BARBARA FLÜCKIGER

STÄDTEBILDER AUS DEM COMPUTER

ESSAY

Venetie MD – so lautet der Titel eines der bahnbrechendsten Städtebilder der Geschichte. Es handelt sich um einen Holzschnitt aus dem Jahr 1500 im unglaublichen Format 135 ⨯ 282 cm, als dessen künstlerischer Urheber der Maler Jacopo de’ Barbari und als konzeptionelle Instanz der deutsche Verleger Anton Kolb gelten. Zu sehen ist auf diesem Bild Venedig (Abb. 1), das damals weltweit führende Handelszentrum, das nach der historischen Wende der «Entdeckung» Amerikas in Gefahr war, diese Vormachtstellung zu verlieren.

Bahnbrechend an diesem Bild ist die Darstellung einer Stadt als Gesamtgefüge – im wahrsten Sinne eine Stadttotale – und ebenso verblüffend ist die unglaubliche Genauigkeit der Darstellung, die von einer ausgereiften Vermessungskunst zeugt. Noch überraschender aber ist die Vogelperspektive, ein Blickpunkt, den man damals physisch überhaupt nicht einnehmen konnte, weder mit natürlichen noch mit technischen Mitteln. Die Perspektive war deshalb eine rein mentale, eine gedachte Anordnung, die ein überaus komplexes Gebilde systematisch ordnete und einem hypothetischen Betrachter zuschrieb. Neben der senkrechten Kartenprojektion etablierte sich in der Folge die Vogelschau mehr und mehr zur klassischen Form des Stadtbildes.

Das kühne Projekt war sowohl logistisch als auch von seiner theoretischen Konzeption her äusserst anspruchsvoll. Es erforderte nicht nur ein Heer von Mitarbeitern, die Daten erhoben und zusammentrugen, es erforderte vor allem auch ein fundiertes mathematisches und geometrisches Wissen, um die Vielzahl von Informationen miteinander zu verknüpfen und aus den einzelnen Daten ein stimmiges Ganzes herzustellen. Die Voraussetzungen dafür hatten Renaissance-Maler wie Leon Battista Alberti, Albrecht Dürer und Leonardo da Vinci soeben geschaffen. Sie unternahmen genauste Studien zur geometrischen Beziehung zwischen der Abbildung und ihrem Gegenstand. Sie erfanden oder nutzten Werkzeuge, um diese Beziehung systematisch zu erfassen, und legten damit den Grundstein, die Malerei aus der bis dahin vorherrschenden symbolisch-religiösen Ordnung zu lösen und für eine neue geistige Ordnung zu öffnen.

Nun mag es überraschen, dass ein Essay zu computergenerierten Städtebildern mit einem Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert beginnt. Doch sind die Beziehungen bedeutsam, wenn auch selbstverständlich keineswegs umfassend. Auch bei der Herstellung von computergenerierten Bildern muss eine Vielzahl von Daten erhoben werden. Diese Daten müssen in weiteren Schritten systematisiert und in einen Zusammenhang gebracht werden. Vor allem braucht es eine zentrale künstlerische Vision, welche die disparaten Elemente in ein plausibel wirkendes Ganzes überführt, das der Betrachter als Bild wahrnimmt. Anders als in der Fotografie, in welcher ein technischer Apparat durch seine materielle Anordnung diese ordnende Tätigkeit nach den Gesetzen der Optik übernimmt und eine physikalische Ausgangsstruktur mittels impliziter Eigenschaften des Aufzeichnungsmaterials in ein Bild transformiert, müssen Objekte im Computer explizit bestimmt und anhand ebenso explizit zu definierender Regeln im finalen, Rendern genannten Prozess zu einem Bild verrechnet werden. Wie bei Venetie MD ist eine Vielzahl von Spezialisten mit unterschiedlichen Aufgaben beschäftigt. Deshalb muss eine leitende Instanz die Herstellung steuern und die Teilbereiche koordinieren.

Von historischen und unmöglichen Städten

Wann immer von computergenerierten Bildern im Film die Rede ist, stehen ökonomische Faktoren im Vordergrund. Diese Bilder – so heisst es – würden im Vergleich zu Live-Action-Aufnahmen massiv Kosten einsparen. Üblicherweise wird jedoch diese Rechnung nicht gemacht, weil sich in den allermeisten Fällen die Frage überhaupt nicht stellt. Denn die analogen oder digitalen «Trickaufnahmen» werden dann eingesetzt, wenn sich die gewünschten Umwelten, Objekte oder Figuren entweder nicht finden lassen, wenn sie für Dreharbeiten nicht zur Verfügung stehen, wenn man sie vernichten muss oder sie in einer Art und Weise durchmessen will, die den physikalischen Gesetzen widerspricht, an die eine materielle Kamera gebunden ist. Die Gründe, computergenerierte Bilder einzusetzen, können zudem rein ästhetischer Natur sein mit dem Ziel, einen der narrativen Intention optimal angepassten Look zu erzeugen.

