KRISTINA KÖHLER

URBANE KINEGRAFIEN — ÜBERLEGUNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON STADT, KÖRPER UND FILM IN WEST SIDE STORY UND PARKOUR-FILMEN

ESSAY

«Was sind die Gefahren des Waldes und der Prärie mit den täglichen Chocks und Konflikten in der zivilisierten Welt verglichen?»

Charles Baudelaire

Die moderne Grossstadt ist gefährlich. Sie ist für den menschlichen Körper zu gross, zu schnell, zu unberechenbar. Wer zum ersten Mal in die Grossstadt kommt – das hat uns nicht zuletzt das Kino in unzähligen Filmen vom Typ «Provinzler kommt in die Hauptstadt» gezeigt – ist zunächst verloren inmitten der überdimensionierten Stadtarchitekturen und dem hektischen Treiben der Strassen. Metaphern wie «Dschungel» oder «Labyrinth» der Grossstadt zeugen von diesem geradezu physischen Effekt, mit dem die moderne Metropole gewohnte Wahrnehmungsmuster so sehr destabilisiert, dass bereits eine kurze Wegstrecke durch das Strassengewirr abenteuerlicher sein kann als ein Ritt durch die von Baudelaire evozierte Prärie.

Diese Reibungsfläche von Körper und Stadt hat zugleich eine Reihe urbaner Körpertechniken hervorgebracht, die spielerisch mit der ‹Gefahr› der Grossstadt umgehen. Schon frühe Reflexionen zur Grossstadt von Charles Baudelaire, Walter Benjamin, Georg Simmel1 entwerfen Körperstrategien, die sich genussvoll auf das städtische Treiben einlassen und darin eine neue Erfahr- und Sichtbarkeit der Stadt entdecken. Während sich der Flaneur bei Baudelaire und Benjamin von einer Strassenszenerie zur nächsten treiben lässt, folgt Edgar Allan Poes «Man of the Crowd» wie hypnotisiert dem Unbekannten durch den Strom der Massen.2 Die Situationisten begeben sich wiederum mit kreativen Methoden auf ihre dérives, indem sie die Pariser Strassen mit einem Londoner Stadtplan erkunden. Damit sind nur einige Stationen einer möglichen Genealogie urbaner Körperpraktiken aufgerufen, die sich mit Breakdancern, Skateboardern, Inline-Skatern, Flashmobbern oder eben parkour bis heute fortschreiben liesse.

Insbesondere filmische Medien haben Konfrontationen von menschlichem Körper und städtischen Erlebnisräumen seit jeher besonders eindrücklich in Harold Lloyd in Safety Last! (USA 1923) unfreiwillig die Aussenfassade eines Wolkenkratzers erklimmt, zu einem der emblematischsten Bilder für die ungleiche Begegnung von menschlichem Körper und moderner Grossstadt avanciert. Die Besteigung des Hochhauses wird dabei nicht nur zum körperlichen Risiko für Harold, dessen Aufstieg in die Schwindel erregende Höhenakrobatik an der Fassadenuhr mündet. Zugleich kündigt sich in Safety Last! an, dass der auf Um- und Abwegen wandelnde Körper umgekehrt auch zu einem Risiko für die hochroutinierten Abläufe der modernen Grossstadt werden kann.3 So versucht der Polizist in Safety Last! Harolds riskante Fassadenkletterei zu unterbinden, während unten auf den Strassen und Plätzen die dicht gedrängten Zuschauermassen die Verkehrswege unpassierbar machen. Verlässt er die vorgegebenen Wege, so scheint dieser Film zu suggerieren, kann der bewegte Körper zur Irritation für das städtische Ordnungssystem werden.

Diese gegenseitige ‹Gefährdung› oder Destabilisierung von menschlichem Körper und städtischem Raum bildet den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen. Ausgehend von der Inszenierung urbaner Tänze in West Side Story und mit Perspektivierung auf aktuelle Bewegungspraktiken wie parkour sollen mögliche Konstellationen von Stadt, Körper und Film ausgelotet werden. Am Fluchtpunkt der Überlegungen steht dabei auch die für das Kino zentrale Frage nach der Sicht- und Darstellbarkeit der Stadt: Von wo aus ist die Stadt zu sehen? Zeigt sie sich im kartografischen Überblick oder über das Eintauchen in das Gewimmel ihrer Strassen, Plätze und Verkehrsschneisen?

