Nachdem Jacques Tati 1958 mit Mon oncle sein neustes Werk in die Kinos gebracht hat, trägt er sich mit dem Gedanken, von Monsieur Hulot Abschied zu nehmen. Ausgerechnet von Hulot, dem durch Tati selbst verkörperten komischen Helden, um den herum er seine letzten beiden erfolgreichen Filmkomödien arrangiert hat – ein kaum vorstellbarer Abschied. André Bazin und François Truffaut müssen dies jedoch entgegenehmen, als er ihnen in einem Interview für die Cahiers du cinéma im Mai 1958 erklärt: «Je voudrais arriver à faire un film, je ne le cache pas, sans le personnage d’Hulot, rien qu’avec des gens que je vois, que j’observe, que je côtoie dans la rue et leur prouver que, malgré tout, dans la semaine ou dans le mois, il leur arrive toujours quelque chose, et que l’effet comique appartient à tout le monde.»1
Fast zehn Jahre später zeigt sich zur Freude des Publikums, dass Tati noch immer nicht auf jenen liebenswürdigen Monsieur Hulot verzichten kann, der in seiner naiven Hilfsbereitschaft von der einen zur nächsten grossartigen Katastrophe durchs (Film)Leben stakt. Trotzdem muss man angesichts seines nächsten, erst 1967 fertiggestellten Films Playtime konstatieren, dass Hulot hier nicht mehr als alleinige dramaturgische Triebfeder fungiert. Er wird in dieser Funktion von einem überaus präsenten städtischen Umfeld abgelöst, das durch seinen direkten Einfluss auf das Handeln sämtlicher Akteure seinerseits eine Art Hauptfigur darstellt.
Es ist in Playtime Tatis Vision der modernen Grossstadt, um die sich alles dreht, die die Figuren an- und umtreibt, gruppiert und ebenso definiert wie irritiert. Darunter erscheint der unverkennbare Hulot immerhin noch als Fixpunkt für das Publikum. Auch wenn kleine Verwirrspiele mit dessen typischer Silhouette getrieben werden: Die Kamera folgt mitunter Männern in Regenmäntelchen, zu kurz geratenen Hosen und Pfeife, die sich erst beim zweiten Hinschauen als andere Personen entpuppen (Abb. 1). So gerät im Gewimmel der Grossstadt sogar Hulot zur austauschbaren Figur. Obschon er in den ansonsten lose mäandrierenden Erzählsträngen zumindest gewisse Handlungabsichten hegt – er versucht ständig, einen Personalbeauftragten wegen einer Anstellung zu treffen –, zeigt sich Hulot in seinen Aktionen letztlich wie alle anderen Figuren von einem durchkonstruierten urbanen Organismus getrieben und bestimmt. Ein dominierender Organismus, an dessen detailreicher Ausgestaltung Tati jahrelang gearbeitet hat. Vor Hulot, vor sämtlichen Figurenzeichnungen hat er sich bei Playtime um die filmische Erschaffung der Erzählwelt, der Filmstadt, gekümmert: wie sie aussieht, wie sie sich bewegt, wie sie klingt.
Schon in Mon oncle kommt Bauten und Gegenständen eine hohe Aufmerksamkeit zu. Vor allem mit ihnen erarbeitet Tati den in diesem Werk überdeutlich proklamierten, aber mit wunderbaren Details gespickten Gegensatz zwischen alten und neuen Lebenswelten: von romantisierendem Pariser Quartierleben zwischen bröckelnden Altbaufassaden auf der einen Seite bis zur in die Verkehrswege durchgeplanten aseptischen Vorstadtwelt der neuen Einfamilienhäuser auf der anderen. Die Bewohner erfüllen beiderseits genau das Klischee ihres Umfeldes: Hier die gelassen und chaotisch in den Tag lebende Quartiergemeinschaft; dort die aufstrebenden, isolierten Technokraten, die im Grunde mit jeder Handlung angestrengt versuchen, dem sie umgebenden Design gerecht zu werden.
In Playtime erhalten die Gestaltungsmittel Architektur und Ausstattung noch mehr Gewicht. So sind es die Bauten, die präzise vorgeben, wie eine schnatternde Touristengruppe über endlose Flughafengänge und Rolltreppen geschleust und auf direktem Weg in bereitstehende Busse verfrachtet wird, die sie zu ihren Hotels bringen (Abb. 2). Den ganzen Film hindurch werden diese amerikanischen Touristinnen nicht ins historische Paris mit seinen alten Monumenten vordringen, sondern fortwährend durch ewig gleiche Strassenzüge und Neubauten geführt.