Historische Städte wie das alte Rom in Gladiator (Ridley Scott, USA 2000), Paris an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Moulin Rouge! (Baz Luhrmann, USA/AUS 2001), eine viktorianisch angehauchte Version von London in Sweeney Todd (Tim Burton, GB 2007) oder schon Kabul in den 1970er-Jahren in The Kite Runner (Marc Forster, USA 2007): Diese Städte lassen sich so nicht mehr finden. Und so wie sie einer verlorenen Zeit angehören, sind zukünftige oder fantastische Städte allenfalls als Projektionen zu denken und entsprechend in den Film einzubringen: Washington im Jahre 2054 in Minority Report (Steven Spielberg, USA 2002), Chicago 2035 in I, Robot (Alex Proyas, USA 2004), Gotham City in einer unbestimmten Periode in Batman Begins (Christopher Nolan, USA 2005). Ausserdem lassen sich Wahrzeichen wie der Times Square in New York selbst mit dem grosszügigsten Budget nicht für Dreharbeiten sperren, müssen also wie für Spider-Man (Sam Raimi, USA 2002) im Computer als 3D-Struktur nachgebaut werden, wenn man sie im Film bespielen will. Und wenn Twister Los Angeles dem Erdboden gleich machen oder gigantische Fluten New York überrollen und am Ende eine Klimakatastrophe die ganze Stadt in Eis und Schnee hüllen soll wie in The Day After Tomorrow (Roland Emmerich, USA 2004), sind Computerspezialisten gefragt. Dasselbe gilt, wenn der Kopf einer anarchistischen Gruppe in Fight Club (David Fincher, USA 1999) plant, den Business District einer globalisierten Stadt als Symbol des Kapitalismus in Schutt und Asche zu legen. Ebenfalls in Fight Club sind jene stilbildenden, schwerelosen Kameraflüge – sogenannte Rides – zu finden, die mit Höchstgeschwindigkeit durch die dreidimensionalen Räume sausen – auch durch digitale Nachbildungen historisch gewachsener Stadtstrukturen wie in Moulin Rouge! oder Sweeney Todd. Schliesslich sind alle jene Filme zu nennen, die vollständig in einer Blue- oder Greenscreen-Umgebung entstanden sind. Für diese Werke muss man die gesamte Umwelt im Computer entwerfen. Sie erlauben deshalb ein Höchstmass an künstlerischer Freiheit und haben sich nicht oder nur entfernt an die Gesetze des etablierten Fotorealismus zu halten. Oft entwickeln sie eine eigenwillige, sehr stilisierte Ästhetik: Immortel (ad Vitam) (Enki Bilal, F/I/GB 2004), Sin City (Frank Miller, Robert Rodriguez, USA 2005), Sky Captain and the World of Tomorrow (Kerry Conran, USA 2004) oder Casshern (Japan 2004, Kazuaki Kiriya).

Schon seit der Frühzeit des Films haben sich Techniken entwickelt, vorgefundene Räume zu erweitern, zu verändern oder neue Räume von Grund auf zu entwerfen. Es ist hier nicht der Ort, diese Geschichte aufzurollen. Vielmehr scheint es mir angebracht, zunächst die Kontinuität sowohl der ästhetisch-narrativen Zielsetzungen als auch der Verfahren zu ihrer Umsetzung zu betonen. Denn zumeist steht der Revolutionsgedanke im Fokus, wenn es um den Umbruch von analogen zu digitalen Techniken zur Modifikation des filmischen Raums geht. Mattepaintings, Glasvorsatzmalereien, Modellbauten – dies alles waren Präfigurationen der heute bestehenden computergenerierten Visual Effects. Darüber hinaus ist es keineswegs so, dass die traditionellen Verfahren ausgedient hätten, sondern es hat sich ein überaus hybrides Feld entwickelt, in welchem althergebrachte neben neuesten Techniken koexistieren. Ein genauer Blick auf das umfangreiche Korpus1 meiner Forschungsarbeit zu computergenerierten Visual Effects zeigt sogar, dass erst im 21. Jahrhundert Städte in grösserem Ausmass mittels Computern generiert wurden. Noch in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre waren Modellbauten und Mattepaintings die Techniken der Wahl. In The Fifth Element (Luc Besson, F/USA 1997), ja sogar noch in Peter Pan (P. J. Hogan, USA/GB 2003) sowie in der Lord of the Rings-Trilogie (Peter Jackson, NZ/USA 2001–2003) entstanden die Städte als gebaute Miniaturen, die lediglich mit digitalen Mitteln belebt wurden, mit Verkehrsströmen, mit digitalen Figuren und Pferden, mit Rauch aus Kaminen, Nebelschwaden und weiteren atmosphärischen Effekten. Damit lässt sich eine direkte Linie ziehen zu den wohl emblematischsten Städtebildern der Filmgeschichte, zu Metropolis (Fritz Lang, D 1927) und Blade Runner (Ridley Scott, USA 1982).

