JULIA ZUTAVERN

ANSTIFTUNG ZUM STADTFRIEDENSBRUCH: DER BESETZERFILM

CH-FENSTER

Und nicht schlecht ist die Welt

Sondern

Voll.

Bertolt Brecht

Voll ist die Welt, insbesondere in jenen modernen Ballungszentren menschlicher Siedlungsgebiete, die man gemeinhin Städte nennt. In ihnen hausen Menschen dicht beieinander und aneinander vorbei, denn in der emotionalen Einöde betonierter Hochhaussiedlungen, Industriewüsten und umzäunter Vorstadtreihenhäuser verkümmern Sozialkompetenz und Nachbarschaftlichkeit. – Das diagnostizierte Alexander Mitscherlich 1965 in seiner Streitschrift über «die Unwirtlichkeit unserer Städte».1 Er sah eine sich aus urbanen und ökonomischen Wachstumsfantasien speisende menscheinfeindliche Baupolitik wie «krebsige Tochtergeschwülste» alles überwuchern, was die (ideale) städtische Kultur einmal ausgezeichnet hat:2 ein Schauplatz gesellschaftlichen Handelns und kulturellen Wandels zu sein, wo Menschen in Gemeinschaften leben, die ihnen in gleichem Masse soziale Sicherheit und individuelle Freiheit gewähren.

Die «Anstiftung zum Unfrieden» des deutschen Kultursoziologen sollte schon bald ihre Wirkung zeigen: 1968 taten sich vielerorts unzufriedene Stadtbewohner zusammen, um gegen Stadtverwalter, Grossunternehmer und Häuserspekulanten zu protestieren, in deren Klauen sie das städtische Leben aus dem Gleichgewicht geraten und die Stadt zur sozialunverträglichen verwalteten Massenwelt verkommen sahen. Seither «besetzen» stadt- und wohnpolitische Aktivisten mit ihrem Protest Strassen, Häuser und Plätze, leisten Haus- und Stadtfriedensbruch und verwandeln ihre Städte so wenigstens vorübergehend in jene Räume des denkenden Aufstandes, auf deren Verwirklichung Mitscherlichs Anstiftung drängte.

Der Schauplatz des Unfriedens umfasst dabei weit mehr als die Strassen und Plätze, auf denen er ausgetragen wird. Mit Flugblättern, Zeitungen, Plakaten und insbesondere mit dem Film nutzten stadtpolitische Bewegungen von Anfang an auch mediale Plattformen, um ihrem Unmut Luft zu machen. «Brot und Äktschen im Hardturmstadion – Free Tibet! Ich kusche nicht am 8. 8. 2008!», scheppert es aus dem Off eines der jüngsten Beispiele filmischen Stadtprotests, das derzeit auf YouTube zu sehen ist. Der Podcast SHANTY TOWN BROTÄKTSCHEN (lobi200000, 2008) dokumentiert 43 Sekunden der Besetzung des Hardturmstadions «Brot & Aktion» vom 4. bis 6. Juli 2008 und gehört damit zu den aktuellen Vertretern des Schweizer Besetzerfilms, dessen Eigenheiten und Geschichte Gegenstand dieses Beitrags sind.3

Besetzerfilme sind all jene Filme und Videos, die im Kontext stadt- und wohnpolitischer Bewegungen entstehen.4 Sie sind einerseits Bewegungsfilme, da sie die politischen Ziele und Aktionen von Stadtbewegungen dokumentieren, deren Selbstverständnis Ausdruck verleihen oder als Auslöser und Katalysator selbst zum Mittel des Protests werden. Andererseits sind sie aber auch Stadtfilme, in denen die Stadt als «Protestraum», als historische Kulisse und Gegenstand des Protests mediale Gestalt annimmt.5 Die Geschichte des Schweizer Besetzerfilms steht daher in enger Wechselbeziehung zur Geschichte unserer Städte und der in ihnen aktiven sozialen Bewegungen. Und so haben sich in den vierzig Jahren, die seit der ersten grossen Schweizer Besetzerwelle vergangen sind, nicht nur die Strukturen und Aktionsformen der stadt- und wohnpolitischen Bewegungen verändert, sondern auch die filmischen Möglichkeiten und Formen, derer sich die Aktivisten bedienen.