Wenn man so will, hat Tati in Playtime seine Jahre zuvor geäusserte Idee, durch die genaue Beobachtung der Menschen in ihrem Alltag die wunderbarste Situationskomik zu erzeugen, radikal weiterentwickelt. Er geht nicht einfach mit der Kamera auf die Strasse, sondern baut sich sozusagen eine klinisch-urbane Versuchsanordnung zur Untersuchung des Geschehens in modernen architektonischen Lebensräumen und -konzepten. Einererseits wird das Funktionieren und Verhalten einer möglichst topmodern und international anmutenden City ausgetestet. Andererseits geht es in Playtime darum, mit filmischen Mitteln zu demonstrieren, wie sich die Menschen in der modernen Grossstadt verhalten: wie sie zuweilen fast schwebend in Architektur- und Designwelten einfliessen, wie sie aber auch über Technik straucheln und in den neuen Wohn- und Arbeitsmaschinen umwerfend komisch zu agieren beginnen.
Um die gewünschten Effekte zu erzielen, kann sich Tati nicht mit einer konventionellen Filmkulisse aus Holzlatten und bemalter Pappe zufrieden geben. Allerdings erhält er auch keine Dreherlaubnis, um in der Empfangshalle des Flughafens Orly zu drehen, ausserdem werden ihm Aufnahmearbeiten in existierenden Bürokomplexen verwehrt, weil die Arbeit dort zu lange niedergelegt werden müsste. So beschliesst er, zusammen mit dem Architekten und Art Director Eugène Roman eine unter anderem aus Stahl und Beton konstruierte Filmstadt gleich selbst zu planen und zu bauen.2 In einer für die damalige französische Filmindustrie ungewöhnlichen Grössenordnung wird auf einem riesigen Grundstück im Südwesten von Paris von 1964 bis 1965 ein Ensemble von Häusern und Strassenfluchten errichtet, das schon bald als «Tativille» zu Reden gibt. Der Regisseur erklärt später dazu: «Il a donc fallu niveler le terrain, faire venir des bulldozers, et de file en aiguille on a purement et simplement construit une ville [...].»3 Für die Pariser Bevölkerung nehmen die mächtigen Gebäudekomplexe ausserhalb des Zentrums in gewisser Weise vorweg, was zu diesem Zeitpunkt zwar schon geplant ist, aber erst ab 1970 verwirklicht wird: die Hochhausvorstadt und umstrittene Architekturvision «La Défense».
Wegen finanzieller und technischer Grenzen kann nicht alles, was Tati vorschwebt, in Tativille realisiert werden. Aber es entstehen immerhin zwei Hauptgebäude, die mit Heizungen, Wasserleitungen und Rolltreppen fast so funktionstüchtig sind, dass man in ihnen arbeiten und wohnen könnte. Auch werden auf Rädern verschiebbare Häuser und Hausteile erstellt, die je nach Kameraperspektive so positioniert werden, dass sich ein dichtes komplettes Stadtbild ergibt. Ausserdem sind die Fassadenkonstruktionen so gebaut, dass sie exakt berechnete optische Verkürzungen aufweisen, die bei genauer Platzierung in der fotografischen Aufnahme die Höhenwirkung der Grossstadtdimensionen steigern.
In den Filmaufnahmen zeigt sich, dass die Entwürfe und Ausführungen aus dem Blickwinkel der Sechzigerjahre durchaus dem Anspruch gerecht werden, so etwas wie einen modernen Stil zu verkörpern. Die Aufrisse der Häuser orientieren sich merklich an den rationalen flächigen Glas- und Metallfassaden, die schon in den Fünfzigerjahren durch Architekten wie Le Corbusier starke internationale Verbreitung fanden und – wie die Rezeption in diesem und anderen Filmen zeigt – lange als Inbegriff der architektonischen Nachkriegsmoderne galten. Die Vorgehensweise beim Entwurf dürfte daher ähnlich gewesen sein wie bei Mon oncle, als Tati und der Maler Jacques Lagrange aus zeitgenössischen Architekturzeitschriften Hausansichten herausschnitten und sich so die moderne Villa zunächst auf Papier «collagiert» haben, um ausgehend von diesem Vorbild die Filmkulisse bauen zu können.4
Auf eine ebenso witzige wie unmissverständlich formulierte Kritik an der internationalen Austauschbarkeit solcher Architekturtrends stösst man in Playtime im Reisebüro. Dort bewirbt eine deutlich sichtbare Serie von Tourismusplakaten verschiedene Destinationen wie Hawaii, Mexiko und Stockholm mit identischen Stahl- und Glashochhäusern. Reisen die besagten amerikanischen Touristinnen also auf ihrer Europatour nach Stockholm weiter, werden sie wieder nichts als Tativille zu Gesicht bekommen. Vielleicht haben sie hin und wieder das Glück, dass sie auch dort in den Spiegelungen der Glastüren und Fenster ein historisches Bauwerk aufblitzen sehen, genauso wie sie in Paris für kurze Momente den Eiffelturm oder den Arc de Triomphe erspähen können.
