NATHAN SCHOCHER

VERSO (XAVIER RUIZ)

SELECTION CINEMA

Genf, Welthauptstadt für internationale Organisationen und Finanzmetropole, ist auch ein Umschlagplatz der Prostitution und des Drogenhandels. Dies macht uns der Prolog von Verso klar, der mit knappen «facts & figures» den Rahmen absteckt, in dem sich der Film bewegen wird. Von Beginn weg begleiten wir den Polizisten Alex (Laurent Lucas) aus nächster Nähe bei seinen Einsätzen und sehen, wie er im Bestreben, alles unter Kontrolle zu halten, selbst immer mehr ausser Kontrolle gerät. Sein Familienleben ist zerrüttet, seine Tochter konsumiert Drogen in schlechter Gesellschaft und sein ehemals bester Freund Victor (Carlos Leal), der früher ebenfalls Polizist war und mit dem Alex ein düsteres Geheimnis teilt, wird aus dem Gefängnis entlassen. Victor taucht sogleich in Genfs Unterwelt ab und macht sich nebenbei an Alex’ Exfrau heran – Grund genug für Alex, Victor auch ohne dienstlichen Auftrag zu beschatten. Eine Entscheidung, die sich als verhängnisvoll erweist.

Verso ist einerseits Milieustudie, indem der Film die Schattenseiten der internationalen Finanzmetropole Genf beleuchtet, andererseits Polizeithriller, indem er in einem spannenden, nicht durchgehend chronologisch erzählten Plot ein Porträt eines Polizisten zeichnet, der in der Absicht, gut und richtig zu handeln, selbst an den Abgrund gerät. In sorgfältig stilisierten Bildern mit präziser Lichtsetzung hält Regisseur Xavier Ruiz die düstere Grundstimmung konsequent durch.

Das Highlight des Films ist Laurent Lucas als Alex, der durch Mimik und Gesten immer wieder deutlich macht, wie sehr sich Polizist und Krimineller zumindest in diesem Fall ähneln. Beide haben eine Vorliebe für dicke Autos, grosse Knarren und schöne Frauen. Beide sind Adrenalinjunkies, beide tragen eine grosse Portion Aggressivität mit sich herum, die sich in regelmässigen Gewaltausbrüchen Bahn bricht. In der Tradition des Film noir kommen in Verso Frauen nur als Trophäe oder Opfer vor, bis am Ende dann eine klassische Femme fatale die beiden Antagonisten des Films übertölpelt.

Natürlich besteht die Gefahr der Ästhetisierung von Gewalt in einem Film, der Gewalt eigentlich kritisieren will. Auch machen das Abstossende des porträtierten Milieus und die etwas stereotype Charakterisierung der Figuren es zu Beginn nicht einfach, in den Film einzutauchen. Aber mit der Zeit beginnt die düstere Atmosphäre einen Sog zu entwickeln und die Intensität von Laurent Lucas’ Spiel packt einen. Ausserdem ist die Geschichte über weite Strecken nicht absehbar und wartet besonders am Schluss mit einer überraschenden Wendung auf. Vielleicht hätte es manchmal mehr Tempo gebraucht, aber grundsätzlich ist dem Regisseur ein solider Thriller mit Verstörungspotenzial gelungen, dessen Bilder einen auch noch nach Filmende nicht loslassen.

Nathan Schocher
*1978, Studium der Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaften; schreibt als freier Journalist für verschiedene Medien. Er lebt in Zürich.
(Stand: 2012)
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