubwürdigkeit braucht man sich nicht mehr aufzuhalten. Und das ist gut so, denn es gibt anderes, das in Liebe und Zufall wesentlich ist.

Im Zentrum steht die Beziehung des Ehepaares Elise (Sibylle Brunner) und Paul (Werner Rehm). Nicht gerade sympathisch erscheinen einem die beiden in ihrer Zürichberg-Villa zu Beginn. Snobistisch, ihrer italienischen Haushälterin Angela gegenüber fordernd und we­nig interessiert, ihre Beziehung scheint verbraucht, die titelgebende Liebe ziemlich abgenützt. Der ebenfalls titelgebende Zufall bringt nun eine Handlung ins Rollen, die das Paar selbst, aber auch unsere Wahrnehmung der beiden verändert: Der Schauspieler Enrique (Ueli Bichsel, seines Zeichens Theaterschauspieler, hier in seiner ersten Filmrolle) castet im Einkaufszentrum Angela (Silvana Gargiulo, die brillante Bühnenpartnerin von Ueli Bichsel) für sein neues, erst im Entstehen begriffenes Theaterstück. Später entpuppt sich der Schauspieler dann als lebenslang verschwiegener Sohn von Elise. Das Zusammentreffen der Umstände treibt nicht nur das Geschehen voran, sondern verschiebt vor allem Stück um Stück die in Routine festgefahrene Beziehung des Paares, erzwingt Gespräche, denen beide vorher ausgewichen sind, und bringt sie dazu, ihre gemeinsame Vergangenheit wie auch ihre Zukunft zu überdenken.

Virtuos zeigt sich Altmeister Murer nicht nur darin, eine fünfzigjährige Beziehung zu durchleuchten – wofür er auf herzlich wenige Vorbilder zurückgreifen kann –, sondern auch im Umgang mit den unterschiedlichen Muttersprachen der Schauspieler, vor allem der beiden Frauen. Elsie redet mit ihrem deutschen Mann meist Deutsch, rutscht jedoch ab und zu auch in Zweiergesprächen nahtlos ins Schweizerdeutsche, das sie mit allen anderen redet. Und Angela spricht fast nur Italienisch, so oft als möglich, ohne dass es übersetzt wird.

Bemerkenswert ist auch die Geschichte hinter dem Film: Er ist inspiriert von vier Romanen und den Lebenserinnerungen von Fredi M. Murers Mutter, die sie im Alter von 70 bis 80 Jahren aufzeichnete. Einer der Romane trägt den Titel «Liebe und Zufall». Fredi M. Murer, einstmals Experimentalfilmer und professionelles Enfant terrible der Schweizer Filmszene, hat nun dank diesem familiären Anstoss einen wunderbar altmodischen Film über älter werdende und alte Menschen geschaf­fen, der dem Leben und seinen vertrackten Wendungen, aber auch der eigenen Altersmilde mit einem liebenswürdigen Augenzwinkern begegnet.

Senta Van de Weetering
Filmwissenschaftlerin und Germanistin. Arbeitete als Journalistin, Redaktorin, Moderatorin und Texterin. Heute arbeitet sie für die Unternehmenskommunikation der Hochschule Luzern und im Team der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur.
(Stand: 2020)
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