Film steht im Zeichen der Um- und Ver-Wandlung. Von Bild zu Bild entfaltet sich eine Geschichte, transformieren sich Figuren, Orte, Stimmungen, wechselt der Ton oder die Erzählweise. Der vielgestaltige Begriff der Verwandlung ist Thema der 61. Ausgabe des CINEMA-Jahrbuchs. Nepomuk Zettl etwa definiert in seinem Text «Zur Wandlung in der Wandlung» Verwandlung als den Übergang von einem Zustand in einen anderen. Dabei unterscheidet er zwei Charakteristika: Zum einen vollzieht sich die Verwandlung im chronologischen Verlauf, zum andern wird der Zustand im Verlauf durch einen anderen ersetzt. Charlie Kaufmans Figuren, um die es geht, zeichnen sich durch einen Doppelcharakter aus, manche scheitern aber beim Versuch, die andere ‹Person› zu werden. Ulrike Hanstein widmet sich dem Film Night Tide von Curtis Harrington (US 1961),. Im Mittelpunkt steht Mora, the Mermaid, ein mysteriöses Mischwesen, halb Frau, halb Fisch, das als geheimnisvolle «Sirene der Meerestiefe» eine mörderische Faszination auf den jungen Johnny ausübt. Night Tide zeigt mit Mora eine Sirenenfigur in stetiger Verwandlung, die Hanstein als Allegorie liest: für das unabsehbare und metamorphe Nachleben der frühen Filmavantgarde, im Fall von Night Tide in Form eines poetischen Horrorfilms. Auch in der fantastischen Welt der Harry Potter-Filmsaga scheint alles stetigem Wandel unterworfen zu sein. Aus all den instabilen Figuren und fluiden Identitäten, allen Gestaltwandlern und Mischwesen sticht jedoch Harry hervor, scheint er sich doch diesem Prinzip zu verweigern: Obwohl der Zauberlehrling «Transfiguration» als Schulfach belegt, bleibt er im Laufe der Geschichte nämlich im Grunde genommen derselbe kleine Junge. Doch was hat das zu bedeuten? Vera Cuntz-Leng geht dieser Frage in ihrem Essay mit einer queertheoretischen Lektüre der Filme nach. Und was passiert mit Figuren, die so tun, als ob sie an der Lebensweise ihres ‹Gastlandes› kein Interesse hätten und sich einzig zurück in die alte Heimat wünschen? Wenn es sich dabei um Spione handelt, wird das ziemlich anspruchsvoll, denn das Doppelleben ist anstrengend. Henry Taylor zeigt am Beispiel der amerikanischen TV-Serie The Americans die Wandlungen des Genres im Laufe der Zeit und deckt zugleich den Identitätskonflikt auf, in dem die Figuren als Agenten im kalten Krieg stecken (die Serie spielt in den 1960er Jahren), dauernd alle belügen zu müssen – vor allem sich selbst. Aber nicht allein auf inhaltlicher Ebene ist das Medium der Verwandlung unterworfen. Jede Generation kämpft um die eigene Form, sucht sich von den Vorgängern zu unterscheiden, geht neue Wege in der Produktion, im Vertrieb. Gerade im Moment stehen wir wieder mitten in grossen Umwandlungsprozessen. Bedenkt man den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm und nun vom analogen zum digitalen Kino oder 3D-Film, so vollzieht sich ein erneuter Quantensprung, der die ganze Kette, von der Produktion bis zur Rezeption, erfasst. Mit Letzterer befasst sich Sonja Kirschall. In einer Tour d’Horizon erkundet sie Transformationen auf narrativer und figurenbezogener Ebene, um sich dann der Bedeutung der Haut für den erzählerischen Prozess der Figurenentwicklung zu widmen. Das grösste menschliche Organ sollte im Film lange Zeit vor allem nicht wahrnehmbar sein, eine unsichtbare Oberfläche. Trat sie dennoch hervor, so wirkte sie entweder monströs oder lächerlich. An ausgewählten Filmbeispielen zeigt die Autorin, wie die Figurenwahrnehmung als subjektives «verwobenes Geflecht von sensorischer Eingebundensein» dargestellt ist. Die Inszenierung der Transformation, an der Peripherie von aussen nach innen, ist derart eindringlich, dass die rezeptive Erfahrung – im wahrsten Sinne – unter die Haut geht, die Zuschauer/-innen sensorisch erfasst und teilhaben lässt. Dieses Phänomen erläutert sie unter dem Begriff der «Sensomorphosen». Wirken Sensomorphosen, wie sie Kirschall beschreibt, unwillkürlich, evozieren Ekel, Abscheu bei gleichzeitiger Anziehung, so eröffnet nach Selina Hangartner die Verschiedenartigkeit der Rezeptionsprozesse gerade einen weiten Spielraum. Die Bedeutung entsteht in der Interaktion zwischen Werk und Rezipient. Susan Sontags Essay «Notes on Camp» liefert die Grundlage für einen Lektüremodus, wonach Filme – entgegen ihrer Intention – ironisch-affirmativ und ästhetisch rezipiert werden können. Mit dieser Haltung eröffnen Filme, vom Musical bis zum Trash-Film, vom Melodrama bis zum Softporno neue Erfahrungsebenen. Wurde Camp einst als subversive Erlebnisweise gedeutet, so ist es, wie Hangartner argumentiert, seit den 1990er «als stereotypisierte Ästhetik und postmoderne Parodie im Mainstream» angekommen. Auf ein Thema, das uns künftig noch mehr beschäftigen wird, weist