DORIS SENN

SCHEHERAZADE (RIC­CARDO SIGNOREIL)

SELECTION CINEMA

Der Vorspann trägt uns im Tiefflug über die In­signien schweizerisch-wohlhabender Provin- zialität - Rasen, Blumenrabatten und Schiffs­steg - an den Ort, den wir einen Film lang nicht mehr verlassen werden: die Jacht «Schehera­zade». Dort tummeln sich in launiger Zweisam­keit die blutjunge Schöne und der Millionär. Er, Peter, träumt von der gemeinsamen Zukunft in der Luxusvilla, sie, Luise «Lulu», gibt sich wortkarg und kapriziös. In die «Idylle» platzt des Unternehmers Sohn Michi sowie Peters ambitiöser Angestellter Frank mit Freundin Valerie. Michi möchte Geld, das er nicht be­kommt - und rächt sich dafür mit der Enthül­lung des Familiengeheimnisses: der inzestuö­sen Beziehung zwischen Peter und Lulu, die sich als dessen Tochter entpuppt. Das Geburts­tags-Stelldichein eskaliert zur Tragödie.

Zwar kommt Riccardo Signorells Fami­liendrama um einiges hausbackener daher als etwa Polanskis Messer im Wasser - ein Huis-clos-Stück, in dem ebenfalls ein Boot als Hin­tergrund für eine explosive Bezichungskonstellation dient. Und trotzdem entwickelt sich aus der zu Beginn etwas klischeehaften Lolita-Situation in Scheherazade nach und nach das zunehmend an Tiefe und Glaubwürdigkeit ge­winnende Porträt von betuchter Oberschichts­dekadenz, in dem sich ein arrivierter Lebemann (Peter), ein junger Karrierist (Frank) und ein verwöhnter Sohn mit Künstlerambitionen (Mi­chi) zu arrangieren suchen. Positiv wirkt sich aus, dass nicht alle Szenen ausgespielt, sondern eine elliptisch-episodische Struktur gewählt wurde, die man durch schwarze Zwischenblen­den noch verstärkte. Dynamik bringt eine an der Dogma-Ästhetik geschulte Kameraführung (Felix von Muralt) und Montage: Schnittüber­lappungen, Reissschwenks und viel Hand­kamera loten die engen Räume des Bootsinncrn aus, um auf Deck ansatzweise etwas Weite zu gewinnen - im Blick auf die immerselben (Zürichsee-)Gestade. Ein schöner Schein, den die Verstricktheit der Ambitionen und Emotionen gleich wieder Lügen straft. Gedreht wurde in zweimal vier Tagen, wobei einige Kompro­misse bezüglich Anschluss gemacht werden mussten - etwa bei den wechselhaften Wolken­formationen.

Dies tut der narrativen Kontinuität jedoch kaum nennenswerten Abbruch. Erfreulich er­frischend geben sich die Dialoge, denen für einmal nicht das Papierene der ausformuherten Übersetzungen aus dem Deutschen anhaftet, sondern die sich durch Improvisation lebhaft der schweizerdeutschen Umgangssprache an­nähern. Dieser Freiraum erlaubte es den Dar­stellern auch, die vorwiegend in Fernschproduktionen geschulten Fähigkeiten über die TV-Konventionen hinaus zu entfalten - so etwa Jürgen Brügger (Peter), aus den Serien Motel oder Ein Fall für zwei bekannt, oder das Model Zoé Mikuleczki, die hier ihr beachtliches Lein­wanddebüt als Lulu gibt.

Scheherazade ist der erste Langspielfilm des Multitalents Signoreil - seines Zeichens Eishockeyprofi. Er hat sich autodidaktisch ans Filmemachen herangewagt und sein Erstlings­werk ohne jegliche öffentlichen Gelder her­gestellt. Dass er es damit auf Anhieb in den Internationalen Wettbewerb des Filmfestivals Locarno schaffte, spricht für ihn.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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