Die Anfänge: Kollektive Selbstporträts mit politischem Gebrauchswert

Eine Art Gründungsereignis des Schweizer Besetzerfilms ist Jürg Hasslers Dokumentation Krawall (1970) über die Zürcher Jugendunruhen im Zuge der Besetzung des Globus-Provisoriums im Sommer 1968. Abgesehen von real-stereotypen Figuren wie dem verstrubbelten («und so langhoorige!») Gammler mit Bierflasche und Wasserpfeife, dem intellektuell agitierenden Studenten mit Seitenscheitel («Unser Ziel ist die bewusste Erfahrung von Unterdrückung ...») oder dem keifenden Rentner («verdammti Saucheibe!»), der mit seinem Schirm auf junge Demonstranten losgeht, haben die späteren Besetzerfilme und -videos der Siebziger- und Achtzigerjahre mit ihrem Vorgänger auch einige ästhetische und narrative Gestaltungsmerkmale gemein. Filme wie Mir bsetze – Die Geschichte eines Kampfes (1979) des Basler Quartierfilmers Urs Berger, die Zürcher Videodokumentation Anarchie und Disneyland (Community Media, 1982) oder das ebenfalls auf Video gedrehte Porträt des Berner Mieterkampfs Wohnsalat (Container TV, 1981) schildern den (üblichen) Verlauf von Besetzung, Räumung und Protest in mehreren Akten und verleihen ihren eher lose und assoziativ verknüpften Aufnahmen dadurch eine zumindest rudimentäre dramatische Struktur. Getragen wird die Kohärenz der Filme von einem oft hölzernen und gespreizten Kommentar aus dem Off und immer wieder auch von Musik – vorzugsweise einem selbst erdichteten Protestsong wie in z. B. Ryffstrasse (HausbesetzerInnen-Kollektiv Basel, 1980):

Denksch du das mängisch nid doch au

In däre Stadt wärs wirklich glatt

Doch goot sie Tag zu Tag zur Sau

S wird alls verbaut, mir händ das satt

Ja, drum tüend mir bsetze, s Gsetz verletze

Will uns nüt anders übrig bliibt.

Wie ihr eigenwilliger Kleidungsstil, ihre wilden Frisuren, punkigen Poster und marxistischen Bücher, mit denen sich die Aktivisten in Szene setzten, begründete auch die Musik den Habitus der Bewegung. Die Hausbesetzer der Siebziger- und Achtzigerjahre besetzten also nicht nur Häuser, Strassen und Plätze, sondern auch die Medien, um die «gruppenhafte Präsenz» ihrer Bewegung zu markieren.6 Als medialer Ort verstärkten beziehungsweise verdoppelten ihre Filme und Videos die Möglichkeiten kollektiver Selbstdarstellung, die bereits die Stadt als «Kommunikationsraum» und «Bühne» den Bewegungen bot, und verliehen sich selbst auf diese Weise eine stark selbstreflexive Komponente.

Was Alexandra Schneider in Anlehnung an Karl Sierek für den Familienfilm festgehalten hat, gilt also in gewisser Weise auch für die halbprofessionellen Arbeiten der Quartierfilmgruppen und Videogenossenschaften: Sie bewegen sich in einem Zwischenbereich zwischen Fiktion und Dokumentation, «zwischen dem unverstellten günstigen Augenblick und dem Wunsch, ja Zwang, zur Inszenierung und Gestaltung».7 Aber nicht nur seine selbstreflexive Tendenz und die Gratwanderung zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität rücken den Besetzerfilm in die Nähe des Familienfilms, sondern auch der amateurhafte Eindruck, den die oft verwackelten, grobkörnigen und unbeholfen wirkenden Aufnahmen vermitteln. Bedenkt man das spezifische Publikum der Filme, das meist aus Mitgliedern oder Sympathisanten der Besetzerszene bestand, kann davon ausgegangen werden, dass die Filme aus demselben Grund funktionierten, warum auch Familienfilme funktionieren: nicht obwohl, sondern gerade weil sie schlecht gemacht sind.8 Mit ihrer offenen Form erlaubten sie es den involvierten Zuschauern, sich an das Erlebte auf individuelle Weise zu erinnern, und übernahmen damit innerhalb der Bewegung identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktionen.

