VERONIKA GROB

GAMBIT (SABINE GISIGER)

SELECTION CINEMA

Die Pressebilder mit Umweltschützern, die in weissen Schutzanzügen gegen den Dioxinfässer-Skandal von Seveso demonstrieren, haben wir noch im Kopf. Ablauf und Zusammenhänge der Katastrophe, die zu den grössten Skandalen der Schweizer Chemiegeschichte gehört, sind aber nur noch verschwommen in Erinnerung. Sabine Gisiger hat in ihrem Dokumentarfilm Gambit diese Geschichte nun aufgearbeitet. Daraus ist nicht nur ein spannender Recherche-Krimi geworden, sondern auch eine zynische Farce, denn ob der Ignoranz der Firmenbosse bleibt einem manchmal nichts anderes übrig, als entgeistert den Kopf zu schütteln. Vor allem aber wurde aus Gambit eine ergreifende Tragödie, denn der Fokus liegt nicht auf den Opfern der Chemiekatastrophe, denen der Film gewidmet ist, sondern auf einem der Täter: Jörg Sambeth. Sambeth arbeitete in den Siebzigerjahren als technischer Direktor der Givaudan, einer Tochterfirma von Hoffmann-La Roche, die für die Fabrik in der norditalienischen Gemeinde Seveso verantwortlich war. Durch Unterlassung, Naivität und Kadavergehorsam machte er sich mitschuldig an der Katastrophe, was er heute auch nicht leugnet. Doch die Roche, die sich aus allen Gerichtsprozessen heraushielt, machte aus ihm ein klassisches Bauernopfer («Gambit» im Schachspiel). Sambeth wurde in einem ersten Verfahren zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Gambit zeigt, dass die Katastrophe eine Abfolge von Skandalen ist, die ein schiefes Licht auf die undurchsichtigen Machtstrukturen des Weltkonzerns Roche und auf die Gilde der Manager werfen. 1976 entwich in Seveso nach einem Reaktorunfall eine giftige Dioxinwolke, die das umliegende Land verseuchte: Tausende von Tieren verendeten, und die Menschen erkrankten an Chlorakne. Der Chemiekonzern wartete ganze acht Tage, bevor Behörden und Spitäler über das Ausmass der Katastrophe informiert wurden. Der oberste Roche-Chef, Dr. Adolf Jann, behauptete öffentlich, die Kinder weinten nicht wegen der Hautverätzungen, sondern weil sie für die Blutentnahme gepiekst worden seien. Darauf schickte man die Chefetage schleunigst in einen Interview-Crashkurs. 1983 kam der Dioxinskandal von Seveso wieder in die Medien, weil die 41 Fässer, in denen das giftige Material lagerte und für die sich kein Land zuständig fühlte, unter dubiosen Umständen verschwanden.

Gisigers Dokumentarfilm erzählt nicht nur von der politischen und wirtschaftlichen Skandalgeschichte, sondern auch das persönliche Schicksal von Jörg Sambeth und seiner Familie. Den Bildern aus der damaligen Medienberichterstattung werden home movies aus dem Familienarchiv zur Seite gestellt. Durch den distanzlosen Blick des Täters beweist Gambit Mut zum Widerspruch und hält bis zum Schluss eine ambivalente Spannung aufrecht, denn einerseits empfindet man Sympathie für den Sündenbock, andererseits ist einem auch immer bewusst, dass wir dieser Perspektive nicht uneingeschränkt trauen können.

Zwar werden die Bilder zuweilen gar pathetisch von Musik zugekleistert, doch sonst ist der Film formal sehr gelungen: Manchmal scheint es, als ob die Kamera in den langen Fahrten durch die norditalienische Landschaft selber nach Antworten sucht. Gambit ist ein wichtiger Beitrag zur Schweizer Industriegeschichte und eine engagierte Dokumentation im besten Sinne. Am Filmfestival Locarno wurde der Film mit dem Preis der Kritikerwoche ausgezeichnet, den Sabine Gisiger und Marcel Zwingli schon im Jahr 2000 für Do It entgegennehmen konnten.

Veronika Grob
geh. 1971, hat Literaturwissenschaften studiert und arbeitet als Filmredaktorin bei SF DRS. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 2002.
(Stand: 2018)
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