Film ist ohne Verwandlung nicht denkbar, schliesslich ist die Bewegung – und damit auch die Veränderung – den kinematografischen Bildern intrinsisch. Ob etwa wie im absoluten Film rhythmisch morphende Formen den Betrachter in ihren Bann ziehen, oder ob wie im klassisch narrativen Film eine Geschichte erzählt wird – der Film als solcher zeichnet sich dadurch aus, dass etwas passiert, sich etwas oder jemand wandelt. Im Zentrum des Films, so drängt sich die Formulierung auf, liegt die Verwandlung. Treffender allerdings liesse sich – vor dem Hintergrund verschiedener Überlegungen, die ich im Folgenden anstellen möchte – davon sprechen, dass filmische Verwandlung vor allem ein Phänomen der Peripherie ist.
Im konkreten Sinn bezeichnet der Begriff Verwandlung einen Gestaltwechsel, der die sichtbare Form eines Lebewesens oder eines unbelebten Objekts merklich verändert. Verwandlungen oder Metamorphosen im Film können als graduell, also über diverse Zwischenstufen ablaufend, erzählt werden oder als abrupte und übergangslose Transformationen überraschen. Dabei ist mindestens zwischen diegetischer und formaler Ebene zu unterscheiden: Einerseits lässt sich fragen, als was für eine Art der Transformation diese innerhalb der Diegese figuriert und wie sie plausibilisiert wird – erhält etwa ein «hässliches Entlein» eine Schönheitsbehandlung wie in den Makeover-Filmen von Now, Voyager (Irving Rapper, USA 1942) bis The Princess Diaries (Garry Marshall, USA 2001). Oder unterliegt eine Figur einer monströsen Metamorphose wie in den filmischen Adaptionen der Kurzgeschichte «The Fly» von George Langelaan? Ist bei einem Gestaltwandel Zauberei oder ein magischer Trank im Spiel, wie er Madeline Ashton in Death Becomes Her (Robert Zemeckis, USA 1992) Jugend und Schönheit zurückbringt, oder werden wir vielleicht lediglich Zeuge der Fantasie- oder Wahnvorstellung eines Protagonisten? Andererseits ist von Interesse, mit welchen filmischen Mitteln die Verwandlung umgesetzt und auf der Leinwand zur Anschauung gebracht wird, wie detailliert oder elliptisch sie dabei auf formaler Ebene gezeigt wird und wie genau sie technisch-ästhetisch – etwa durch Maske und Spezialeffekte oder digitale Bildbearbeitung – hervorgebracht und gerahmt wird.
Im Folgenden werde ich zunächst eine kleine Tour d’Horizon verschiedener Modelle filmischer Verwandlung vornehmen. Mittels der Frage nach ihrem metaphorischen und narrativen Potenzial und der Bedeutung der Haut für erzählerische Prozesse der Figurenentwicklung werde ich dann unter dem Begriff der «Sensomorphose» eine aktuell beobachtbare und etwas anders gelagerte Art der filmischen Metamorphose vorstellen.
Filmische Verwandlungen
Ob nun die plötzliche Konfrontation mit einem entscheidend anderen Nachher-Zustand einer Filmfigur den Zuschauer zu einem Abgleich von Vorher und Nachher und zu einem lustvollen Sinnieren über das ihm verwehrte Während einlädt, oder ob das fesselnde Element in der Zeugenschaft der Verwandlung selbst «in Echtzeit» liegt – beiden Modellen scheint eine mythische Faszinationskraft inhärent zu sein, die die Geschichte der Bewegtbildmedien vom ersten Tag an begleitet und diverse Wandlungsmodelle hervorgebracht hat, in denen sich ein Wandel der sichtbaren Gestalt(en) im Film mit dem Wandel der sichtbaren Gestalt des Films auf verschiedene Arten verbindet. Frühe Beispiele wären Méliès’ Stopptricks, die etwa eine unbelebte Büste zu einer wehrhaften jungen Frau transformieren (Le Magicien, F 1898), oder der Einsatz von Überblendungen, wie sie z. B. dem Maschinen-Menschen in Metropolis (Fritz Lang, D 1927) Marias Gestalt verleihen und im Feuer auch wieder nehmen (Abb. 1–2). Neueren Datums hingegen ist der «als signature effect bezeichnete ‹Tornado›, in welchem sich die Figur, wie sie im Alltag erscheint, in den magischen Phänotyp verwandelt»1 – zu sehen, etwa bei Stanley Ipkiss in The Mask (Chuck Russell, USA 1994). Während das Modell der ‹Transformation über Nacht›, das oft in body swap-Komödien zu finden ist, die Verwandlung elliptisch erzählt, werden schockierende Mutationen des menschlichen Körpers als Element des body horrors z. B. bei David Cronenberg durch Maske und Spezialeffekte detailreich ausgestellt. Digitale Bildbearbeitung schliesslich erlaubt sowohl solche Verwandlungen, die auf dem Modell von Verfall und Wiederaufbau basieren – so wird etwa die ursprüngliche Gestalt des Terminators T-1000 in Terminator 2: Judgment Day (James Cameron, USA/F 1991) durch Morphing und liquid effect erst zu einer Art kleinstem gemeinsamen Nenner gebracht, aus dem heraus sich dann der neue Phänotyp entwickelt –, als auch die geradlinigeren und meist im Detail ausgestellten Transformationen gestaltwandelnder Figuren neuerer fantastischer, Science-Fiction- und Horrorfilme.