West Side Story – Von der Macht des kartografischen Blicks zur Anarchie kritzelnder Körpergraffiti

Dort, wo die Wohnblöcke so dicht beeinander stehen, dass kein Platz für Grünflächen bleibt, schlendern, rennen und tanzen die Jugendbanden in West Side Story (Jerome Robbins/Robert Wise, USA 1961) durch enge Strassenfluchten, schlängeln sich durch Unterführungen und hangeln sich an Gitterwänden entlang. Die Häuserfluchten und Hinterhöfe der West Side, in denen sich die Jets und Sharks erbitterte Strassenkämpfe liefern, bilden nicht nur die Kulisse für die ins New York der 1950er-Jahre verlegte Romeo-und-Julia-Story, sondern verwandeln sich hier in einen Erlebnisraum, der eine gewisse Körperlichkeit zu aktivieren und zu provozieren scheint. Die augenfällige Körperlichkeit der Choreografien in West Side Story war den zeitgenössischen Theater- und Tanzkritikern schon 1957 bei der Premiere des Broadway-Musicals ins Auge gesprungen. Der Tanzkritiker John Martin sah in der choreografischen Inszenierung des Musicals durch Jerome Robbins gar ein für die Entwicklung des Musiktheaters bahnbrechendes, «methodisches Experiment»: die Handlung des Dramas sollte primär durch körperliche Aktion gestaltet und weniger durch Dialoge vermittelt werden.4

Erst die Verfilmung von 1961, die als eines der ersten Musicals nach On The Town (USA 1949) an Originalschauplätzen gedreht worden war, vermochte jedoch, diese Körperlichkeit in die Strassenzüge der West Side rückzuführen. Vor allem in den Szenen des «Prologues», dessen Choregrafien Robbins für die Drehorte neu entwarf, scheint das Rennen und Springen der Jugendlichen als unmittelbar physische Reaktionen aus dem Stadtraum hervorzugehen. So schleichen die Jungen gebeugt durch enge Unterführungen, lauern hinter Mauerecken, bevor sich diese explosive Spannung auf dem weiten Basketballplatz in raumgreifenden Tänzen entlädt. Dabei wird das Leitmotiv von Robbins’ Choreografien – in die Höhe gestreckte, weit geöffnete Arme, ein seitlich gestrecktes Bein und ein sich vom Boden abdrückender Fuss – zu «an unforgettable image of reaching for sky and longing for space»5.

Auch die Filmkamera scheint von dieser überbordenden Körperlichkeit affiziert. Mit intensiven Nah- und Grossaufnahmen, Vorwärts- und Rückwartsfahrten sowie extremen Untersichten folgt sie den Protagonisten dicht auf den Fersen und deckt hinter jeder Häuserecke neue Stadträume auf. Der bewegte Körper wird dabei zum Vektor, der die urbanen Räume aufzieht und über die Kontinuität der Bewegung miteinander verbindet.

Doch noch bevor die Kamera mit den Banden in das Strassenlabyrinth der West Side hinabsteigt, zeigt der Film ein anderes Bild der Stadt. In einer Top-Shot-Sequenz schwebt die Kamera – ein gleichsam körperloser Blick – über die Verkehrsadern und Wolkenkratzerschluchten New Yorks und legt aus der Vogelperspektive die geometrischen patterns der Stadt frei. Dieses kartografische Bild des urbanen Ordnungssystems schreibt sich auch im Laufe des Films immer wieder in die Bilder ein: Aufsichten legen die Geometrie von Treppenhäusern oder Strassenführungen frei; Balken, Gerüstkonstruktionen oder Wäscheleinen durchziehen die Bildkader mit horizontalen und vertikalen Linien. Und immer wieder blickt die Kamera durch Gitterzäune, deren Maschen das Sichtfeld geometrisch unterteilen. Gerade im «Prologue» gehen diese beiden Ansichten der Stadt immer wieder ineinander über: der körperlichen Konstruktion des städtischen Raumes werden fortlaufend abstrahierende Aufsichten entgegengesetzt, die die geometrischen Wegmuster der Kampfszenen oder die grafisch anmutenden Gruppenchoreografien erkennen lassen.