Der Besetzerfilm der Siebziger- und Achtzigerjahre war aber nicht einfach eine Art kollektiver Familienfilm der autonomen Jugendbewegung. Auch wenn er vor allem dort gezeigt wurde, wo er auch entstand – in Jugendzentren, an Mieterversammlungen oder in Quartiervereinen –, richteten sich seine Inhalte, seine Kritik an der Stadt- und Wohnpolitik und die Forderung nach kulturellen Freiräumen auch an eine Öffentlichkeit jenseits der Bewegung und deren Sympathisanten. Um diese zu erreichen, diente erneut die Stadt als Bühne: Die Filmemacher rollten ihre Leinwände überall dort auf, wo sie sich Zuschauer erhofften: an Flussufern, in Hinterhöfen, an Strassenecken oder in Kneipen. Und ein paar wenige, wie Urs Bergers Mir bsetze, schafften es nach viel Überzeugungsarbeit sogar an die Solothurner Filmtage oder tourten mit der Filmwerkschau durch die ganze Schweiz.

Von den öffentlichen Vorführungen ihrer mal nüchternen, mal auf- oder abgedrehten kollektiven Selbstporträts erhofften sich die Stadtrebellen, ihren gesellschaftlichen Gegenentwürfen auch eine Gegenöffentlichkeit zu verleihen und den in ihren Augen verzerrten Bildern der massenmedialen Berichterstattung die eigenen Bilder entgegenzuhalten. Das Ziel der Filmaktivisten war, «die Bewegung so darzustellen, wie sich diese selbst sah», und das bedeutete eine «bewusst einseitige Darstellung der Ereignisse».9 In den Siebziger- und Achtzigerjahren bewegte sich der Besetzerfilm also auf einer zugleich privaten und politischen Achse: Statt «etwas Schönes als schön» zu zeigen, wie es Odin dem Familienfilmer unterstellt,10 zeigte er, dem politischen Diktum der Zeit entsprechend, etwas Privates – den urbanen Alltag und Lebensentwurf der Hausbesetzer – als politisch, und wurde dadurch zu einem einzigartigen Zeitdokument der Schweizer Stadt- und Kulturgeschichte.

Besetzer-Science-Faction

Ein Film, der sich sowohl mit seiner historischen, als auch gesellschaftlichen Funktion als Teil medialer Öffentlichkeit auseinandersetzt, ist Zafferlot (Andreas Berger, 1985/86).

Bei Ausgrabungen im Berner Mattenhofquartier stiessen Archäologen auf eine S-8- Filmrolle, die noch aus dem letzten Jahrtausend stammt. Anhand von Gummigeschos-sen, die in der Nähe des Filmmaterials gefunden wurden, konnte festgestellt werden, dass die etwas wirren Bilder in den Jahren 1985 und 1986 entstanden sein müssen.

Mit diesen einleitenden Sätzen verweist der Film von der ersten Einstellung an auf seinen dokumentarischen Wert, gibt zugleich aber auch unmissverständlich zu verstehen, dass er nicht unbedingt dem entspricht, was gemeinhin unter einem klassischen Dokumentarfilm verstanden wird. Denn der Super-8-Film des Berner Filmemachers und einstigen AJZ-Aktivisten Andreas Berger über die Ereignisse rund um das im Mai 1984 besetzte Wohn- und Jugendhaus «Zaff» ist kein gewöhnliches Besetzerporträt. Der Kurzfilm schildert nicht nur die Wünsche und Nöte der Jugendlichen und deren Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen, sondern artikuliert sich selbst als Mittel zum Protest. In einer wilden Collage aus dokumentarischen und inszenierten Aufnahmen, Comic-Strips, gefälschten Zeitungsartikeln sowie Film- und Fernsehzitaten geraten städtische Behörden, Häuserspekulanten und polizeiliche Kontrollinstanzen ins satirische Kreuzfeuer der Kritik und mit ihnen auch die biederen, sensationslüsternen Massenmedien: In den Qualm und Staub des Abrissbaggers mischt sich ein blutrünstiger weisser Hai, Demonstrierende flüchten vor Tränengas und irgendwo in Amerika schiesst ein eleganter Actionheld auf das Auto zweier Polizisten.

