Seit einiger Zeit ist ein neuer Trend zu beobachten: Die linksradikalen Revolutionäre der Sechziger- bis Achtzigerjahre sind ins dokumentarische Blickfeld gerückt. Besonders daran ist, dass sie als Protagonisten zu Wort kommen, dass Kritik und Widersprüche geäussert werden, ohne aber die Ideen der Sozialrevolutionären Weltverbesserung zu verleugnen. Verjährte Straftaten und verbüsste Haftstrafen sind sicher mit ein Grund für diese Entwicklung. Dabei gestaltet sich die Herangehensweise der einzelnen Dokumentarfilme sehr individuell. Erinnert sei an Do it von Sabine Gisiger und Marcel Zwingli, Addio Lugano bella von Francesca Solari oder Black Box BRD von Andres Veiel, in deren thematischem Zusammenhang auch Grosse Freiheit, kleine Freiheit zu nennen ist.
Kristina Konrad porträtiert in ihrem Film Inge Viett, eine vor wenigen Jahren aus dem Gefängnis entlassene ehemalige RAF-Terroristin, und Maria Barhoum, eine Linksintellektuelle aus Uruguay, die die Zeit der Militärdiktatur im schwedischen Exil verbringen musste und heute wieder in ihrem Heimatland lebt. An den Orten und mit den Menschen ihrer Vergangenheit lernt man die Lebensgeschichten und Motivationen der beiden Frauen kennen und entdeckt Zusammenhänge zwischen ihren Biografien: Es sind ihre individuellen Lebensentwürfe und ihr revolutionäres, kompromissloses Engagement für eine bessere Zukunft, bei dem sie auch nicht vor gewalttätigen Aktionen zurückschreckten. Offen berichten sie auch über die Schattenseiten und Abgründe ihrer damaligen selbst gewählten Lebensform.
Zu einer Reise von Inge Viett nach Kuba, in das Land, das für viele Revolutionäre Vorbildfunktion hat, lädt Kristina Konrad auch Maria Barhoum ein. Sich der Vergangenheit, den Träumen und Enttäuschungen und vor allem den kritischen Fragen unter diesen Voraussetzungen erneut zu stellen, ist ein bewundernswertes Unterfangen. Dem Dokumentarfilm gelingt es, über die Einzelschicksale hinaus mit historischen Informationen zu fesseln. So erfährt man von Inge Viett Einzelheiten über den Umgang mit und die Unterstützung von linken Terroristen durch die DDR; Ausschnitte aus Nachrichtensendungen führen andererseits die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Südamerikas vor Augen.
Grosse Freiheit, kleine Freiheit spannt den Bogen zwischen zwei Kontinenten, zwischen den unterschiedlichen Voraussetzungen zweier Länder, die beide zu revolutionärem Denken Anstoss gaben, und zwischen zwei Menschen, die sich wohl sonst nie begegnet wären. Kristina Konrads Ansatz, sich eines Urteils gegenüber ihren Protagonistinnen zu enthalten und stattdessen durch die Gegenüberstellung zweier Biografien und einer Begegnung der ehemaligen Aktivistinnen an einem dritten Ort das Feld der Gegenwart zu eröffnen, löst dabei die Erwartungen durchaus ein.