Das Dunkel. Langsam, ganz langsam legt es sich auf uns, erstickt zärtlich den Alltag – schwerer Atem, feuchte Hände, ein Flüstern –, während eine Zauberhand den Vorhang beiseite schiebt, um endlich den Blick freizugeben ... Jungfräulich weiss erscheint die Leinwand. Unsere Projektionsfläche. Was das Kino zum erotischen Erlebnis macht, ist die Reibung (bald sanft, bald überaus heftig) zwischen dem Gezeigten und dem Nichtgezeigten. Zwischen dem lustverzerrten Gesicht eines blonden Lederjünglings, auf den Warhol in Blow Job sein Kameraauge fixiert, und dem Wohltäter in unsrer Einbildung; zwischen dem Anblick der züchtig-zugeknöpften Persona Bibi Andersson und ihren offenherzigen Worten, die einen Vierer am Strand ausmalen; zwischen einem Kuss vor der Schlafzimmertür und – welch exquisiter Lubitsch-Touch – der Abblende. In der Literatur entsteht das Funken sprühende Knistern zwischen den Zeilen, im Kino zwischen den Bildern, zwischen Bild und Ton, On und Off – Leinwand und Publikum. Daher auch regt nichts die erotische Fantasie von Künstlern mehr an als die Zensur, die ja lediglich das beschneiden kann, was da ist. Doch sind sie hier, in unseren Köpfen: all jene geheimen Filme, die – ausgelöst von einem vielleicht unscheinbaren Stimulus, einer Stimme, einer Stimmung – vor unserm geistigen Auge ablaufen. Das Gehirn ist die erogenste Zone. So dass sich die Erotik für André Breton anfühlte wie eine «fantastische Feier im Untergrund». Pornografie ist blosse Oberfläche. Anonymität. Frigidität. Eine Reinraus-Routine, bei der das Dargestellte das Vorgestellte dominiert. Eros liebt es gerade umgekehrt. Sex kann man kaufen, ähnlich einer DVD, die auf Fingerzeig gehorcht. Der risikolustige Kinogänger indes gibt sich hin, verführt von Trailern, Plakaten, Stars – jenem Versprechen, das die Erotik letztlich ist. Geheimnisvoll, unfassbar. Wie ein Filmbild, das einen Wimpernschlag lang aufflackert. CINEMA 51 steht denn ganz im Zeichen der Momentaufnahme, welche die flüchtige Erotik dieses Zeitmediums einzufangen sucht. Stellen Sie sich also das Kino – das CINEMA – als einen erotischen Raum vor, wo ein Lehrfilm übers Melken auf handfeste Fan-Fantasien trifft, die Sprache des Begehrens in L’amant auf das Begehren des Blicks in Lolita, das erotische Spiel mit dem Tod im Actionfilm auf den aphrodisischen Humor der Romantic Comedy, ein Panorama der (gebirgigen) Schweizer Sexfilmlandschaft auf ein Interview mit dem Lausanner Cineasten Lionel Baier – während der traditionelle Filmbrief das Filmschaffen Thailands umreisst und die Nocturne jenes von Christine N. Brinckmann. Und nicht nur das CH-Fenster mit seinen Beiträgen über den Auftragsbzw. den Neuen Schweizer Film (und wie er in den Augen der «Kritikerpäpste» Martin Schlappner und Martin Schaub Gestalt annahm) wird die aufregend irritierende Einsicht eröffnen: Kino ist die öffentlichste und zugleich die persönlichste aller Kunstformen. Für die Redaktion Andreas Maurer
CINEMA #51
EROTIK
EDITORIAL
ESSAY
DIE LEINWAND ALS VORWAND ODER WANN WIRD DAS KINO ALS EROTISCHER RAUM WIEDER ENTDECKT?
MOMENTAUFNAHME
CH-FENSTER
FILMBRIEF
SELECTION CINEMA
MATCHMAKER – AUF DER SUCHE NACH DEM KOSCHEREN MANN (GABRIELLE ANTOSIEWICZ)