Mit Montagen wie diesen positioniert sich Bergers «Science-Faction-Film», wie der Untertitel des Films lautet, selbst als Teil der medialen Öffentlichkeit, allerdings als deren Kehrseite – in Opposition zu der verhassten, «Mehrheiteweltbülder», «hohli Usgwogeheit» und «graui Luschtlosigkeit» erzeugenden Massenkultur, die in Zafferlot vor allem durch das Fernsehen und die Boulevardmedien vertreten werden. Bergers satirische Kritik verschont aber auch die eigene Gattung nicht: Wenn in einer der gestellten Interviewszenen über das «letschte Pack» geschimpft wird, das «nid emal die Kosmonischte oder Konsumischte, oder wie die heisset, z Moskau bruche choï, nid war ...», dann nimmt Zafferlot nicht nur die Passanten aufs Korn, die er imitiert, sondern auch das klassische Repertoire des Besetzerfilms, das solche Szenen mit in Umlauf gebracht hat. Bergers chaotische und unterhaltsame Mediensatire verweist also einerseits ironisch auf die kommerzielle Massenkultur, andererseits aber auch auf sich selbst und hält damit, was sein Untertitel verspricht: zugleich science, fact, fiction und action zu sein.

Stadtprotest, recycelt

Ironie, Kritik und Dokumentationswillen zeichnen auch Bergers zweiten Film über die autonome Berner Jugendbewegung aus. Wenn auch etwas zahmer und strukturierter als Zafferlot, schildert Berner Beben (1990) die Geschichte der Bewegung von 1980 bis 1990. Wie der wohl bekannteste Schweizer Bewegungsfilm Züri brännt (Videoladen, 1981) gehört er zu der Sorte politischer Dokumentarfilme, die ganze Phasen gesellschaftlicher Unruhen porträtieren, indem sie auf Archivmaterial und Aufnahmen bereits bestehender Filme zurückgreifen. Die Jahreschronik der Zürcher Jugendunruhen von 1980 ist ein Paradebeispiel filmischen Recyclings: Neben den rund 100 Stunden Eigenmaterial verwertete das Zürcher Autorenkollektiv für Züri brännt auch Ausschnitte aus Aktion Hellmutstrasse (Community Media, 1980), Krawall und Mai, 1980 (Community Media, 1980) und machte dadurch diese vergleichsweise unbekannten Arbeiten zumindest in Teilen einem grösseren Publikum zugänglich.

Derartige Transtextualität gehört zu den auffälligsten Merkmalen des Bewegungsfilms, wobei die intertextuellen und intermedialen Bezüge unterschiedliche Funktionen erfüllen. In den «klassischen» Besetzerporträts ersetzen Film- und Fernsehausschnitte, Pressebilder oder Schlagzeilen fehlendes Bildmaterial, steigern den Unterhaltungsfaktor oder betten als mediales Zeitkolorit die Ereignisse historisch ein. In experimentelleren Arbeiten wie null8 null7 (theramzi, 2006) hingegen kann die Transtextualität zum Movens des gesamten Films werden.11 Der «Experimentalfilm zur Räumung der Wohlgroth», wie der Macher seinen Broadcast auf YouTube beschreibt, besteht lediglich aus ein paar kurzen dokumentarischen Bild- und Tonfragmenten. Doch gerade mit der Montage dieser paar zerkratzten, fast unkenntlichen Aufnahmen der Wohlgroth, ein paar Nachrichtenfetzen und der polizeilichen Durchsage der Räumungsfrist («null 8, null 7») verleiht er der von ihm dokumentierten Räumung einer der spektakulärsten Schweizer Hausbesetzungen die angemessene Dramatik.

Ein positiver Nebeneffekt der filmischen Recyclingpraxis ist ausserdem, dass sich mit ihnen Probleme des Personenschutzes umgehen lassen. Wer mit der Veröffentlichung seiner Filmaufnahmen wartet, bis allfällige Verfahren eingestellt und die dokumentierten Aktionen ihre politische Brisanz verloren haben, der braucht keine juristischen Konsequenzen mehr zu fürchten – weder für sich noch seine Protagonisten. Trotzdem prägte die allgemeine Angst, die Videokassetten und Filmrollen könnten in die falschen Hände geraten, auch Filme wie Züri brännt und Berner Beben. Viele Aktivisten begegneten der Arbeit ihrer filmenden Mitstreiter mit Argwohn und formulierten klare Regeln, an die es sich zu halten galt. Es durfte nur aus Distanz gefilmt werden, mit weitem Aufnahmewinkel und wohlüberlegtem Bildausschnitt. Da damals das Tragen langer Haare als Tatbestand genügte, um von Polizisten abgeführt zu werden, wie Andreas Berger zu berichten weiss, entwickelten er und seine Zaff-Genossen sogar ein richtiges System zur Übergabe und Sicherstellung des abgedrehten Filmmaterials.