Mit dem Wechsel zwischen den grafischen Aufsichten und der körperlichen Erschliessung der Stadt führt West Side Story nicht nur einen fortlaufenden Perspektivwechsel ein; vielmehr wird die filmische Hervorbringung des städtischen Raums als Zusammenspiel von visuellen und körperlichen Verfahren verhandelt, die auf den verschiedenen Ebenen des Films ständig ineinander überlaufen, sich unterbrechen und affizieren. Damit stellt West Side Story zugleich auch die medialen Möglichkeiten des Films aus, verschiedene Bilder des urbanen Raumes miteinander in Konkurrenz und Beziehung zu setzen.

Ganz ähnlich beschreibt der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau in seinem viel zitierten Buch «Kunst des Handelns» (1980) die Produktion des städtischen Raums als Zusammenwirken gehender und sehender, performativer und abbildender Verfahren. Das Gehen in der Stadt, so de Certeau, konstituiere einerseits die Praxis einer genuinen, körperlichen Hervorbringung des städtischen Raumes. Insofern der Gehende an der «undurchschaubare(n) und blinde(n) Beweglichkeit der bewohnten Stadt»6 teilhabe, aktualisiere und erweitere er die Bewegungswege der Stadt. Erst aus der ‹sicheren› Distanz eines erhöhten Aussichtspunktes – oder eben eines filmischen Top-Shots – lasse sich ein sicht- und lesbares Gesamtbild der Stadt erkennen. Ein solcher Blick, beispielsweise von einer Aussichtsplattform «verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man ‹besessen› war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick eines Gottes zu sein.»7 Während sich das Gehen als raumbildende Handlung konstituiere, lasse das panoptische Sehen eine Ordnung der Orte erkennen, denen gewisse normative Handlungsvorgaben und Machtstrukturen eingeschrieben seien.8 Ebenso wie in West Side Story bilden Gehen und Sehen in de Certeaus Modell zwei antagonistische Pole, die sich gegenseitig bedingen: Das Gehen mache die im Text der Stadt angelegten Wegmuster erst sichtbar, zugleich «bejaht, verdächtigt, riskiert, überschreitet, respektiert etc. (das Gehen) die Wege, die es ausspricht».9

Auch das Schlendern, Gehen oder Tanzen der Jugendbanden in West Side Story kann als ein solches destabilisierendes Re-Mapping des urbanen Raumes gelesen werden. Wird die Stadt über die Allgegenwart von Zäunen und Gittern, Aufschriften wie «Keep off» oder «No Exit» zunächst als ein höchst reglementierter Gesellschaftsraum dargestellt, begehen die Jets und Sharks diesen Raum auf ihren Streifzügen konsequent entgegen der dort angelegten Bewegungsvorschriften. Provokativ gehen sie durch eben jene Türen, auf denen «No Exit» steht, und klettern über Mauern, die die Bewegungswege eigentlich aufhalten oder umleiten sollen. Diese unkonventionelle Stadtnutzung artikuliert nicht nur das jugendliche Aufbegehren gegen das städtische Ordnungssystem, sondern kehrt zugleich die Normativität dieser urbanistischen Entwürfe hervor, die geradezu symbolisch für die sozialen und ethnischen Grenzsetzungen zu stehen scheint, gegen die die Protagonisten ankämpfen. Auch die polizeiliche Ordnungsmacht, verkörpert durch Lieutenant Schrank und seinen dumpfen Begleiter Officer Kruppke, ist stets zur Stelle, um die Bewegungsexzesse der Jugendlichen zu sanktionieren. Bezeichnenderweise wird schliesslich auch der Tanz selbst zum Austragungsort für die Aushandlung von Bewegungsvorschriften und deren Überschreitung: So versucht der Tanzlehrer beim «Dance in the Gym» ebenso bemüht wie erfolglos, die überschwänglichen Tanzimprovisationen in geordnete Choreografien zu kanalisieren.