Franziska Heller hin: Was geschieht mit den Filmen, die nicht mehr im Kino laufen? Zu Hunderttausenden lagern sie in Archiven und Kinematheken, in Schachteln und Regalen und sollten alle vor dem Zerfall bewahrt werden. Nur wie? Mit der Umwandlung von analogen Bildern in digitale Codes! Doch so einfach dieses Verfahren auf den Laien wirkt, so komplex ist es in der konkreten Ausführung. Heller zeigt an Beispielen, welche Fragen und wie viele Entscheide mit einer solchen Umwandlung einhergehen, die allesamt auf das Material zurückwirken und Ästhetik, die Lektüre und damit die Bedeutung verändern können. Ein besonderes Augenmerk richtet sich in der aktuellen Ausgabe auf das Schweizer Filmschaffen. So nimmt uns Matthias von Gunten im «Filmbrief» mit an die Festivals rund um den Globus, an denen sein Film gezeigt wurde, und lässt uns teilhaben an seinen Erfahrungen, wie ‹fremde› Menschen und Kulturen auf seinen Schweizer Film ThuleTuvalu (2014) reagieren. In der Rubrik «CH-Fenster» erzählen ein ehemaliger und die beiden aktuellen Geschäftsführer der Praesens Film im Interview, wie es das älteste Filmunternehmen der Schweiz geschafft hat, bis heute zu existieren. Auch da heisst die Losung ‹Verwandlung›, denn nur wer sich auf die laufenden Veränderungen einstellt, vermag zu überleben. Matthias Spohr bringt uns «Unerhörte Geschichte» näher; und gibt einen historischen Überblick über den Wandel der Schweizer Filmmusik. Dabei stellt er die nationale Entwicklung in Relation zu internationalen Strömungen und Musikstilen, die in die Filmmusik eingeflossen sind. Zugleich verweist er auf die Besonderheiten der schweizerischen Filmmusik – auch jenseits von typischen Bergklängen. Jean Perret stellt in seinem Essay das Oeuvre des schweizerisch-kanadischen Filmemachers Peter Mettler vor. Fasziniert von dessen Art zu filmen, zu erzählen, erkundet Perret die Poesie des Dokumentarischen, die unser «Auf-der-Welt-Sein», unser Dasein in eine neue Anordnung stellt. Mettler arbeite «ausgiebig mit der Verwandlung der Erzählzeit» als filmische Erfahrung. Den Übergang vom Kind zum Erwachsenen wollte die Filmemacherin Béatrice Bakhti einfangen. Dafür wählte sie 7 Jugendliche aus Yverdon les Bains aus, die sie von 2002 bis 2009 in Abständen begleitete und filmte. Doch lässt sich das Erwachsenwerden einfach so filmisch einfangen? Marian Petraitis arbeitet in seinem Essay heraus, wie sich die Filmemacherin in Romans d’ados (2010) auf die Adoleszenten einlässt und die Aufnahmeverfahren deren Bedürfnissen anpassen und verändern musste. Die Filme dokumentieren nicht nur einzelne Entwicklungsschritte vom Kind zum Erwachsenen. Sie antworten auch auf die Veränderungen, indem sie ihre Form und Ästhetik verändern. In den zusätzlichen Rubriken finden sich ein literarischer Beitrag des Schriftstellers Christoph Simon, das Bildessay «Changes» des schweizerisch-britischen Filmemachers und Künstlers Dustin Rees. Für die Momentaufnahmen konnten wir dieses Jahr fünf Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren gewinnen. Das CINEMA-Jahrbuch enthält wieder eine Auswahl der 2015 produzierten Schweizer Filme, in der Rubrik «Sélection» beleuchten 35 Beiträge das hiesige Filmschaffen. Zum Schluss möchte die Redaktion Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf eine Neuerung aufmerksam machen. Seit September 2015 hat CINEMA eine neue Website! Unter www.cinemabuch.ch finden Sie nicht nur Kritiken zu aktuellen Filmen, die in Schweizer Kinos laufen, sondern können in früheren Büchern stöbern. Wir haben die Ausgaben der letzten 12 Jahre neu erfasst und online zugänglich gemacht. Sei es nun zu Hause am Computer oder unterwegs mit Tablet oder Smartphone, es stehen Ihnen rund 170 Artikel, 70 Momentaufnahmen und 440 Filmkritiken zur Verfügung. Sie werden staunen, wie viele Trouvaillen Sie finden, welchen ‹berühmten› Autor/-innen, bekannten Filmemacher/-innen und Kunstschaffenden Sie begegnen werden. Damit wir die Texte weiterer Ausgaben zugänglich machen können, hat die Redaktion im Winter 2014/2015 eine Wemakeit-Kampagne lanciert. Das Echo war überwältigend, so dass die Aktion erfolgreich zustande kam. Allen unseren Spenderinnen und Spendern möchten wir hier unseren herzlichen Dank aussprechen. Dank ihnen wird es möglich sein, weitere Perlen der Schweizer Filmpublizistik zu entdecken. Wir wünschen all unseren Leser/-innen eine vergnügliche Lektüre! Für die Redaktion Anita Gertiser

CINEMA #61
VERWANDLUNG
EDITORIAL
ESSAY
MOMENTAUFNAHME
DAS LEBEN DER ANDEREN (FLORIAN HENCKEL VON DONNERSMARCK, DE 2006)
BIRDMAN OR (THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) (ALEJANDRO GONZÁLEZ IÑÁRRITU, USA 2014)
FILMBRIEF
SELECTION CINEMA
DORA ODER DIE SEXUELLEN NEUROSEN UNSERER ELTERN (STINA WERENFELS)