Eine diachronische Betrachtung solcher filmischen Transformationsmodelle zeigt erstens auf, dass die formalen Techniken ihrerseits Wandlungen unterliegen. So zeigt die Überblendung mittlerweile meist einen Zeitsprung an: Anstelle eines magischen, abrupten Wandels wie in Metropolis oder auch in vielen Filmen Melies’ erzählt die Überblendung etwa in La piel que habito (Pedro Almodóvar, E 2011) elliptisch von Vicentes operativer Umgestaltung zu Vera, indem ein Close-up von Vicentes Gesicht langsam in eines von Veras Gesicht übergeht und damit mehrere Jahre in der Diegese übersprungen werden. Ein anderes Beispiel wäre die Überblendung mit Welleneffekt, die etwa in der Episode «Jeannie’s Beauty Cream» der Serie I Dream of Jeannie (USA 1965–1970) die Transformation von Amanda Bellows Gesicht nach Benutzung der titelgebenden Hautcreme begleitet, aus heutiger Sicht aber, oft kombiniert mit einer sphärischen Sound-Markierung, hauptsächlich die Anzeige einer beginnenden Traumsequenz oder einer Rückblende konnotiert. Zweitens scheinen Transformationen von Figurenkörpern parallel zu neuen technischen Möglichkeiten, etwa Verbesserungen von Maske und Spezialeffekten oder digitaler Bildgenerierung und -bearbeitung, immer mehr auch tatsächlich am Figurenkörper selbst stattzufinden, als nur von einem Gestaltwandel des Films angedeutet zu werden. Die Oberfläche des Films scheint dabei in gleichem Masse transparenter zu werden, wie die sichtbare Hülle der Protagonisten immer mehr zum faszinierenden Spektakel der Verwandlung wird – und werden kann.
Metamorphose als Metapher
Doch wie steht es um das, was im Inneren vor sich geht? Ob es nun um Verschönerungen oder Verstümmelungen geht: Veränderungen der Haut und damit der sichtbaren Grenzfläche des Menschen, an der sich Individualität und Identität materialisieren, scheinen filmisch in den wenigsten Fällen von einer Aussage über psychisches Erleben und charakterliche Veränderungen der Betroffenen trennbar zu sein, denkt man etwa an den Wissenschaftler Seth Brundle in David Cronenbergs The Fly (CDN/USA 1986), der mit jedem Stück seiner verfallenden Haut auch menschliche Charakterzüge einbüsst, oder an Graf László Almásy in The English Patient (Anthony Minghella, USA/UK 1996), der im brennenden Flugzeugwrack zusammen mit seiner Haut auch grosse Teile seiner Erinnerung an die wichtigste Beziehung seines Lebens verliert und dessen verkrustet vernarbte, verkohlte und ihrer Sensibilität beraubte Haut, einem Panzer gleich, seine Isolation sowohl von der Aussenwelt als auch vom eigenen (Haut-)Ich auszudrücken scheint.2 Das metaphorische Potenzial äusserer Verwandlungen wird besonders deutlich an der narrativen Nutzbarmachung des der Zoologie entstammenden Metamorphosemodells der Verpuppung – nicht umsonst stellt die Motivik des Verpuppens, der Metamorphose und des Schlüpfens in neuer Gestalt einen narrativen Referenzpunkt vieler nicht fantastischer Geschichten dar, die sich um Verwandlung drehen. So verweisen die in den Mündern der Frauenleichen gefundenen Puppen des Totenkopfschwärmers in The Silence of the Lambs (Jonathan Demme, USA 1991) auf den Irrglauben des Serienmörders Buffalo Bill, durch das Anziehen der Haut seiner Opfer selbst eine weibliche