Dystopische Visionen ins Licht gesetzt

Während in Metropolis die als Modell gebaute Stadt noch von einer grossen Anzahl von Helfern in Stop-Motion belebt werden musste, indem die Autos und Flugzeuge Bild für Bild nach einem genauesten Plan millimeterweise nach vorne bewegt wurden, kamen in Blade Runner schon computergesteuerte Motion-Control-Aufnahmen zum Einsatz. Diese erlaubten eine komplexe Choreografie der Stadt und ihrer filmischen Darstellung, erlösten mithin die klassisch-statischen Bilder aus ihrer Starre und erzeugten einen komplexen, atmenden Stadtorganismus, der bis heute auch den kritischsten Blicken standhält. Viele Eigenschaften dieser Megalopolis, die sich aus der gedachten Entwicklung der zukünftigen Gesellschaft ergaben, führten zu einem dystopischen Bild der Stadt im Jahr 2020, einem völligen Overkill, der geprägt war von einem kaum durchdringbaren Dunst aus Abgasnebeln, von einem ubiquitären Verkehr auf dem Boden und in der Luft und von fast permanenter Dunkelheit. Wie natürlich unterstützten diese Eigenschaften die Integration der Modellbauten in das Gesamtgefüge des urbanen Raums – Nebel und Dunkelheit gelten seit jeher als optimale Mittel, die Schwachstellen der Tricktechnik zu verhüllen. Eine Fülle von bewegten Lichtquellen – auf riesige Bildschirme projizierte flimmernde Werbespots, blinkende Neonlichter und die zahlreichen Schweinwerfer der Transportmittel – belebte zudem das Stadtbild, erzeugte einen etwas irrealen, multikulturellen Look und führte zu ästhetischer Dichte, die direkt mit dem überbordenden Bevölkerungswachstum in Beziehung zu stehen schien. Zwar schlossen sich die Stadtbilder der Computerära zunächst an diese Ikonografie dieses mit – abgesehen von Motion Control – vollständig analogen Mitteln entstandenen Films an. Paradigmatisch dafür sind Filme wie The Crow (Alex Proyas, USA 1994), Judge Dredd (Danny Cannon, USA 1995) oder Dark City (Alex Proyas, USA 1998). Aber schon The Fifth Element zeigt ebenfalls eine Stadt, die zwar in der Tiefe zunehmend im Abgasnebel versinkt, aber von einem fahlen Seitenlicht erhellt wird (Abb. 2). Tief in den Schluchten des Modellbaus von New York im 23. Jahrhundert ergiesst sich der computergenerierte Verkehr, erweitert um fliegende Autos, deren Ähnlichkeit zu den Spinner genannten Flugobjekten aus Blade Runner überzufällig ist, sowie andere vor Greenscreen aufgenommene Objekte. Eine völlig computergenerierte Stadt war damals – immerhin 1997 – aus Gründen der zur Verfügung stehenden Datenkapazität noch nicht möglich.

