Ein Abend, ein Interieur, ein Erzählstrang. Tous à table, ein Kurzfilm von dreissig Minuten, besitzt alle Eigenschaften eines modernen Kammerspiels, das unter der einschränkenden Auflage von Zeit-, Raum- und Handlungseinheit eine gut rhythmisierte und dichte Geschichte entwickelt. Jean, der seinen Geburtstag feiert, empfängt seine Freunde; die anwesenden Gäste heben ihr Glas und trinken auf seine Gesundheit. Ein paar Stunden später, nachdem sich die Zungen und selbst die Fäuste unter dem Einfluss vom Alkohol gelockert haben, löst sich die Runde jedoch im Streit auf: Der Film - der erste Teil - endet in einer Folge von Beleidigungen und Aggressionen, denen wohl selbst die engsten Freundschaften kaum standhalten können.
Wie lässt sich eine Geburtstagsfeier in ein Schlachtfeld verwandeln? Um dem Abend einen neuen Impuls zu verleihen, stellt einer der Anwesenden eine Rätselfrage. Alle machen Lösungsvorschläge, doch keiner tippt richtig. Einige mimen die Szene, andere nehmen die Herausforderung mit Humor. Die absurdesten Interpretationen werden mit Hohn quittiert. Angesichts der Banalität der Denkaufgabe wird schnell offenbar, dass sich das Interesse des Films nicht im Suchen einer Lösung erschöpft. Das Dispositiv erlaubt jedoch, die Konzentration der Gäste zu kanalisieren, und ermöglicht es der Regisseurin, ihre Beobachtung der Figuren auf eine breite emotionale Skala abzustützen. Allerdings kontrastiert die Kraft der Porträtstudien, die zwischen Improvisation und rigoroser Regieführung pendeln, mit der dramatischen Steigerung, die sich zuweilen jeder Nachvollziehbarkeit entzieht. Insbesondere wenn sich die einzelnen Gäste physisch in die Haare geraten, verdichtet sich der Eindruck, dass die kontemplativen Qualitäten des Films auch mittels eines weniger aggressiven Plots zum fragen gekommen wären.
Was also will Tous à table! Eine Antwort (und die Auflösung des Rätsels) liefert erst der zweite, viel kürzere Teil des Films. Die hübsche Pirouette, mit der der Film zum Abschluss kommt - der Wechsel vom schwarzweissen Spielfilm zum farbigen Animationsfilm -, ist der Regisseurin als formale Geschicklichkeit anzurechnen, zumal diese die psychologischen Schwerfälligkeiten des ersten Teils (fast) aufzuwiegen vermag. Die Koda überzeugt jedoch nicht nur als Pointe - sie unterstreicht auch die Kontrolle, die die Filmemacherin über ihr Publikum ausübt: Nachträglich erweist sich die Auflösung als eigentliche Regielektion, die wie E. A. Poes Der entwendete Brief die vorangehende Geschichte relativiert und beiläufig auch auf das Fundament der Beziehung zwischen Publikum und Erzählung verweist: Einem Film folgen bedingt, der Wirklichkeit, die er in Szene setzt, Glauben zu schenken. Nur Boris Lehmans Mes portraits filmés hat sich dieser Frage in den letzten Jahren ähnlich elegant anzunähern gewusst.