Subjektivität zur Entfaltung bringen zu können. Auch Makeover-Formate spielen oft mit dem Motiv der Verpuppung; die Dokusoap Extrem schön – Endlich ein neues Leben (RTL II, seit 2009) etwa zeigt in ihrer Titelsequenz die Animation eines aus dem Kokon schlüpfenden Schmetterlings. Ähnliche Konnotationen von Verwandlung und Erneuerung trägt das – ebenfalls aus der Natur als Wachstumsmodell bekannte – Motiv der Häutung, dessen Bedeutung für die Vermittlung psychischer Verfassungen und Veränderungen von Figuren Claudia Benthien in ihrer umfassenden Untersuchung zur Haut nachweist.3
Die Rolle der Haut
Markus Stauff, der sich ebenfalls mit der Frage nach der Bedeutung der Haut – und speziell der Haut im Film – auseinandergesetzt hat, schreibt dazu in einem Artikel aus dem Jahr 2003, der Normalzustand der Haut im Film sei einer der Unauffälligkeit und Unsichtbarkeit; sie trete nur dann hervor, wenn sie zum Trägermaterial von Zeichen bestimmt werde, die stereotype Charaktere markieren – wie etwa die grosse, hässliche Narbe im Gesicht des rücksichtslosen Antagonisten. Selbst wenn die Haut geöffnet würde, wie etwa in den Terminator-Filmen, sei doch das darunterliegende Spektakel – im Falle des Terminators das metallische «Gestänge des Cyborgs» – weit interessanter und dränge die Haut sofort wieder in den Hintergrund. Seine Schlussfolgerung lautet, «dass Haut für die filmische Definition des Menschen von untergeordneter Bedeutung ist (auch wenn sie für die Klassifikation unterschiedlicher Menschen benötigt wird)».4 An dieser Einschätzung liesse sich zunächst bezweifeln, ob die Haut im Film wirklich keinen eigenen Spektakelwert besitzt – schliesslich geht ein Grossteil der Faszination an vielen der angesprochenen Verwandlungen auf die sichtbare Veränderung der Haut zurück. Zudem legt das Beispiel des body horror (Abb. 3) nahe, bei der Beantwortung dieser Frage auch zwischen verschiedenen Genres zu differenzieren. Das eigentlich Problematische an Stauffs Beschreibung ist allerdings etwas anderes, und zwar die zugrunde liegende Annahme, dass die vermeintlich ohnehin geringe Bedeutung der Haut im Film lediglich auf ihrer Funktionalität als Zeichenfläche beruhe, sie also reines Repräsentationsmedium sei, das lediglich auf seine Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, seine Typenhaftigkeit oder seinen Realismus hin zu befragen wäre.
Sensomorphosen
Während besonders in den letzten 25 Jahren Filmgeschichte zahlreiche Filme entstanden sind, in denen die Haut der Protagonisten ein zentrales Thema darstellt und als sichtbare Hülle der Person zum Austragungsort von Selbstuntersuchungen und Subjektivierungsdramen der Figuren wird, wie z. B. (neben den bereits genannten) in Memento (Christopher Nolan, USA 2000), Vanilla Sky (Cameron Crowe, USA 2001) bzw. Abre los Ojos (Alejandro Amenábars, E/F/I 1997), Under the Skin (Jonathan Glazer, UK 2013) oder Ex Machina (Alex Garland, UK 2015) (Abb. 4–6), tauchen darüber hinaus vermehrt Filme auf, die die Haut und ihre Bedeutung für Subjektivierungsprozesse nicht nur als sichtbare Hülle thematisieren, sondern sie als grösstes Organ des sensorischen Weltbezugs perspektivieren – als von innen fühlbares und nach aussen sensibles Wahrnehmungsmedium ihrer Träger.