Seither scheint es ein oft angesprochenes Ziel der Visual-Effects-Spezialisten zu sein, eine völlig fotorealistisch wirkende Stadt in vollem Sonnenschein mit allenfalls minimalem Dunst in der Ferne darzustellen. Die erste Stadt, die – zumindest in dem von mir untersuchten Korpus – fast hyperrealistisch scharf in gleissendem Sonnenlicht aus den Wolken auftaucht, ist das alte Rom in Gladiator (Abb. 3). Die Exposition – als Flug über die Stadt inszeniert – weist deutliche Parallelen zu Leni Riefenstahls Triumph des Willens (D 1935) auf und orientiert sich weiter an den Emblemen der Nazis sowie an der von ihnen gepflegten Ästhetik des «Ornaments der Massen». Die sehr tiefenscharfen, farblich entsättigten Bilder sind jedoch nur für kurze Momente zu sehen; die Stadt fungiert also eher marginal als Hintergrund des Geschehens. Das ändert sich mit Minority Report, wo die Stadt als essenzieller sozialer Raum präsent ist, der das Leben und Handeln der Protagonisten unmittelbar prägt. Zwar ist auch hier die Stadt nur in einer einzigen, voll computergenerierten Totalen zu sehen (Abb. 4), aber diese Totale wird ergänzt durch viele Einstellungen und Bewegungen durch die Stadt, die als hybride Bilder konzipiert sind, welche computergenerierte Elemente mit analogem Material verschmelzen. Auch in Minority Report ist eine Ästhetik zu beobachten, welche die Herkunft der Bilder aus dem Computer verschleiert, indem die Bilder einer Diffusion unterworfen werden, die im Live-Action-Material durch einen Damenstrumpf vor dem Objektiv erzeugt wurde. Dieser Effekt wird unterstützt durch eine Dunstschicht, die etwas allzu stark die entfernteren Bildteile in milchiges Blauweiss taucht, sowie durch Lens Flares, jene Lichtflecken, die durch interne Reflexionen im Kameraobjektiv entstehen und damit die Anwesenheit einer materiellen Kamera markieren.

Erst in I, Robot und in Batman Begins sind Städtebilder zu sehen, die bei Tageslicht vollständig fotoreal wirken und in denen auch die Dunstglocke auf ein minimales Mass reduziert ist (Abb. 5–6), wobei die Aufnahme in Batman Begins nicht vollständig computergeneriert ist.2 Doch selbst in diesen Filmen überwiegen Nachtaufnahmen. Während aber diese Bilder noch eine etwas irreale Atmosphäre atmen, die sich aus ihrer leicht futuristisch, jedenfalls leicht unvertraut bis fantastisch wirkenden Konzeption ergibt und erzählerisch durch das filmische Raum-Zeit-Gefüge gerechtfertigt ist, verschwindet auch diese letzte Hürde zu einem computergenerierten Bild, das sich von einem fotografisch aufgezeichneten nicht mehr unterscheidet, mit der Darstellung von Kabul in The Kite Runner (Abb. 7)

Hatte sich in den früheren Beispielen – Gladiator, I, Robot, Batman Begins – die Differenz nicht so sehr perzeptiv auf der Oberfläche manifestiert, sondern sich eher aus einem allgemeinen Weltwissen darüber gespeist, dass Städte im Allgemeinen etwas anders aussehen, sind die computergenerierten Bilder in The Kite Runner einem dokumentarisch wirkenden Darstellungsmodus verpflichtet, der die Technizität ihrer Herstellung bewusst unterdrückt. The Kite Runner reiht sich damit in eine neueste Entwicklung ein, welche alle Zeichen eines postadaptiven Stadiums der neuen Technologie aufweist, in welcher ein die eigene Virtuosität zelebrierender Präsentationsmodus einem mimetischen Re-Präsentationsmodus weicht. Daraus resultiert eine überaus natürlich wirkende, schon fast unterkühlt zu nennende Nutzung, die weder perzeptiv noch inhaltlich zu entdecken ist. In diese neuste Tradition gehören auch Filme wie das Dokudrama United 93 (Paul Greengrass, USA 2006) oder Children of Men (Alfonso Cuarón, GB 2006), in welchem allenfalls noch die Geburt eines Babys überhaupt die Frage nach dem Herstellungsprozess des Bildes aufwirft. Es sind dies Filme, in denen selbst Visual-Effects-Profis nicht mehr feststellen können, wo sich die Hunderte von Effects-Einstellungen denn verbergen.

Fotorealismus – das kann nicht genug betont werden – ist jedoch nur eine Option unter vielen. Nur dort, wo es die Erzählung und/oder der Stil erfordern, werden am Computer Bilder hergestellt, die sich nahtlos in die Tradition der fotochemischen Aufzeichnung integrieren. Parallel dazu ist eine Entwicklung zu beobachten, welche die potenziell unendlichen Möglichkeiten der Computergrafik nutzt, frei erfundene, allein von der Fantasie gesteuerte Bilder zu entwerfen. Diesem Modus sind jene bereits erwähnten Filme – Immortel (ad Vitam), Sin City, Sky Captain and the World of Tomorrow oder Casshern – verpflichtet, die gänzlich vor Blue- oder Greenscreen entstanden sind und in denen ausschliesslich die menschliche Figur noch mit traditionellen Mitteln aufgenommen wird, während die gesamte Umwelt frei konzipiert werden kann (Abb. 8–9). Dazu liesse sich auch Sweeney Todd rechnen, dessen gesamte Aussenmotive so entstanden sind, die ein zugleich malerisches wie von ekelhaften Dünsten durchwehtes und von allerlei digitalem Ungeziefer bevölkertes London-Bild ermöglichen, das an eine unbestimmte, vergangene Periode erinnert und nur am Rande fotoreal wirkt (Abb. 10). Man nennt solche Werke Digital-Backlot- oder Set-Extension-Filme. Meist sind sie einem durchaus eigenwilligen, aber in sich kohärenten Stil verpflichtet, und meist weisen sie ein insgesamt eher monochromes, jedenfalls stark eingeschränktes Farbschema auf.