Während de Certeau das Gehen in der Stadt über die Metapher einer widerspenstigen, «blinden» Lektüre imaginiert, scheint West Side Story am Schnittpunkt von Choreografie, Kartografie und Kinematografie die Hervorbringung der kinematischen Stadt vielmehr in das Bild eines dynamischen Schreibvorgangs zu setzen.10 West Side Story legt eine solche Verschiebung vom Stadt-Lesen auf ein Stadt-Schreiben insofern nahe, als dass die Verhandlung von städtischer Ordnung und deren körperlicher Destabilisierung auch über die Gegenüberstellung zweier Verschriftlichungen des städtischen Raums ausgetragen wird. Neben den kommerziellen Schriftzügen, Strassenschildern und Bodenmarkierungen überziehen unzählige Kritzeleien und Graffiti den städtischen Raum, die bei näherem Hinsehen zumeist die Namen der Banden oder ihrer Mitglieder in den Stadtraum einschreiben. Diese Graffiti der «Jets» und «Sharks» fungieren nicht nur als Markierungen territorialer Besitzansprüche, die während der Strassenkämpfe fortlaufend überschrieben werden, sondern bilden auch ein Gegenmodell zu jenen semantisierenden Schriftzügen, die den Handlungsraum der Stadt mit Vorschriften versehen. Im Gegensatz zur normativen Semiotisierung des Stadtraums über Reklame- und Verbotsschilder entziehen sich die «tanzenden Graphen»11 solchen festen Sinnzuschreibungen, ziehen diese gar in Zweifel. Dieser «Aufstand der Zeichen»12 affiziert nicht nur den Bildraum, sondern greift auch kommentierend in die Handlungsebene des Films ein, beispielsweise dann, wenn Maria die Nachricht vom Tod ihres Bruders erfährt: Mit dem Abgang des Boten schlägt die Tür zur Dachterrasse zu und der dort aufgekritzelte Name «Nardo» wird wie ein Nachhall auf den Verstorbenen sichtbar.

Diese unterschwelligen Angriffe auf das Ordnungssystem – sei es jenes der filmischen Handlung oder eines normativ verschriftlichten Stadtraums – durch die Graffiti erweisen sich spätestens im Abspann als verdichtete Fortsetzung der körperlichen Verunsicherung städtischer Raumordnungen. Die Credits des Films werden hier als Schichten palimpsestartiger Kritzeleien visualisiert. In den Wandgraffiti auf Mauern, Türen und Verkehrsschildern artikuliert sich damit eine geradezu anarchisch wuchernde Schrift, die nur mehr die wirre Bewegung der abwesenden Körper zu dokumentieren scheint. Unter diesen Schriftlinien, die kaum noch auf einen ausserhalb ihrer grafischen Sichtbarkeit liegenden Sinn verweisen, schimmert die Materialität der Stadt selbst hervor. In ähnlichem Sinne schreibt Jean Baudrillard: «Indem sie die Wände tätowieren, befreien (die Graffiti) sie von der Architektur und machen sie wieder zur lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung.»13

Insofern die urbanen Kinegrafien der Graffiti die ‹Körperlichkeit› der Stadt hervorkehren, verweist der Abspann des Films auf die Möglichkeit eines ‹dritten Bildes› der Stadt: Die Körperlichkeit des Gehens und die Abstraktion des Sehens stehen sich nicht mehr als entgegengesetzte Pole gegenüber, sondern laufen in der ebenso körperlichen wie bildhaften Materialität der eingeritzten Mauersteine, Fensterscheiben und Türen zusammen. Die Stadt stellt sich den Jugendbanden nicht mehr als sozial durchwirkter Raum entgegen, sondern zeigt sich schliesslich selbst als – äusserst verwundbarer – Körper.

Parkour: Urbane Spurenleger in instabilen Räumen

So wie die Banden in West Side Story die Strassenzüge New Yorks «unsicher» machen, scheinen auch jüngste Körperpraktiken wie parkour und free running über die Konstellation choreografischer, kartografischer und kinematografischer Verfahren Stadt und Körper ins Verhältnis zueinander zu setzen.