Filme wie The Piano (Jane Campion, AU/NZ/F 1993), Fight Club (David Fincher, USA 1999), Pi, Requiem for a Dream, The Fountain und Black Swan (alle Darren Aronofsky, USA 1998, 2000, 2006 und 2010),5 Martyrs (Pascal Laugier, F/CDN 2008), Senseless (Simon Hynd, UK 2008) oder Amer (Hélène Cattet und Bruno Forzani, F/B 2009) arbeiten verstärkt daran, Figuren eben nicht nur an ihrer Oberfläche zu markieren und zu typisieren, sondern auf eindrückliche Weise als verkörpert zu charakterisieren und Wandlungen ihrer Subjektivität im Verlauf der Narration als ein verwobenes Geflecht von sensorischer Eingebundenheit sowohl in sich ändernde Umstände als auch in sich ändernde körperliche Verfassungen und Empfindungen erscheinen zu lassen. Um einer Beschreibung solcher Transformationen gerecht zu werden, kann neben die eingangs beschriebenen Metamorphosemodelle die «Sensomorphose» gestellt werden. Als Sensomorphose möchte ich dabei eine Art der subjektivierenden Wandlung bezeichnen, die weniger am materiellen Körper der sich wandelnden Figur stattfindet, als vielmehr über eine Veränderung ihres sensorischen Welt- und Selbstbezuges geschieht.
Filmgeschichtlich haben Sensomorphosen einerseits als narrative Elemente eine längere Geschichte. Die körperlichen Metamorphosen der Protagonisten etwa von Gestaltwandler- und Superhelden-Narrativen betreffen oft auch deren sensorische Wahrnehmungsfähigkeiten; meist geht dort die körperliche Transformation mit einer Schärfung oder Ausweitung der Sinne einher. Andererseits finden sich auch auf formaler Ebene bereits früh Beispiele für den Einsatz einzelner Effekte, die Wahrnehmungsänderungen einer Figur anzeigen sollen – man denke etwa an Hitchcocks Vertigo-Effekt, den berühmt gewordenen «Blick durchs Facettenauge» in Kurt Neumanns The Fly (USA 1958) oder Ingmar Bergmans geschickte Vermittlungen der subjektiven Wahrnehmung seiner Figuren, wenn etwa das Ticken des Weckers auf dem Nachttisch neben der schlaflosen Jenny Isaksson in Ansikte mot Ansikte (S 1976) lauter und lauter wird.
Bedingt durch neue technische Möglichkeiten wie digitale Bildgenerierung und -bearbeitung, Super-Slow-Motion- und High-End-HD-Kameras, hochsensible und dreidimensionale Tonaufnahme- und -wiedergabetechniken sowie sicherlich durch viele andere Faktoren6 scheint es allerdings besonders in den letzten zwei Jahrzehnten sowohl zu einer Proliferation und Ausdifferenzierung «versinnlichender» filmischer Mittel gekommen zu sein als auch zu deren Kombination zu sensorisch übersteigerten Sequenzen, die Sensomorphosen von Figuren formal durch Bildästhetik, Montage und Soundgestaltung für den Zuschauer auf neue und eindrückliche Art und Weise erlebbar machen: So evozieren etwa Hip-Hop-Montagen hochaufgelöster Detailaufnahmen den Rausch taktiler Erregung oder einer Drogenerfahrung; eine abrupte ‹Kamerafahrt›7 durch die Haut hindurch verkörpert die zerstörerische Flugbahn eines Projektils und lässt den begleitenden Schmerz erahnen, oder traumatische Ereignisse wie Explosionen auf dem Schlachtfeld wirken durch den Einsatz von 45- oder 90-Grad-Verschlusstechniken düster, gestochen scharf, abrupt und hyperreal. Auf der Tonebene werden etwa subtilste Geräusche der Berührung akustisch überhöht wiedergegeben und Oberflächen geradezu mit dem Ohr abgetastet; hohes Rückkopplungspfeifen suggeriert einen stechenden Kopfschmerz, oder tiefe Bässe führen zu einer viszeralen Tonempfindung. In all diesen Fällen haben wir es mit der filmischen Vermittlung einer vergleichsweise hyberbolisierten Sinnlichkeit8 zu tun, anhand derer die Subjektivierungsdramen betont sinnlich strukturierter Protagonisten narrativiert, aber eben auch für den Zuschauer körperlich wahrnehmbar werden.