Was die zuweilen unsinnigen Funktionen und Ausstattungen der Häuser in Tativille betrifft, wird in vielen Szenen der Umgang mit einer überfordernden Technik parodiert: beispielsweise das gigantische Armaturenbrett, mit dessen Hilfe ein Pförtner in fast mysteriöser Weise kommunizieren und die Besucheranmeldung durchführen kann. Das Chromstahlensemble aus Knöpfen, Schaltern und Leuchtanzeigen ist freilich derart gewaltig, dass selbst der Pförtner es fast nicht zu berühren wagt und sichtlich froh ist, die Durchgabe einer Botschaft ohne Schaden an sich und dem Gerät bewerkstelligt zu haben (Abb. 3). Andere Figuren, wie die Telefonistin in ihrer transparenten Box inmitten von Bürokammern, führen in stupend überdrehter Behändigkeit vor, dass man sich in seinen alltäglichen Arbeitsverrichtungen vollständig an die unmenschlich automatisierten Bewegungsabläufe von Technik und Produktdesign angleichen kann (Abb. 4).
Um die merkwürdigsten und komischsten Auswirkungen der Architektur vorführen zu können, bedient sich Tati besonders der Choreografie der Figurenbewegungen. Er zeigt, dass erst das Abschreiten und Durchmessen von Räumen in unterschiedlichen Tempi und Richtungen deren Dimension und Charakter ersichtlich machen. Er nutzt die Empfangshalle des Flughafens, die Flure des Bürogebäudes oder eine Ausstellungsetage zu grandiosen Studien über verschiedene Gangarten, Geschwindigkeiten und andere überraschende Möglichkeiten, diese Arten von Verbindungsräumen zu durchqueren. So kann man entdecken, dass sich die Art der Architektur auf die Gehrichtung überträgt und sich die Figuren durch die breiten Gänge und riesigen Eingangshallen kaum noch in Kurven bewegen: So exakt die architektonischen Räume in rechten Winkeln angelegt sind, so diszipliniert folgen die Menschen in Tativille deren Verlauf und beginnen damit in gewisser Weise eine Identität der modernen Formensprache anzunehmen.
Dass man sich in der Längeneinschätzung der entleerten Flure auch gewaltig täuschen kann, ist eine Erfahrung, die wir mit Hulot machen, als er auf den Personalbeauftragten wartet. Sobald dessen Schritte von ferne leise hörbar werden, er ganz hinten in den Flur einbiegt und sich damit auch visuell ankündigt, will der stets beflissene Hulot schon von seinem Sessel aufspringen und sich bereitmachen. Der Pförtner gibt ihm jedoch zu verstehen, ruhig sitzen zu bleiben und weiter zu warten, während er selber unerlaubterweise, aber genüsslich seine Zigarre weiterraucht. Das gleiche Spiel wiederholt sich nochmals, da der offensichtlich nicht an diese Dimensionen gewöhnte Hulot die Ankunftszeit des Personalbeauftragten überhaupt nicht einschätzen kann. Wie der Wartende wird auch das Publikum auf die Folter gespannt: Der Mann scheint uns eine Ewigkeit auf diesem Flur entgegenzukommen (Abb. 5).
Solche Raum- und Bewegungseffekte stellen sich besonders bei den aus grösseren Distanzen und mit hoher Tiefenschärfe fotografierten Totalen ein, die im gewählten 70-mm-Breitwandformat besonders brillante Ansichten hervorbringen. Etwa die Blicke in die Weiten der Empfangshalle des Flughafens (Abb. 6) oder die Obersicht auf die ganze Etage mit den unzähligen kleinen Bürokammern (Abb. 7).5
Bemerkenswert ist aber auch die unkonventionelle Art und Weise, wie Tati mit diesen Aufnahmen umgeht. Statt die Kamera zu bewegen, um näher an die vielen Details heranzufahren, oder statt gemäss klassischen Montagemustern von grossen in kleinere Einstellungsgrössen und wieder zurück zu schneiden, bleibt die Kamera in Playtime meist starr und ungewöhnlich lange auf die ganze Masse an visuellen Gegebenheiten gerichtet. Um die Blicke des Publikums dennoch zu lenken, ist es neben der schon erwähnten Figurenbewegung vor allem dem Ton vorbehalten, Aufmerksamkeit zu erregen und Details klanglich herauszuheben. Insofern ist Tativille nicht nur eine visuelle Konstruktion, sondern auch eine Stadt aus Klängen.