Die Einschränkung ihrer künstlerischen Freiheiten gehörte zu dem Preis, den Filmemacher wie Berger für ihre politische Arbeit zu zahlen hatten. Sie wirkte aber auch stilbildend: Weitwinkelaufnahmen Fahnen schwingender, Fäuste reckender Demonstranten in Wolken aus Tränengas sind aus dem szenischen Standardinventar von Besetzerfilmen genauso wenig wegzudenken wie die Nahaufnahmen vermummter, zur Unkenntlichkeit retuschierter Aktivisten oder knüppelnder Polizisten.

Video-Satyagraha der Neunzigerjahre

In den Neunzigerjahren mässigten sich die stadt- und wohnpolitischen Bewegungen und mit ihnen auch die Formen ihres (filmischen) Protests. Wohnungsnot und Unzufriedenheit hatten sich zwar nicht gelegt, aber die neue Generation junger Stadtbewohner hatte keine Lust mehr, gegen etwas anzukämpfen, das sich ohnehin nicht besiegen lässt. Und so zogen sie nicht mehr «gegen den Staat als solchen» ins Feld, sondern suchten innerhalb der Gesellschaft nach Möglichkeiten, sich den «ökonomischen Zwängen der Konsumgesellschaft» und den bürgerlichen Vorstellungen von Leben und Arbeiten zu entziehen.12 Die neue Strategie hiess Umwertung durch Besetzung und Umnutzung. Statt die bestehenden Strukturen anzugreifen, wurden sie kurzerhand «besetzt» und «umgenutzt».

Ein exemplarisches Beispiel dieser neuen Strategie ist Mick Dellers Videoperformance Müllers neue Wohnung (1994), die 15 Minuten aus der wohl einmaligen und legalen «Besetzung» einer Trambahn zeigt: Herr Müller und seine Freundin haben sich in der Linie 15 der Basler Verkehrsbetriebe einquartiert, nachdem ihnen ihre Wohnung gekündigt wurde. Während das Paar noch im Bett liegt, steigen die ersten Fahrgäste ein. Zunächst leicht überrascht, fügen sie sich schon bald in ihre Rolle und lassen sich von den beiden Trambewohnern zum gemeinsamen Frühstück einladen. «Wüsset Sie, für sechs Franken sechzig im Tag, könne mir vom Morge am halb sechsi bis am Morge am halbi eis im Trämli wohne», klärt Herr Müller eine neugierige ältere Dame auf. Es werden Gardinen aufgehängt, Kreuzworträtsel gelöst und Alltäglichkeiten ausgetauscht. Die Stimmung ist bestens, die Anteilnahme gross: «Fehlt eu susch no öppis für de Huushalt?», fragt eine Frau und ein Mann zückt sogar sein Portemonnaie.

Wohlwollend und mit überraschender Selbstverständlichkeit begegnen die «Trambesucher» ihren «charmante Gaschtgäber» – fast zu wohlwollend, wie der Basler Filmemacher heute meint.13 Nur eine Frau empört sich leise («Mir händ doch nid Fasnacht oder was isch los?») und unterstreicht damit den fiktionalen Rahmen des Videoprojekts, der diesen zu dem macht, was der Regisseur selbst als «Realanimation» bezeichnet: ein nicht nur filmisch dokumentiertes, sondern eigens für den Film initiiertes Ereignis, das die eindeutigen Züge einer Aufführung trägt.

Aus dem geringen Widerstand der Fahrgäste spricht daher noch lange keine wachsende Toleranz der Gesellschaft gegenüber alternativen Lebensweisen. Viel eher sind es die zunehmende Routine im Umgang mit den Medien und deren selbstverständliche Präsenz im Alltag, die der Film demonstriert. Dass die Notlage der beiden Trambewohner von ihren Mitfahrern und den Filmzuschauern ernst genommen wurde, darf daher bezweifelt werden, was aber nicht heisst, dass es Dellers mit seinem von Gandhis Satyagraha inspirierten, legalen und friedlichfreundlichen Konfrontationskurs nicht doch gelungen wäre, gesellschaftliche Missstände und Verhaltensmuster aufzudecken.