Neueste digitale Bildgenerierungs- und Bearbeitungstechniken sind dabei als ein Faktor unter anderen für das Aufkommen sensorisch übersteigerter Sequenzen zur Narrativierung von Sensomorphosen zu verstehen, nicht aber als zwingender Bestandteil. Hélène Cattets und Bruno Forzanis Amer etwa verzichtet auf digitale Animationen, bietet dabei aber nicht minder neue Seh- und Hörerfahrungen bei der Begleitung seiner Protagonistin Ana in drei verschiedenen Lebensabschnitten, in denen ihre Entwicklung einer Sexualität nachgezeichnet wird, die generalisiert, also mehr auf die gesamte Körperhaut bezogen als auf die Geschlechtsorgane konzentriert, sowie mit Schmerz, Verletzung der Haut und Bedrohungs- und Verfolgungsfantasien verknüpft ist. Als Schlüsselerlebnis, das diese Entwicklung in Gang setzt, wird dabei zu Beginn des Films gezeigt, wie Ana als Kind im Elternhaus die schockierende Entdeckung der aufgebahrten Leiche ihres Grossvaters macht, wobei sie sich an einer auf dem Boden verstreuten, kristallinen Substanz die Haut verletzt. Nach ihrer Flucht aus dem Raum überrascht sie unbeabsichtigt ihre Eltern beim Geschlechtsverkehr. Der Schock, den dieser Anblick bei ihr auslöst, spiegelt sich formal darin wider, dass plötzlich jegliches Geräusch verstummt und das Bild des eigentlich liegenden Paares hochkant gestellt ist. Der Ton setzt abrupt mit einem Stöhnen der Mutter wieder ein und das Bild springt im Jump Cut von einem Close-up ihres Gesichts zum Detail ihrer in Ekstase zugekniffenen Augen und ihres sich öffnenden Mundes, gefolgt von einer Detailaufnahme von Anas schreckgeweitetem Auge. Von dem Geräusch splitternden Glases begleitet, scheint das Bild plötzlich zu brechen und sich nach rechts aufzufächern, während sich die Ansicht des Auges wie durch Spiegelscherben vervielfacht (G, H). Es folgen wieder Close-ups und Detailaufnahmen des Paares, die nun ebenfalls aufzusplittern scheinen: Eine Zeitlupe des den Kopf zurückwerfenden Vaters scheint dreifach belichtet; sein Körper ist leicht versetzt einmal in Rot, Grün und Blau zu sehen, während sich sein Stöhnen mit dem seiner Frau mischt und der begleitende Halleffekt immer stärker wird. Dann folgen einzelne Detailansichten, die abwechselnd rot, grün und blau eingefärbt sind; das filmische Bild scheint hier in seine RGB-Anteile auseinandergebrochen zu sein, während das Stöhnen zeitweise fast völlig stummgeschaltet wird, um kleinste Geräusche wie das Platschen eines auf die Haut der Mutter fallenden Schweisstropfens überlaut hervorzuheben. Die ‹Spiegelscherben› beginnen, begleitet von einem Geräusch wie von Rotorblättern, um Anas Auge herumzuwirbeln. Diegetisch geht hier Anas Bild der Eltern zu Bruch, formal die Illusion der Transparenz des Mediums.
Der in Anas Kindheit spielende erste Abschnitt des Films schliesst mit einer Traumsequenz oder Halluzination Anas, in der sich ihre taktilen, akustischen und visuellen Eindrücke der beiden verstörenden Erlebnisse zu einer hoch artifiziellen Bild-Ton-Collage verweben, die Anas sensorische Übererregbarkeit und die Kopplung von Bedrohung und Erotik antizipiert und auf eine vage, assoziative Art verstehbar macht. Diese Übererregbarkeit Anas bestimmt auch den weiteren Verlauf der Narration und spiegelt sich immer wieder in Bild- und Tongestaltung wider; so werden etwa die Mitglieder einer Motorradgang, die auf Ana gleichzeitig bedrohlich und erregend wirken, durch Detailcollagen und starke Fokusschwankungen der Kamera abgetastet, während ein akusmatisches, lustvolles Stöhnen ertönt, das zusammen mit dem immer wieder verschwimmenden und erneut scharf werdenden Bild den stossweisen Rhythmus eines Geschlechtsaktes zu evozieren scheint.