Tatsächlich hat Tati seine Filmstadt erst in der Nachsynchronisation fertiggebaut, denn der Ton ist jenes Element, das wesentlich zum verwunderlichen und oftmals ins Komische überdrehten Erlebnis der stilistisch so modernen Metropole beiträgt. Entgegen konventioneller Tonabmischungen sind es jedoch nicht die Dialoge, die klangliche Priorität haben, sondern die ansonsten meist als akustischer Hintergrund der Bilder dienenden Geräusche. Tati benutzt sie vor allem dazu, die Aufmerksamkeit zu lenken und klangliche Spannungen zum Gesehenen aufzubauen. So heben sie sich in den erwähnten Flughafenhallen immer wieder überraschend deutlich von der Grundatmosphäre ab, um uns von einer Figur zur anderen blicken lassen. Beispielsweise muss ein Offizier seine Stiefel beim Marschieren so knallen lassen, dass er sogar das aufdringliche Gestöckel der Stewardessen übertönt. Wirklich unangenehm wird er in seiner Art aber, als er mit eindringlicher Stimme einen Soldaten derart zusammenstaucht, dass die Menschen in der Halle erschrecken und augenblicklich verstummen. Auch das Geschrei eines Babys lässt uns aufhorchen: Es sorgt dafür, dass wir das Kind selbst im grössten Gedränge am Gate lokalisieren können und den Weg, den es mit seiner Mutter durch die Menge unternimmt, nicht aus den Augen verlieren.6
Beim Herunterblicken auf das Labyrinth aus Bürokammern wiederum ist es das Auf- und Zuklappen von Ablagefächern oder der Ausruf der Telefonistin, der uns die eine oder andere kleine Szene aus dem Gewimmel an Räumen und Aktionen fokussieren lässt. Und trotz des nervösen Klangteppichs aus Schreibmaschinengeklapper und Stimmengewirr dringen sogar einzelne verständliche Geschäftsphrasen aus Telefongesprächen heraus: «... would you give me the exact figures ...» Dieses Beispiel zeigt, dass Tati nicht nur mit den Geräuschen, sondern auch mit den Dialogen sehr eigenwillig umgeht, indem er mit den «graduellen Übergängen zwischen den Polen unsinniger Sprachklang einerseits und bedeutungstragender Sprachklang andererseits» spielt.7 Da der Dialog in Playtime fast vollständig der Funktion enthoben ist, als Informationsträger der Erzählung zu dienen, setzt ihn Tati vor allem dazu ein, die Handlungen von Einzelfiguren und Gruppen auch klanglich auszugestalten. Manchmal ist die Bedeutung von Gesprächsfetzen deutlich hörbar, im nächsten Moment kann derselbe Dialog aber wieder in ein breites Gemurmel abtauchen, das im Rhythmus höchstens noch Hinweise auf den Erregungsgrad bestimmter Figuren geben kann. Unterschiedliche Sprachen sind zwar stellenweise durchaus erkennbar – Französisch, Englisch, Deutsch –, aber vereinzelte Wortfolgen müssen auch hier genügen, um die Globalisierung des Tourismus und der Wirtschaftwelt in Tativille anzudeuten. Dass sich die Leute in diesem Umfeld nicht mehr wirklich etwas zu sagen haben oder schon gar nicht mehr dazu kommen sich etwas zu sagen, ist als akustisch komponierter Fortschrittspessimismus Tatis kaum überhörbar.
Letztlich entsteht Tatis Stadtvision auf der Leinwand unter Einbezug mehrerer zum Teil gegenläufiger gestalterischer Perspektiven. Denn eigentlich ist der Architekturstil von Tativille ja absolut auf der Höhe der Zeit. Er ist als solcher nicht überzeichnet, sondern strahlt in beeindruckender Perfektion den Eindruck des «Neuen» aus. Wenn Playtime trotzdem als deutliche Kritik an solchen neu entworfenen Lebensräumen gelesen wird, ist das nicht auf das visuelle Design von Tativille zurückzuführen, sondern auf die spezifisch filmische Konstruktion der modernen Stadt. Es sind filmische Gestaltungsmittel wie die Choreografie der Figurenbewegung und der Ton, die die urbane visuelle Erscheinung unterlaufen. Mit ihnen werden die Bauten und Räume ebenso witzig wie entlarvend bespielt und gewissermassen auf ihren Einfluss auf das Verhalten der Menschen untersucht. Mit ihnen liefert Tati einen treffenden visuellen und akustischen Kommentar zum Leben im von ihm selbst in akribischer Arbeit erstellten Tativille.