Eine der wenigen Ausnahmen von beiden Regeln – entweder Fotorealismus oder aber konsequente Stilisierung – bildet 2046 von Wong Kar-wai (China/F/D/HK 2004), dessen Stadtbilder sich völlig von ihrem filmischen Umfeld unterscheiden und die der Regisseur noch zusätzlich mit einem digital wirkenden Drahtgitter-Raster überziehen liess, um ihre Differenz zu betonen (Abb. 10). Noch etwas anders gelagert ist der Fall in Moulin Rouge!, dessen Stadtbilder einen künstlich wirkenden, von den Eigenheiten früher Filmaufzeichnung – Filmkorn, Flickern, Vignettierung, Kratzern – geprägten Look im Méliès-Stil mit einer körperlos durch die engen Gassen des Montmartre jagenden virtuellen Kamera kombinieren und damit eine paradoxe Wirkung erzeugen. Und schliesslich wären noch jene Filme zu nennen, die in parallelen Universen mit je eigener Ästhetik spielen und in denen die stilistische Unterscheidung selbst zum erzählerischen Mittel gerinnt – eine Anordnung, die mit Matrix (Andy und Larry Wachowski, USA 1999) bekannt wurde und deren frühester Vertreter Tron (Steven Lisberger, USA 1982) war.

Sampeln von Realität

Zwar splittern sich die Verfahren zur Erzeugung von computergenerierten Bildern – sogenannter CGI (computer generated imagery) – in eine unglaubliche Vielzahl von Techniken und Strategien auf, die sich zudem aus Denkmodellen der unterschiedlichsten Traditionen speisen und damit ein äusserst hybrides Feld von Ansätzen umspannen. Meine Forschungsarbeit hat jedoch gezeigt, dass sich dieses komplexe Gebiet relativ einfach in vier Kategorien aufteilen lässt, die sich für die Diskussion als sehr nützlich erweisen, nämlich Aufzeichnung, Modellbildung, Malen und Messen. Ich beschränke mich hier auf die beiden ersten, denn sie sind von besonderer Bedeutung.

Mit Aufzeichnung ist ein technischer Übersetzungsprozess gemeint, der eine physikalische Ausgangsstruktur anhand eines mehr oder weniger expliziten Protokolls in ein bildwirksames Resultat überführt. Sie weist daher eine im Wesentlichen indexikalische Beziehung zwischen dem Gegenstand und der Abbildung auf. In diese Kategorie gehört beispielsweise die Fotografie, aber auch ein Animationsverfahren wie Motion Capture, das die Bewegungsdaten eines Schauspielers erfasst und auf eine digitale Figur überträgt.

Modellbildung andererseits ist ein meist regelbasiertes, stark formalisiertes Verfahren zur Erzeugung von zwei- oder dreidimensionalen Strukturen. Die Regeln werden dabei entweder aus generellen mathematischen oder physikalischen Prinzipien oder aus der empirischen Beobachtung und Rekonstruktion abgeleitet. In diese Kategorie gehören die 3D-Modellierung, aber auch die Render-Verfahren, die aus den dreidimensionalen Daten, die der Anschauung nur eingeschränkt zugänglich sind, zweidimensionale Bilder berechnen.

Nicht nur sind diese Kategorien durch Erkenntnisse aus unterschiedlichen Strömungen bestimmt, sondern sie zeitigen auch verschiedene Resultate, die sich direkt aus den Ansätzen herleiten und entsprechend problematisieren lassen. Während nämlich die Aufzeichnungsverfahren die Komplexität und Unregelmässigkeit der Welt nutzen, indem sie diese sozusagen aus der Natur extrahieren und in die Welt der Computergrafik übertragen, haben Modellbildungsverfahren den Vorteil, nicht durch die Vorgaben aus der Natur bestimmt zu sein und damit der Fantasie eine schier grenzenlose Freiheit zu eröffnen. Gleichzeitig neigen sie dazu, allzu vereinfachte, allzu regelmässige Strukturen hervorzubringen, in denen sich der menschliche Eingriff an allen Ecken und Enden zeigt, und die deshalb oft unzureichend als «zu perfekt» beschrieben werden, denn eigentlich wirken sie «zu geordnet».