Peripherien
Wenn in diesem Beispiel der «splitternde» Blick und die Ertaubung im Schock bereits darauf hinweisen, dass nicht nur Empfindungen des Tastsinns, sondern auch andere Sinneseindrücke für Sensomorphosen bedeutsam sind, stellt sich die Frage, warum die Sensomorphose, wie hier geschehen, gerade von der Frage nach der filmischen Bedeutung der Haut ausgehend zu umreissen wäre. Dies ist einerseits zurückzuführen auf das hier vorgeschlagene Verständnis der Sensomorphose als eines subjektivierenden Vorgangs, der im Selbsterleben und -verständnis der Filmfigur eine Neuverhandlung bewirkt. Um die Eindrücke der verschiedenen Sinnesmodalitäten überhaupt sich selbst als einem Subjekt zuordnen zu können, sind die Haut als das Organ, das die anderen Sinnesorgane eingebettet trägt, und der Tastsinn, der sowohl Intersensorialität als auch das Wissen um die eigenen Grenzen und die eigene Verortung in der und zur Welt ermöglicht, unabdingbar;9 die sensible Haut ist somit das Substrat der hier fokussierten Subjektivierungsprozesse.
Darüber hinaus wird die Haut, nicht nur als konkrete materielle Struktur, sondern auch als Denkmodell, in Sensomorphosen auf verschiedene Arten virulent: Da sich das Erleben an der Peripherie des Subjekts und somit auf der Haut und in den Augen für andere sichtbar ausdrückt – sowohl Haut als auch Augen sind historisch «Seelenspiegel» genannt worden –, verwundert es nicht, dass viele der hier beschriebenen filmischen Strategien, die das sensorische Erleben der Figuren zu vermitteln suchen, zumindest teilweise auf den Einsatz von Detailaufnahmen von errötenden, schwitzenden oder die Härchen aufstellenden Hautoberflächen und schreck- oder lustgeweiteten Pupillen zurückgreifen. Auch Zoom-ins auf lauschende Ohren oder in schnüffelnde Nasen hinein – besonders prominent in Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders (Tom Tykwer, D/F/E/USA 2006) – gehören mit zum Repertoire solcher filmischen Umspielungen der expressiv sensiblen Hülle von Figuren. Das Bild rückt dabei so nah an Oberflächen heran, dass es oft selbst flächig erscheint. Durch Kameraschwenks, schnelle Montagen oder Fokusschwankungen wird die Orientierung des Zuschauers in Bezug auf den filmischen Raum zusätzlich erschwert. Mit Laura Marks liesse sich hier von haptischen Bildern sprechen, denen sie besondere Wirkmacht hinsichtlich der körperlichen, multisensorischen Adressierung des Zuschauers zuspricht.10 Marks geht es in ihrer Untersuchung interkultureller und in der Diaspora entstandener Arbeiten vor allem darum, zu beschreiben, wie der Film im Kontakt mit dem Zuschauer dessen sensorische Erinnerungen (memory of the senses) an eine verlorene Heimatkultur reaktivieren kann. Die hier untersuchten, übersteigert sinnlichen Sequenzen zeichnen sich allerdings nicht nur dadurch aus, dass sie den Film selbst als Phänomen hervortreten lassen, dessen «Haut» in Marks Sinne in ihrer Materialität offenbar wird – sei es als «brechende Kameralinse» oder sei es als plötzlich flächig erscheinendes Lichtspiel auf der Leinwand. Darüber hinaus versetzen sie den Zuschauer gerade durch diese scheinbare Opazität des plötzlich sichtbaren Mediums in die sensorische Subjektive der Filmfigur hinein.
Damit treten die Peripherie der Figur, die Peripherie des Zuschauers und die Peripherie des Films in ein sensorisches Resonanzverhältnis zueinander, das vom Film auch narrativ für die Figurenentwicklung produktiv gemacht wird. Marks Theorie haptischer Bilder hingegen auf Filme anzuwenden, die in einem klassischeren Sinne narrativ funktionieren als die eher experimentellen Arbeiten, die sie untersucht, wird dadurch erschwert, dass sie von der Existenz zweier differenter visueller Ordnungen ausgeht, der «haptischen Visualität» und der «optischen Visualität».11 Eine Identifizierbarkeit von Figuren auf der Leinwand und eine dadurch mögliche Identifikation mit ihnen sind in Marks’ Verständnis bereits der Ordnung der optischen Visualität zuzurechnen, in der sich Abstraktion, Repräsentation und Verstehen derselben zwischen einen direkten, mimetischen Kontakt des Zuschauers mit dem Bild schieben, was sie wertend mit einer kognitiven Distanz und Dominanz des Zuschauers über das Bildobjekt in Verbindung bringt.12 Narrative Filme, in denen Filmfiguren handeln und zur Identifikation einladen, wären ihrer Theorie entsprechend also generell eher der Ordnung der optischen Visualität zugehörig.
