MARCY GOLDBERG

BLAU (STEFAN KÄLIN, NORBERT WIEDMER)

SELECTION CINEMA

Hösli und Ricardo: Der eine ist ein ehemaliger Punkrocker aus Luzern, der andere ein Jazzpianist mit spanischen Wurzeln. Kennen gelernt haben sie sich Ende der Neunzigerjahre, als Hösli – inzwischen zu einem eigenartigen Chansonnier mutiert – einen Klavierbegleiter suchte und zufällig auf Ricardo stiess. Statt zu proben, gingen die beiden in die gegenüberliegende Bar; nach etlichen Runden war die musikalische Partnerschaft zementiert. Drei Alben und zahlreiche Auftritte später steht das Duo nun vor dem grossen Durchbruch. Wenn sie sich nicht vorher voneinander trennen.

Blau ist nicht nur ein Dokumentarfilm übers Musikmachen, sondern auch über die Dynamik einer Männerfreundschaft. Hinter der Kamera stand ebenfalls ein Duo: Norbert Wiedmer und Stefan Kälin, der bei Wiedmers früheren Filmen als Cutter und nun auch als Ko-Regisseur wirkte. Das Filmteam begleitete Hösli und Ricardo über zwei Jahre; entstanden sind dramatisch verdichtete Episoden aus ihrem Leben auf und abseits der Bühne. Darüber hinaus gibt sparsam eingesetztes Archivmaterial Einblicke in ihre Vergangenheit. Amateuraufnahmen aus den späten Achtzigerjahren zeigen den blutjungen Hösli als charismatischen Frontmann der legendären Luzerner Band Stevens Nude Club. Und in einer TVDokumentation aus dem Jahr 1991 erzählt der Jazzschüler Ricardo schüchtern von seinen ersten Kompositionen und anfänglichen Schwierigkeiten als Emigrantenkind in der Schweiz.

Ihre Gespräche haben etwas Theatralisches, die Dialoge erinnern oft an ein Beckett-Stück. Die Frage nach der Grenze zwischen Performance und Authentizität wurde von den Filmemachern bewusst thematisiert, indem sie Hösli und Ricardo baten, selber Szenen aus ihrem Privatleben zu drehen. Der Spagat zwischen Alltag und Auftritt wird vor allem bei Hösli sichtbar, da sein Brotjob im Reprographiegeschäftund seine bescheidene Wohnung nicht wirklich zum ShowbusinessLeben eines Kabarettisten passen.

Aber irgendwie doch. Denn: Die meisten seiner Liedertexte – mit ihren zynischen Zeilen über Konsum, Katerstimmung und die Befindlichkeiten im «demokratischen Folterkabinett» Schweiz – nehmen genau jenes Durchschnittsleben aufs Korn. Diese Selbstironie findet ein Pendant in den augenzwinkernden Anspielungen von Ricardos Kompositionen, welche – zwischen Schlager und Salsa, Chanson und Jazz – mit musikalischen Klischees jonglieren.

Das Unbehagen am (Deutschschweizer) Alltag war bereits in früheren Filmen Wiedmers ein Thema, insbesondere in Schlagen und Abtun (1999) und besser und besser (1996, in Ko-Regie mit Alfredo Knuchel). Mit Hösli und Ricardo fand er zwei Protagonisten, welche diese Malaise in ihrer eigenen künstlerischen Arbeit thematisieren. Darin findet sich auch eine Antwort auf die Frage, wie aus einem Punk ein Kabarettist werden kann. Denn die satirische Beschäftigung mit dem Lokalen und Banalen sowie die Persiflage gängiger Musikstile ist auch eine Fortsetzung von Punk mit anderen Mitteln.

Marcy Goldberg
geb. 1969, Studium der Filmwissenschaft, Semiotik und Philosophie, University of Toronto und York University (Kanada). Wohnt seit 1996 in Zürich. Redaktionelle Mitarbeiterin des DOX Documentary Magazine. Mitglied der Programmkommission des Dokumentarfilmfestivals «Visions du réel» in Nyon.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]