Stadtstrukturen nun, um die es in diesem Essay geht, zeichnen sich gerade durch eine hohe Komplexität aus, in welcher viele Zufälle und Variablen wirken, die sich aus der historischen Entwicklung ergeben. Es sind dies topografische Gegebenheiten und Bautraditionen, es sind verkehrstechnische Erfordernisse, es sind ökonomische Faktoren, politische Systeme, Wetterbedingungen, Naturkatastrophen, hygienische und gesundheitliche Faktoren, aber auch individuelle Geschmacksentscheidungen über das Erscheinungsbild jedes einzelnen Hauses und vieles mehr. Diese Faktoren stehen in einem – wenn auch teilweise schwach ausgeprägten – systemischen Zusammenhang und beeinflussen sich daher gegenseitig. Selbst wenn man also die Faktoren parametrisieren möchte, um aus ihnen modellhaft unterschiedliche Stadtentwicklungen abzuleiten und das Computerprogramm sozusagen selbständig ein Stadtbild entwerfen zu lassen, muss man – wie eigentlich immer in der Welt der Computergrafik – mit Vereinfachungen und Annäherungen arbeiten. Es haben sich inzwischen einige solche sogenannte prozedurale Systeme der Stadtgenese entwickelt, zum Beispiel die Software CityEngine der Schweizer Firma Procedural, die auf Algorithmen zur Beschreibung des Pflanzenwachstums – den L-Systemen – beruht und ein gewichtetes Zusammenspiel zwischen umfassenden Zielen und lokalen Beschränkungen implementiert.3 Die Software kam für den Kurzfilm Hochbetrieb (Andreas Krein, D 2001) zum Einsatz, der ausschliesslich vor Bluescreen gedreht wurde (Abb. 11)

Will man nun eine Stadt mit Modellbildungsverfahren erzeugen, muss man sich daher zunächst Gedanken zur Stadtentwicklung machen. Diese Anforderung besteht schon, wenn man diese Stadtstruktur im Modell realisieren will wie noch für Blade Runner, aber auch für The Crow, Dark City, The Fifth Element, denn auf struktureller Ebene besteht zunächst kein prinzipieller Unterschied zwischen dem analogen und dem digitalen Modellbau. Meist folgen die Vorstellungen zur Stadtentwicklung fiktiven Hypothesen einer Backstory. Aber für Minority Report etwa hatten Steven Spielberg und der Production Designer Alex McDowell eigens einen Think Tank einberufen, der anhand wissenschaftlicher Einsichten der Zukunftsforschung ein Stadtbild entwarf, das möglichst plausibel an die heutige Situation anschliessen sollte. Über verschiedene konzeptuelle Phasen bestehend aus Stadtplänen, zweidimensionalen bildnerischen Entwürfen, einfachen Karton- und Papiermodellen bis hin zur simplen Computeranimation, die als Prävisualisierung – Previs genannt – die Abläufe veranschaulichen und gleichzeitig dem Austausch der verschiedenen, an der Ausarbeitung des Stadtbilds beteiligten Spezialisten dienen sollten, wird die Struktur immer detaillierter ausgearbeitet. Zudem vermerkt man in den Plänen die Wohn- und Arbeitsorte der Protagonisten sowie jene Zonen, die für Einkauf, Restaurantbesuche und andere Freizeitaktivitäten vorgesehen sind, damit man auch die Bewegungen der Figuren und die Raumbeziehungen entsprechend gestalten kann.

Interessanterweise gehen fast alle Stadtentwicklungsmodelle jener Filme, die in der Zukunft oder an einem unbestimmbaren Ort der Fantasie spielen, von einer überdeutlichen Klassentrennung aus, was zu einer Ästhetik der Kontraste zwischen den meist chromstahl- und glasblitzenden Zentren der Macht und den düsteren, chaotischen, verdreckten Unterwelten führt. Und fast immer spiegelt sich diese Unterscheidung in der Lichtsituation. Dort, wo nun auch computergenerierte Städte im Tageslicht erscheinen, sind es die grosszügig und luxuriös gestalteten Hochhäuser und Plätze des kapitalkräftigen Establishments. Diese Dichotomie war schon in Metropolis angelegt; sie wird weiter ausgeführt in Blade Runner, in welchem die Massen von der Welt der Konsumgüter abgeschnitten sind und ihre Behausungen behelfsmässig mit vorgefundenem Material zusammengehalten werden – Ridley Scott schuf dafür den Begriff Retrofitting. Auch in Minority Report, I, Robot und Batman Begins sind die Städte durch solche Parallelgesellschaften geprägt – dies meist mit unmittelbar dramaturgischer Funktion, geht es doch darum, dass der Held das glanzvolle, aber korrupte kapitalistische System aufbricht und eine neue, gerechtere Ordnung herstellt.