Spätestens seit ihrer spektakulären Inszenierung in Casino Royale (GB 2006) erfährt die sich seit Ende der 1980er-Jahre im Pariser Vorort Lisses entwickelnde Fortbewegungspraktik le parkour einen regelrechten Hype. Wenn die meterhohen Sprünge von Häuserdächern wesentlich risikoreicher als die tänzerischen Körperperformances in West Side Story wirken, so mag das auch daran liegen, dass parkour bereits vor seiner filmischen Inszenierung die Stuntchoreografien eines kinematografischen Imaginären aus Filmen wie The Matrix (Andy und Larry Wachowski, USA 1999) oder Computerspielen aufruft. So ist kaum verwunderlich, dass sich parkour-Stunts wiederum vor allem über filmische Medien inszenieren. Neben zahlreichen Amateurvideos auf Internetplattformen wie Youtube, neben Sportdokumentationen wie Jump London! (Mike Christie, GB 2003) setzen rasant geschnittene Werbespots oder Musikvideos von Madonna oder Daft Punk auf das Faszinationspotenzial dieser Stadtakrobaten. Mit der Unterstützung von Filmemacher und Produzent Luc Besson sind die Begründer der Pariser parkour-Szene jüngst auch zu den Protagonisten einer Reihe französischer Action-Filme wie Banlieue 13 (Pierre Morel, F 2004), Yamakasi – Les samouraïs des temps modernes (Ariel Zeitoun, F 2001) oder Yamakasi – Les fils du vent (Julien Seri, F 2004) avanciert.

Auch parkour imaginiert die Begegnung von Körper und städtischen Räumen über die Metapher einer Schrift- bzw. Linienbewegung. Bezeichnenderweise verstehen sich die Teilnehmer der parkour-Bewegung, die sich traceurs und traceuses (frz. Spur, Linie) nennen, als kinegrafische «Spurenleger» durch den städtischen Raum. Um eine beliebige Wegstrecke über Häuserdächer, Treppenhäuser und Aussenfassaden der cités festzulegen, wird auf einer (teilweise nur noch mentalen) Stadtkarte eine direkte Luftlinie zwischen zwei Punkten A und B gezogen.14 Dieser Linie gilt es, möglichst kompromisslos, unter Überwindung aller möglichen Hindernisse nachzulaufen. Während der urbane Raum in West Side Story als ein kartografisches Patchwork von Zonen, Flächensegmenten und Terrains in Erscheinung tritt, durchzieht der traceur die Stadt nur noch mit den Linien seiner parcours. Mauern oder Wände unterbrechen den Bewegungsfluss nicht, sondern bieten Möglichkeiten neuer kinetischer Verknüpfungen der Stadträume. So hat parkour ausgehend von den urbanen Bauten ein eigenes Bewegungsvokabular entwickelt, das sich als unmittelbar körperliche Reaktion auf die Materie der Stadt konstituiert: Mit dem «saut de chat» hechten die traceurs über Betonschluchten, mit der «passe-muraille» überwinden sie Mauern und mit dem «franchissement» schlängeln sie sich durch Lücken, Geländer und Fensteröffnungen.

Standen sich in West Side Story die lesbare Sicht auf die Stadt und deren kinesische Aneignung noch als zwei unterscheidbare Bilder des städtischen Raums gegenüber, laufen die traceurs nicht so sehr gegen urbane Bewegungsvorgaben an, sondern bewegen sich in der Stadt wie auf einem virtuellen Stadtplan. Dabei bildet die kartografische Ansicht der Stadt nicht mehr normative Handlungsvorgaben oder soziale Raumordnungen ab, sondern erscheint nur mehr als ein abstraktes Netz grafischer Linien, Raster und Rechtecke, das zahlreiche potenzielle Wegalternativen bereithält. Unwegsame Orte wie Hausdächer oder -fassaden werden in diesem kartografischen Gehen ebenso zu Durchgangsorten, wie private Schlaf- oder Wohnzimmer unter den Augen der aufgeschreckten Bewohner durchquert werden. So aktualisieren die traceurs die Utopie einer totalen Begehbarkeit des Stadtraums, in dem soziale Unterscheidungen von privatem und öffentlichem Raum, von begehbaren und unbegehbaren Orten ausgeblendet sind.