Müllers neue Wohnung wurde unter anderem im Schweizer Fernsehen und an den Solothurner Filmtagen gezeigt, wodurch dem Videofilmer gewissermassen eine zweite «Besetzung» gelang: das damals in den Augen vieler professioneller Filmemacher unrechtmässige Eindringen in den etablierten Schweizer Filmbetrieb. Die nicht- oder halbprofessionellen Bewegungsfilmer zogen nämlich nicht nur immer wieder das Misstrauen ihrer Genossen auf sich, sondern auch die Missgunst ihrer Kollegen. Als «wahre» Filmemacher mussten sie sich genauso beweisen wie als «wahre» Aktivisten. Man konnte schliesslich nicht beides sein, Aktivist und Beobachter, Kämpfer und Künstler.14 Doch genau das versuchten Bewegungsfilmer bis in die Neunzigerjahre hinein und manövrierten sich dadurch – zählt man die Polizei hinzu – gleich zwischen drei Fronten.

Der Besetzerfilm heute: Narzissmus im Digitalformat

Im Laufe der Neunzigerjahre lösten sich diese Fronten zunehmend auf. Die politisch resignierte oder versöhnte autonome Jugendbewegung der Achtzigerjahre zersplitterte und mit ihr auch die Besetzer(film)szene.15 Statt «Solidarisiere, Mitmarschiere!» lautet die Devise heute «Selbsterhaltung, Selbstverwirklichung, Selbstverteidigung».16 Es wird gefeiert statt demonstriert. Mit sogenannten «Kultursquats» und «Sauvagen»17 fordern die neuen Stadtpiraten ihr selbst erklärtes «Recht auf freie Entfaltung» und das «Ausleben der individuellen Bedürfnisse» ein und zelebrieren Bier trinkend und tanzend «die Versöhnung von Widerstand und Kommerz».18

Wo Mitscherlich noch nach einem Ausgleich zwischen den zur Gemeinschaft zwingenden und den individuelle Freiheit spendenden Erfahrungen sucht, zeigt sich die neue hedonistische Besetzerjugend kompromisslos: Im Zentrum ihrer Forderungen steht der persönliche Freiraum als Grundlage individuellen Glücksversprechens und Lustbefriedigung. «The right to party» (Beasty Boys) verdrängt die Lösung der «Wohnungsfrage» (Engels) und die Bewahrung des «community spirits» (Mitscherlich) von der politischen Prioritätenliste der Besetzer. Kultur-, Stadt- und Globalisierungskritik erscheinen im Dunst der berauschten Squatgemeinde oft mehr als Vorwand denn als ernst zu nehmender politischer Einwand.

Entsprechend spassorientiert und selbstbezogen geben sich auch die Video- und Handyschnipsel, die auf YouTube von einer nach wie vor lebendigen Besetzer(film)szene zeugen. Unter die eher konzeptlos und spontan wirkenden Podcasts, wie dem eingangs geschilderten Beitrag des Hardturm-Besetzers lobi200000, mischen sich auch komplexere Beiträge. Beispielsweise Villa Gorilla (DanielRamosIII, 2008), ein Film über «a bored day in Villa Gorilla, Zurich’s famous squat», der den Zuschauer mit den Zeilen «What to do today. Ain’t nothin to do ... but to be cool bitch» gleich zu Beginn vor der eigenen Belanglosigkeit warnt.19 Das Video besteht aus nicht viel mehr als ein paar coolen Posen vor dem Spiegel, einem Ausschnitt aus dem Alltag in den eigenen vier besetzen Wänden eines gelangweilten Trendsquatters. Anders als in den kollektiven Selbstporträts der Siebziger- und Achtzigerjahre sind es aber nicht mehr die alternativen Lebensentwürfe und politischen Forderungen der Besetzer, die in dieser doppelten parodistischen Selbstbespiegelung Gestalt annehmen, sondern der politische Leerlauf einer ichorientierten, nur noch punktuell vernetzten Squatkultur.

Was Podcasts wie Villa Gorilla zu Besetzerfilmen macht, sind also gerade das Fehlen politischer Inhalte und die Abwesenheit von Protest als Ausdruck der neuen Besetzergeneration.

Protest-PR

Seit kürzerer Zeit mehren sich aber auch wieder Versuche, die Szene politisch zu beleben und aus ihrer Isolation zu befreien. Zumindest in Zürich gelingt es stadtpolitischen Aktivisten immer häufiger, mit einer gezielten und professionalisierten Öffentlichkeitsarbeit mehrere hundert Leute zu mobilisieren und die Aufmerksamkeit etablierter Medien auf sich zu lenken.

