Mit verlorenem Blick sitzt Mary «Mouse» (Mischa Barton) im Wagen ihrer Eltern, die sie in ihr neues Zuhause, ein Mädchencollege, bringen. Eine letzte innige Umarmung des Vaters - dann macht sie auch schon Bekanntschaft mit ihren zwei temperamentvollen Zimmergenossinnen Tory und Paulie. Mouse - deren Tagebuch uns durch den Film führt - entdeckt bald, dass die beiden mehr als Freundschaft verbindet. Als Torys Schwester eines Morgens die zwei nackt im Bett überrascht, kommt es zur fatalen Wende. Tory tut fortan alles, um nicht als «so eine» zu gelten: Sie stürzt sich kopfüber in eine Affäre mit einem Jungen und geht auf Distanz zu Paulie. Deren Leidenschaft wiederum wandelt sich zur Amour fou: Sie wirft sich ihrer Angebeteten zu Füssen, deklamiert vor aller Augen und Ohren Liebesschwüre und fordert Torys Lover zum Duell.
Ihr gebrochenes Herz findet einzig Trost in einem jungen Falken, den sie in einem Versteck im Wald aufzieht. Doch die Verzweiflung überwiegt: Paulie stürzt sich in den Tod, während ihr Falke in die Freiheit fliegt.
Wie schon in Emporte-moi (1999) stellt die in Genf geborene, seit 1975 in Quebec lebende Léa Pool auch in Lost and Delirious die Adoleszenz von Mädchen in den Mittelpunkt. Skizzierte sie dort in Anlehnung an die eigene Biografie das Erwachsenwerden im Kontext familiärer Verstrickungen, konzentriert sie sich hier auf eine erste lesbische Liebeserfahrung, die an den Normen zerbricht. Zwar wird die homosexuelle Passion der beiden jungen Frauen - Piper Perabo (Paulie) und Jessica Paré (Tory) - explizit im 21. Jahrhunden angesiedelt. Und entsprechend selbstverständlich gelebt und ins Bild gesetzt: vom verstohlenen Fingerspiel über erotisierte Blicke bis zu sinnlichen Liebesnächten. Dann allerdings scheint die Story in dunkle Vorzeiten abzutauchen: wenn Tory meint, vor Eltern und Mitschülerinnen ihre grosse Liebe verleugnen zu müssen, und vor allem wenn Paulies Kummer nur den Suizid zulässt. Wie viel leichtfüssiger - obwohl nicht weniger problematisch - präsentierte da doch Tucking Amal von Lukas Moodysson (S 1998) das sexuelle Erwachen und das Interesse fürs gleiche Geschlecht.
Mit Lost and Delirious - ihrem ersten englischsprachigen Spielfilm - möchte Pool einen Schritt weiter Richtung grosses Publikumskino machen. Dies zeigt sich inhaltlich wie formal: Das emotionsstarke Melodrama wird mit schwelgerischen Grossaufnahmen inszeniert und Körperlichkeit nicht ohne Anflug von Voyeurismus visualisiert. Dabei erinnert vieles an den ersten Klassiker der Lesbenfilmgeschichte, Mädchen in Uniform von Leontine Sagan: die Internatsgemeinschaft, das traumatische Fehlen der Mutterliebe oder die Verquickung von Literatur und schwärmerischen Liebeserklärungen. Nur dass dort - 1931!- die Loyalität von Lehrerin und Schülerinnen das unglückliche Ende verhindern, während das tragische Pathos in Lost and Délirions Paulie in einen unaufhaltbaren Todestaumel gleiten lässt. Das mythisch verklärte Filmende, in dem Paulies Seele in den Falken übergebt, illustriert zwar einmal mehr die Vorliebe Pools für poesictrunkene Metaphern. Das Abheben in New-Age-Sphären mag aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich letztlich um die Geschichte eines gescheiterten Coming-outs handelt, die fatal an die negativen Stereotypen früherer Hollywood-Filme erinnert, als Homosexualität unweigerlich in Selbstmord mündete.