Diese Entgrenzungen städtischer Räume wird in Filmen wie Banlieue 13 oder Yamakasi auch durch die filmische Spektakularisierung der Body-Stunts vorangetrieben. In dichten Nah- und Detailaufnahmen folgt die Kamera den traceurs auf Schritt und Tritt und intensiviert die Sprünge und Kletteraktionen über eine bewegte Kameraführung, schnelle Schnitte und extrem rasche Perspektivwechsel, angetrieben durch eine nachdrückliche Tonspur. Wenn ein einziger Sprung von Hausdach zu Hausdach hier bisweilen in bis zu fünf verschiedenen Einstellungen zerlegt wird, zerfällt damit auch der urbane Raum in eine Verkettung instabiler Räume, die nur noch in Abhängigkeit der sie durchquerenden Körper wahrnehmbar sind. Der Stadtraum fungiert hier, so suggerieren die Filme, nur mehr als Funktionselement der Bewegung, der als solcher durchquert («parkourer») wird, aber keine Konfrontation von Körper und Stadt mehr produziert. Damit scheint parkour einen Funktionswechsel des urbanen Raums widerzuspiegeln, wie ihn auch der Kultursoziologe Richard Sennett beobachtet: «As urban space becomes a mere function of motion, it thus becomes less stimulating in itself; the driver wants to go through the space, not to be aroused by it.»15

So scheint sich der städtische Raum in den parkour-Sequenzen zu einer «soft architecture»16 zu verflüssigen; das Regime eines Raum-, Zeichen- oder Ordnungssystems der Stadt implodiert in den Bewegungsspuren der traceurs, die nur mehr Bewegungsverknüpfungen kolportieren, ohne dass sich die durchlaufenen Räume zu kohärenten Raumkonstruktionen zusammenfügen liessen.

Wie sehr die subversiven Bewegungswege der traceurs dabei jedoch den sozialen Ordnungsraum Stadt verunsichern, verhandeln die parkour-Filme insbesondere auf narrativer Ebene. Auch den traceurs in Yamakasi – Les samouraïs des temps modernes stellt sich fortlaufend die polizeiliche Ordnungsinstanz entgegen, die deren subversive Stadtnutzung zu reglementieren versucht. Insbesondere über die Getto-Thematik reflektieren und dekonstruieren die französischen parkour-Filme den Stadtraum als einen sozial-normativen Ordnungsraum. Die Vorstadt wird wie beispielsweise in Banlieue 13 als ein vom Rest der Stadt abgetrennter Sozialraum inszeniert, in dem das staatliche Kontrollsystem ausser Kraft gesetzt ist und in dem (wenn überhaupt noch) ‹andere› Regeln gelten. Die Notwendigkeit, ‹andere Wege› zu gehen, entsteht hier als gleichermassen körperliche sowie moralische Reaktion auf eine zutiefst destabilisierte Welt, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse zunehmend verwischen und Polizisten und Staatspräsidenten die eigentlichen «Verbrecher» sind. In diesem Kontext wird der traceur in Banlieue 13 und den Yamakasi-Filmen zu einem Kleinkriminellen, der sich in normativen Grauzonen zwischen korrumpierten Gesellschaftsnormen und einer eigenen Setzung von Gerechtigkeit bewegt. «Wir machen es auf unsere Weise», so das prägnante Credo der Yamakasi, wenn sie in Yamakasi – Les samouraïs des temps modernes für die lebensrettende Operation eines Jungen aus dem Ghetto in guter alter Robin-Hood-Manier in die Villen jener Ärzte einbrechen, die ihr Vermögen mit illegalem Organhandel usurpiert haben.