Während Marks zwar beide Ordnungen nicht als Gegensätze, sondern als auf einem Kontinuum verortet begreift, bleibt in ihrer Theorie uneindeutig, inwieweit der Status des haptischen Bildes von seiner Kontextualisierung abhängt und wann – und wie – etwaige Angebote eines Films oder einer Sequenz zur Identifizierung von und mit Figuren auf der Leinwand seine multisensorische Wirkung unterminieren würden.13
Hier zeigt sich einerseits die Schwierigkeit, zwischen bild- und rezeptionsästhetischer Betrachtung überhaupt zu einer Klassifizierung bestimmter Filmbilder als haptisch oder optisch zu gelangen. Andererseits bleibt der Begriff des haptischen Bildes selbst unterdeterminiert – eine verschwimmende Oberfläche kann anstelle von haptisch beispielsweise auch taktil wirken, den Zuschauer also eher zur passiven Hingabe verführen, als ein Greifenwollen zu evozieren, und es erscheint mir sinnvoll, hier erstens zwischen verschiedenen, den Tastsinn betreffenden Wirkungen zu differenzieren (Marks benutzt die Begriffe «haptic» und «tactile» austauschbar) und zweitens davon auszugehen, dass sich die endgültige Wirkung erst aus der spezifischen Verflechtung der Bildästhetik mit der Montage, dem Ton, der Narration und dem Eigensinn des Zuschauers ergibt. Sinnlich hyperbolisierte Sequenzen, die Sensomorphosen von Filmfiguren erzählen, können dann als privilegierte Orte verstanden werden, an denen die Verbindung verschiedener Bildtypen und ihre produktive Wechselwirkung sowohl hinsichtlich einer körperlichen Adressierung des Zuschauers als auch bezüglich der narrativen Fruchtbarmachung derselben untersucht werden kann. Eine solche Untersuchung zeigt, dass hier nicht nur haptische Bilder eine ansonsten unsinnliche Sequenz gewissermassen «sensorisch aufbessern», sondern dass ihre sinnliche Wirkung auch umgekehrt gerade durch die Kombination mit optischen Bildern und der Möglichkeit der Identifikation mit den erlebenden Figuren um ein Vielfaches gesteigert wird.
Schliesslich zeigt sich an der Oberfläche des Bildes noch einmal ein mögliches Unterscheidungskriterium zwischen «bloss» materiellen Metamorphosen und Sensomorphosen: Eine Metamorphose wie die Seth Brundles zur Brundlefliege lässt die Haut der Figur als Spektakel hervortreten, ebenso wie sie über mimetische Effekte – wie etwa, wenn Veronica Quaife dem monströsen Brundle den Unterkiefer abreisst – auch den Körper des Zuschauers als empfindenden Leib adressieren kann; die Peripherie des Figurenkörpers kommuniziert mit der Peripherie des Zuschauerkörpers, während das Medium grösstenteils transparent bleibt oder – etwa bei besonders auffälligen Spezialeffekten oder Videomorphings – einen separaten Spektakelwert generiert.
In Sensomorphosen hingegen geschieht mehr als nur ein Hervortreten von Peripherien als spektakuläre oder zeichenhaft signalisierende Hüllen (sowohl bezogen auf die Figur als auch den Film), denn hier geht es um die sensorische Verflechtung von Subjekten mit ihrer Umwelt,14 die in den hier genannten und vielen anderen, neueren Filmen durch bestimmte filmische Mittel und deren Kombination auf zunehmend «hypersinnliche» Weise formal zum Ausdruck kommt. Dies ermöglicht eine Versetzung des Zuschauers in das Sensorium von Filmfiguren hinein als denjenigen liminalen Raum, in dem diese sich im perzeptuellen Welt- und Selbstbezug als Subjekte konstituieren und wandeln. Die Oberfläche des Films tritt so, wie schon in den ganz frühen transformierenden Stopptricks und Überblendungen, erneut hervor – aber nun unter gewandelten Vorzeichen.