Da es – wie erwähnt – mit den klassischen Modellierungsverfahren schwierig ist, die erforderliche organisch wirkende Komplexität zu erzeugen, die ein Stadtbild als plausibel und in sich stimmig erscheinen lässt, sind in der Mehrzahl aller von mir untersuchten Fälle Aufzeichnungsverfahren am Werk und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Wenn es darum geht, eine bereits existierende Stadt in den Computer zu laden, sind Vermessungsverfahren sowie fotografisch aufgezeichnete Texturen naheliegend. Besonders jene Städte, die wie New York in Spider-Man oder in The Day After Tomorrow zeitgenössisch vertraut erscheinen sollen, werden umfassend aufgezeichnet. Auch jene Städte, deren Entwicklung in die Zukunft projiziert wird, wie Washington in Minority Report oder Chicago in I, Robot werden zumindest teilweise zunächst mittels Aufzeichnungsverfahren in die Welt der Computergrafik übertragen und anschliessend entsprechend modifiziert. Mehr und mehr sind 3D-Versionen der Städte sogar kommerziell erhältlich, ja man kann davon ausgehen, dass besonders die Ballungszentren in der westlichen Hemisphäre systematisch als Computermodelle erfasst werden. Auch dabei kommen oft bildbasierte Verfahren – Photogrammetrie genannt – zur Anwendung, welche ihre Wurzeln in der Kartografie haben und die Geometrie inklusive Farbverteilung auf der Oberfläche direkt aus Fotografien extrahieren.4 Je fotorealistischer ein Stadtbild erscheinen soll, desto wahrscheinlicher ist es, dass man auf solche Techniken zurückgreift. So ist auch Kabul für The Kite Runner aus einer Serie von höchstauflösenden Flugaufnahmen zusammengesetzt worden. Ähnlich verhält es sich mit der Fantasy-Stadt Gotham City, das sich aus Aufnahmen der Stadt Chicago und weiteren Bauten zusammensetzt. Diese zusätzlichen Gebäude werden meist anderswo ebenfalls bildbasiert erfasst und in Datenbanken abgelegt, aus denen man die Stadtteile nach eindeutig bestimmten Regeln oder zufälligen, der Stochastik entnommenen Prinzipien konstruieren kann. Doch auch hier sind Limitierungen der technischen Kapazität wirksam, welche dazu zwingen, aus dem Panoptikum aller verfügbaren Informationen auszuwählen und komplexe Prozesse modellhaft zu vereinfachen. Das bedeutet, dass man auch mit Aufzeichnungsverfahren zumindest bis heute keine Eins-zu-eins-Beziehung herstellen kann. Insbesondere hinsichtlich der Materialien und ihrer Reaktionen auf Licht sind und bleiben diese Reduktionen spürbar. Moderner Städtebau und die dafür verwendeten Materialien – Stein, Glas und Metall – sind jedoch besonders geeignet, diesen Mangel zu übertünchen. Hingegen legen die Computerspezialisten selbst heute noch ihr Werkzeug nieder und überlassen das Feld dem klassischen Modellbau, wenn es um ungeordnete, aus vielen verwitterten Materialien zusammengebaute Konfigurationen geht – wie bei der Darstellung der sogenannten Narrows in Batman Begins, in welchen die Unterschicht und die Ausgestossenen leben. Denn diese komplexen Strukturen bestehen aus einer Vielzahl von chaotisch angeordneten Details, mit Antennen, Kabeln, Rauch und Dampf, der aus den Kaminen und Abwasserkanälen strömt.

Über die Geometrie hinaus lässt sich die Lichtsituation bildbasiert nachbilden, indem man kugelförmige Lichtdome oder ebene Lichtkarten direkt aus High Dynamic Range-Fotografien erstellt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie den grossen Helligkeitsumfang von natürlichen oder künstlichen Lichtquellen besser erfassen als konventionelle Aufnahmen. Anschliessend lassen sich die Lichtwerte direkt aus diesen Aufnahmen abtasten, was sehr zum natürlich wirkenden Erscheinungsbild beiträgt.5 Für diese Kombination von Aufzeichnungen und ihrer Synthetisierung im virtuellen Raum habe ich den Begriff Sampeln von Realität verwendet.6 Denn über dieses Sampeln partizipiert das computergenerierte Bild nicht nur am vertrauten, öffentlichen Status seines Abbildungsgegenstands, sondern es importiert auch gleichzeitig die Komplexität einer Umwelt, die sich im Laufe der Geschichte aus dem Zusammenspiel einer grossen Anzahl von Faktoren herausgebildet hat.