Der neueste PR-Gag heisst «Fette-Mieten-Party» (FMP): «Also, es goht los. Es isch en Schirm i dä Türe, mir chönd is Huus!», informiert ein junger Mann mit dunkelblonder Perücke eine Schar bunt gekleideter Menschen in der kurzen Dokumentation der Aktion auf YouTube, die mit 2371 «Views» und acht «Text Comments» (Stand 9. 7. 2008, 10:35 Uhr) zu den besser «besuchten» Besetzerbroadcasts zählt.20 Ausgerüstet mit diversen Partyutensilien pilgert die Gruppe in Richtung einer für 5000 Franken ausgeschriebenen Vier-Zimmerwohnung, um an deren Besichtigungstermin eine «Party gegen fette Mieten & Wohnungsnot» zu feiern und damit – ganz legal und freundlich – auf die fehlgeleitete Zürcher Wohnungspolitik hinzuweisen. Das im Stil klassischer Fernsehreportagen gedrehte Video hat mit seinem distanziert informativen Off-Kommentar und den konventionellen Talking Heads kaum noch etwas mit den anarchischen Selbstdarstellungen früherer Besetzerkollektive zu tun. Es ist vielmehr ein Beispiel für das neue taktische und medienorientierte Vorgehen der Szene: Mit Internetforen, Filmen, Pressetexten und -bildern richten sich stadtpolitische Arbeitsgruppen wie das «stadt.labor» nicht länger nur an Gleichgesinnte. Über den Kreis der Aktivisten hinaus soll auch ein szenefremdes Publikum erreicht werden, um die Aufmerksamkeitswirkung der Aktionen zu verstärken – oft mit Erfolg, wie die breite und positive Berichterstattung über die FMPs und die Hardturmbesetzung erst kürzlich bewiesen hat. Dabei dürften für diesen Erfolg auch die Aktionen selbst ausschlaggebend sein, bei deren Konzeption und Durchführung die Aktivisten eine Strategie verfolgen, die bereits Mick Dellers Trambesetzung ins Fernsehen gebracht hat: Der Versuch, originell und mit friedlichen Mitteln, guten Willen zu beweisen und damit die Öffentlichkeit von der Harmlosigkeit, aber zugleich auch von der Dringlichkeit der eigenen Forderungen zu überzeugen.

Der heutige Besetzerfilm, wie er sich vor allem auf YouTube präsentiert, erfüllt also keine phatischen Funktionen mehr wie die kollektiven Selbstporträts der Siebziger- und Achtzigerjahre, mit denen sich die Bewegung ihrer selbst vergewisserte. Als unstrukturierte Handydokumentation von Protestpartys, filmischer Tagebucheintrag von Besetzern oder strategische PR-Massnahme zeugt er vielmehr von der Auflösung der Gemeinschaft, zu deren Stiftung er damals beigetragen hat, und verdeutlicht die «Gratwanderung zwischen Subkultur und Ausverkauf»,21 auf der sich die zersplitterte, zugleich narzisstische und öffentlichkeitsorientierte Haus- und Stadtbesetzerszene heute befindet.

Der Besetzerfilm als kulturelle und politische Praxis

Besetzerfilme sind eng mit der Geschichte stadt- und wohnpolitischer Bewegungen verknüpft und somit auch mit der Geschichte der Städte, in denen sich deren Protest ereignet. Sie dienen den Bewegungen als Bühne zur Selbstdarstellung, verleihen aber auch der Stadt «mediale Prominenz» und lassen dadurch nicht nur sich selbst zum kulturellen Gedächtnisraum und zur Chiffre der Bewegung werden, sondern auch die von den Aktivisten umkämpften Strassen, Häuser und Plätze.22

Als Formen einer Gegenöffentlichkeit veranlassten Besetzerfilme ihre Macher immer wieder zu formalen, selbstreflexiven Experimenten, die den gesellschaftlichen Gegenentwürfen der Bewegung und deren Kultur- und Medienkritik Ausdruck verliehen. Dabei geriet der Bewegungsfilmer der Siebziger- und Achtzigerjahre in seiner Doppelfunktion als Aktivist und Dokumentarist in einen Rollenkonflikt, der sich erst Anfang der Neunzigerjahre zusammen mit der Bewegung löste. In der Folge verringerten sich die Berührungsängste mit den Massenmedien, und es häuften sich die Versuche, mit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit sowohl die mediale Resonanz der Aktionen zu erhöhen, als auch der zunehmenden Zersplitterung der Szene entgegenzuwirken.