Besonders markant verhandelt auch der Film Breaking and Entering (USA/ GB 2006) die Auflösung und Überschreitung normativer Setzungen über die Gegenüberstellung von kartografischen Verfahren und der Körpertechniken des parkour. Dem traceur Mirsade steht die Figur des Landschaftsarchitekten Will gegenüber. Architekt und traceur bilden nicht nur ganz im Sinne de Certeaus die Gegenpole von kartografischen und körperlichen Verfahren der Stadtaneignung, sondern repräsentieren vor allem zwei Möglichkeiten, verändernd in den städtischen Raum einzugreifen: während Landschaftsarchitekt Will den Stadtteil Kings Cross stadtplanerisch umgestaltet, eröffnen Mirsades Sprünge von Hausdach zu Hausdach in ihrer dekonstruktiven Stadtlektüre die Utopie ‹anderer Räume›. In einem Gespräch mit seiner Mutter Amira deutet Mirsade an, dass ihm parkour eine neue Sichtbarkeit der Stadt ermögliche:

Amira: Jump from building to building. Is it amazing?

Mirsade: Yes. ... You see the city.

Amira: What is it like?

Mirsade: ... (Pause) ... Better.

Spätestens an dieser Stelle zeichnet sich das utopische Potenzial urbaner Körperpraktiken ab. Indem sie fixierte Stadträume in dynamische Raumkonstellationen überführen und die Stadt in einen risikoreichen Erlebnisraum verwandeln, verweisen die Bewegungsexzesse in diesen Musical- und Actionfilmen immer auch auf Freiräume und Baulücken in den sozialen Handlungsvorgaben, auf jenes «Somewhere», das Tony und Maria in West Side Story besingen. Dort, wo sich die visuelle Repräsentation der Stadt und die körperlich-performative Hervorbringung urbaner Räume gegenseitig destabilisieren – so suggerieren diese Filme –, geht es eben nicht nur um ein anderes Sehen der Stadt, sondern um die Vision einer besseren Stadt.

Vgl. Baudelaire, Charles: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, «Salons», intime Tagebücher. Leipzig 1990; Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt/Main 1997; Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt/Main 2006.

Poe, Edgar Allan: «The man of the crowd», in ders.: The complete tales and poems. New York 1938, S. 474–481.

Vgl. Smith, Jacob: «The adventures of the human fly, 1830–1930», in: Early Popular Visual Culture, 6:1, 2008, S. 51–66.

Vgl. Martin, John: «‹West Side Story› as an Experiment in Method,» in: New York Times (27. Oktober 1957), S. 15.

Mast, Gerald: Can’t Help Singin’. The American Musical on Stage and Screen. Woodstock, New York 1987, S. 301.

De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 182.

Ebenda, S. 180.

Vgl. ebenda, S. 221.

Ebenda, S. 192.

Von gráphein (griechisch) für schreiben.

De Certeau, a.a.O., S. 196.

Baudrillard, Jean: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978, S. 28.

Ebenda, S. 35.

«Tracez sur un plan de votre ville une ligne droite, partez du point A et rendez-vous au point B. Ne considerez pas les éléments qui sont sur votre chemin (barrières, murs, grilles, arbres, maison, building) comme des obstacles. Epousez-les: escaladez, franchissez, grimpez, sautez; laissez aller votre imagination: vous parkourez.» Severine Souard, «The Tree – L’Art en mouvement», elektronische Ressource: http://tracer2000.free.fr/us/ind... html (26.10.2008).

Sennett, Richard: Flesh and Stone: the Body and the City in Western Civilization. New York, London 1994, S. 18.

Vgl. Lisa Robertson, Occasional Work and Seven Walks from the Office of Soft Architecture. Toronto 2006.

Kristina Köhler
Prof. Dr., Juniorprofessorin für Filmwissenschaft am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes-Gu­tenberg-Universität Mainz, von 2008 bis 2016 Oberassistentin und Assistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Promotion zu Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz (Schüren, 2017), Mitherausgeberin der Zeitschrift Montage AV und des Sammelbandes Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu aktuellen Quality-TV- und Onlineserien (Marburg 2011). Forschungsschwerpunkte: Filmgeschichte (vor allem frühes 20. Jahrhundert), Geschichte der Filmtheorie, Konzepte der Filmerfahrung, Film und Tanz, Körperlichkeit und Wahrnehmung.
(Stand: 2019)
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