Von Bedeutung sind dabei mehrere Aspekte. Zunächst wird evident, dass Aufzeichnungsverfahren zu deutlich authentischer wirkenden Resultaten führen. Weniger offensichtlich ist jedoch, welche Leistung die den Prozess steuernden Menschen dabei immer noch erbringen müssen. Denn weder finden diese Prozesse automatisch statt, noch entsteht aus dem hybriden Konglomerat von aufgezeichneten Daten aus unterschiedlichen Zusammenhängen ohne Weiteres ein kohärentes, in sich stimmiges Bild. Eher haben die Tausenden von partikulären Daten die Eigenschaft, auseinanderzubrechen und heterogene Räume voller Inkonsistenzen hervorzubringen. Damit sind wir wieder bei Venetie MD und der damals bahnbrechenden Leistung, aus einem riesigen Set von Daten ein Stadtbild zu erzeugen, das als Ganzes wirksam ist. Im Unterschied zur dokumentierenden Funktion jenes frühen Holzschnitts aber sind die filmischen Stadtbilder einer fiktionalen Intention verpflichtet. Sie haben die Aufgabe, zu erzählen und ein dramatisches Umfeld zu bilden, in dem die Helden und Heldinnen ihre Abenteuer bestehen, ihre Ängste überwinden, finstere Mächte bekämpfen oder aber ihre Liebe finden.

Siehe Flückiger (2008: 522 ff.).

Computergeneriert sind der Zug inklusive Schienen und Brücken, der Verkehr, das Gebäude am Ende der Strasse, die Skyline im Hintergrund des Flusses sowie die Reflexionen des Verkehrs (persönliche Mitteilung von Aisling O’Brien, PR Manager der verantwortlichen Firma Double Negative, 7. August 2008).

Zu CityEngine siehe Parish / Müller (2001) sowie die Website http://www.procedural.com zu prozeduralen Modellierungssystemen vgl. Flückiger (2008: 65 ff.).

Zur Photogrammetrie und ihrer geschichtlichen Entwicklung siehe Flückiger (2008: 70 ff.).

Zur bildbasierten Beleuchtung siehe Flückiger (2008: 164 ff.).

Flückiger (2008: 309).

Literatur

Brunckhorst, Friedl, Architektur im Bild. Die Darstellung der Stadt Venedig im 15. Jahrhundert, Hildesheim/Zürich/New York 1997.

Elrick, Ted, «Elemental Images», in: Cinefex 70 (Juni 1997), S. 116–133. Elliot, James, The City in Maps. Urban Mapping to 1900, London 1987. DiLullo Bennett, Tara, «Sweeney Todd: There Will Be VFX», in: VFXWorld (=http://www.vfxworld.com), 2007.

Duncan, Jody, «Freeze Frames», in: Cinefex 98 (Juli 2004), S. 71–93 und 126.

Flückiger, Barbara, Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer, Marburg 2008.

Fordham, Joe, «Paris by Numbers», in: Cinefex 86 (Juli 2001), S. 16–28 und 119–122.

Fordham, Joe, «Spin City», in: Cinefex 90 (Juli 2002) S. 14–54 und 123–128.

Fordham, Joe, «Future Reality», in: Cinefex 91 (Oktober 2002), S. 38–77. Fordham, Joe, «Starting Over», in: Cinefex 103 (Oktober 2005), S. 90–118.

Martin, Andrew John, «Anton Kolb und Jacopo de’ Barbari. Venedig im Jahre 1500», in: Bärbel Hamacher (Hg.): Pinxit / sculpsit / fecit. Kunsthistorische Studien, München 1994, S. 84–94.

Parish, Yoav I. H. / Müller, Pascal, «Procedural Modelling of Cities», in: Computer Graphics (ACM Siggraph 2001), S. 301–308.

Sammon, Paul M., Future Noir. The Making of Blade Runner, New York 1996.

Shutan, Bruce, «The Kite Runner: Sky’s the Limit», in: VFXWorld (=http://www.vfxworld.com), 2008.

Ich bedanke mich bei dem Koordinator des SNF-Forschungsprojekts zur Ikonografie der Schweizer Stadt, Herrn Thomas Manetsch, für seine nützlichen Hinweise.

Barbara Flückiger
ist Gastprofessorin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Vor ihrem Studium war sie während 12 Jahren international als Filmpraktikerin tätig. Promotion 2001 an der Universität Zürich, Habilitation 2007 an der Freien Universität Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films (2001, 3. Auflage 2006), Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer (2008).
(Stand: 2009)
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