Heute zeigt sich der Besetzerfilm vor allem auf Internetplattformen wie YouTube, wo er vielfältig und offen die Wiederbelebung der politischen Stadtkultur zelebriert. Denn so sehr sich die Stadt und ihre Bewohner auch verändert haben mögen, das Bedürfnis nach kulturellen Freiräumen und billigem Wohnraum ist geblieben, genauso wie die Lust, sich diesen Freiraum zu nehmen und dabei den Regel- und Gesetzesbruch filmisch zu dokumentieren. Und so hat sich der Besetzerfilm im Laufe der Jahre zwar thematisch und formal gewandelt, nicht aber in seiner Funktion als kulturelle und politische Praxis: ob als Gruppenporträt mit politischem Gebrauchswert, als narzisstische Selbststilisierung im Handyformat oder massentaugliche Videokampagne – der Besetzerfilm bleibt Ausdruck und Instrument stadtpolitischen Protests.

Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden (1965), 8. Auflage, Frankfurt am Main 1969.

Mitscherlich (wie Anm. 1), S. 8.

Siehe http://www.youtube.com/watch?v=z..., zuletzt besucht am 27.7.2008.

Zur Geschichte der stadt- und wohnpolitischen Bewegungen vgl. Thomas Stahel, Wo-Wo-Wonige: Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968, Zürich 2006.

Zur Stadt als Protestraum vgl. Angelika Linke / Jakob Tanner, «Zürich 1968: Die Stadt als Protestraum», in: Angelika Linke / Joachim Scharloth (Hg.), Der Zürcher Sommer 1968: Zwischen Krawall, Utopie und Bürgersinn, Zürich 2008, S. 11–22.

Linke/Tanner (wie Anm. 5), S. 18.

Karl Sierek, zitiert nach Alexandra Schneider, «Die Stars sind wir»: Heimkino als filmische Praxis, Marburg 2004, S. 32 ff.

Alexandra Schneider, «Autosonntag (CH 1930): Eine Filmsafari im Klöntal», in: Vinzenz Hediger et al. (Hg.), Home Stories: Neue Studien zu Film und Kino in der Schweiz / Nouvelles approches du cinéma et du film en Suisse, Marburg 2001, S. 85 ff.

Der Filmemacher und ehemalige AJZ-Aktivist Andreas Berger in einem Gespräch mit der Autorin, geführt am 9.7.2008.

Roger Odin, «Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen: Elemente zu einem semio-pragmatischen Ansatz», übersetzt von Barbara Heber-Schärer, in: montage/av 2 (2002), S. 53.

Siehe http://www.youtube.com/watch?v=x..., zuletzt besucht am 27.7.2008.

Stahel (wie Anm. 4), S. 335.

Mick Dellers in einem Gespräch mit der Autorin, geführt am 9.7.2008.

Berger (wie Anm. 9).

Vgl. Stahel (wie Anm. 4), S. 334.

Egoistisches Manifest (Egocity, Zürich 2002), zitiert nach Stahel (wie Anm. 4), S. 336.

«Squat», der englische Ausdruck für ein besetztes Haus, wird immer mehr auch im Deutschen gebraucht. «Sauvagen» sind Protestpartys auf Plätzen oder in Räumlichkeiten, die eigens für diese Partys vorübergehend besetzt werden. Vgl. Stahel (wie Anm. 4), S. 334.

Christian Schmid, «Wir wollen die ganze Stadt! Die Achtziger Bewegung und die urbane Frage», in: Heinz Nigg (Hg.), Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen, Zürich 2001, S. 364.

Siehe http://www.youtube.com/watch?v=q..., zuletzt besucht am 27.7.2008.

Party-Protest gegen Wohnungsnot & fette Mieten, Zürich (fetteXmietenXparty, 2008): http://www.youtube.com/watch?v= 1iYm1Es- B8hE, zuletzt besucht am 27.7.2008.

Stahel (wie Anm. 4), S. 339.

Vgl. Linke/Tanner (wie Anm. 5), S. 20.

Julia Zutavern
*1980, ist Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und Redaktionsmitglied von Montage AV. Ihre Dissertation Der Bewegungsfilm. Die Politik der Film- und Videoarbeit im Kontext sozialer Bewegungen erscheint im Sommer 2014. www.schueren-verlag.de
(Stand: 2014)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]