ANTOINE DUPLAN

CHRONIQUE (PIERRE MAILLARD)

SELECTION CINEMA

Mit Campo Europa (1984), Poisons (1984) und 7 fugitivs (1993) hat der Genfer Filmemacher ohne Hast und parallel zu anderen Filmarbei­ten ein kleines Spielfilmuniversum geschaffen, das sich durch Sensibilität und Klugheit aus­zeichnet. 7 fugitivs, der mit geradezu lächerlich geringen Mitteln realisiert wurde, erzählt von einer schicksalshaften Nacht im Leben von sechs alten Freunden. Chronique führt diese psychologische und soziale Analyse von Vier­zigjährigen in der Schweiz, die Mühe haben, ihren Jugendträumen abzuschwören, in der Form einer Erzählung fort. Unglücklicher­weise erweist sich dieses ehrgeizige Projekt als weniger packend als das vorangehende. Die Glaubwürdigkeit leidet darunter, daß der Regisseur seine Ideen zu sehr verwässert und ein paar zu archetypische Figuren in Szene setzt.

Peter (Jean-Quentin Châtelain) verläßt Lola (Patricia Bopp) nach einem Streit. Ein Opfer des Peter-Pan-Syndroms, will der vier­zigjährige Egoist sein Lehen leben, ohne Re­chenschaft abzulegen. Unverständlich ist ihm, daß »die wahren Helden diejenigen sind, die eine Frau haben und Kinder und abends fern­sehen«. Er irrt durch die Städte, begegnet tragi­schen, bisweilen surrealen Figuren, wird zum Clochard und endet in der Gosse. Zur gleichen Zeit beginnt Lola ihr Leben neu zu organisie­ren. Sie bietet eine Dienstleistung an, der sich die Prostituierten verweigern: Sie verkauft Zärtlichkeit in Form von Küssen – im Park und auf offener Straße. Dies ist die hübscheste Idee im Film, und zweifellos ließe sich daraus ein Kurzfilm machen. Aber der Filmemacher zieht es allzusehr in die Länge. Peters Scheitern dauert an, ist voraussehbar und wenig plausibel (der Mord an der Prostituierten, dem Reper­toire des Film noir entnommen, paßt nicht in den Kontext). Lolas Mut, für ihre Unabhängig­keit auch schlechtbezahlte Arbeit anzuneh­men, wirkt auf Dauer auch nicht anregender, so beispielsweise wenn man fast in Echtzeit die Reinigung einer Cafeteria verfolgen muß.

Das Scheitern des Filmprojekts ist um so bedauerlicher, als der traumhafte Touch Mail­lards immerhin in Details aufscheint: in gewis­sen Elementen der Ausstattung oder des Dia­logs, in der verführerischen Idee, den Regen nur auf eine Person niederprasseln zu lassen oder in der Person des Clochards und Sehers­ – einer sehr gelungenen Figur – oder der Barmaid mit dem großen Herzen, verkörpert durch die Sängerin Yvette Théraulaz. Nicht zu vergessen der bezaubernde Auftritt von Hanna Schy­gulla, die in Begleitung des Akkordeons den Film eröffnet und beschließt.

Antoine Duplan
geb. 1957, leitender Redaktor des Ressorts Kultur von L’Hebdo, lebt in Lausanne.
(Stand: 2019)
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