MARTIN SCHAUB

DIE DESERTION, EINE VERSUCHUNG

ESSAY

Wenn in Alain Tanners Jonas Max (Jean-Luc Bideau), der alte “68er”, der jetzt, um l keine gesellschaftlich gefährliche Funktion zu erfüllen, als Korrektor in einer Druckerei wirkt, mit Madeleine, der Frau, die nur so lange arbeitet, bis sie wieder genug Geld hat, um zu reisen, telephoniert, trägt er ein helles T-Shirt mit der Aufschrift “Partir”. Der Aufdruck zeigt einen quadratischen Rahmen und einen Horizont; zum Horizont hin, immer kleiner werdend, Fussspuren, über dem Horizont eine Sonne. Max aber bleibt da; er macht wie Vincent und Françoise in Le retour d’Afrique den “vereinten Händlern und Geldsäcken” die Hölle heiss. Das heisst: Trotzig wie seinerzeit Günter Grass, der sich im eigenen Land (vom Bundeskanzler!) einen “Pinscher” nennen lassen musste, sagt oder denkt er: “Es wird dageblieben. ”

Das Motiv vom Wegfahrwunsch und vom Dableibzwang ist sozusagen konstituierend für den neuen Schweizer Film und so reich an Formen und Erfindungen, dass man es weit auffächern muss, wenn man nicht einfach sagen will: Der Schweizer Film der letzten zwanzig Jahre fuhrt immer wieder Figuren vor, die aus der Haut und aus dem Land fahren möchten, die aber der Heimat, die es zu schaffen gilt, jeden Tag, ihren Widerspruch schliesslich nicht entziehen möchten.

Im Zusammenhang mit dem zentralen Motiv des Wegfahrens ist immer wieder Boris Vian zitiert worden: “Les Suisses vont jusqu’à la gare, mais ils ne partent pas. ” Aber das ist zu simpel.

Ein paar wenige Dokumentarfilme erinnern die Bewohner eines Landes, das sich innert kurzer Zeit, ja eigentlich recht plötzlich, mit einer Million Fremder in den eigenen Grenzen konfrontiert sieht, an eine Zeit, da Auswanderung und Fremdarbeit auch ein schweizerisches Schicksal gewesen ist. Zwei Spielfilmprojekte zum gleichen Thema haben nicht realisiert werden können, aber sie gehören gedanklich in denselben Zusammenhang. Die fast totale schweizerische Sesshaftigkeit ist tatsächlich eine Erscheinung jüngeren Datums. Es gab und gibt nicht nur den Zug von den Berggegenden hinunter ins Mittelland und in die Städte; verdienstlose Bergbewohner, vor allem aus dem Tessin und aus Graubünden, haben noch bis in unser Jahrhundert auswandern müssen. Von der Reisläuferei - auch der Kunstreisläuferei - in früheren Jahrhunderten wollen wir erst später kurz reden. Der politische Sinn von Filmen zu dieser Auswanderung ist evident: dem um seine Eigenheit bangenden und deshalb fremdenfeindlich reagierenden Bürger soll klar gemacht werden, dass die Fremden in der Schweiz sozusagen “ökonomisches Asyl” suchten, nicht anders als früher Schweizer auch.

Die beiden Filme des aus dem Tessin stammenden, aber in Bern geborenen Remo Legnazzi, eines “Emigrantensohns” also, Chronik von Prugiasco (1978) und Der zweite Anfang (1980), machen die Verhältnisse und Entwicklungen besonders klar. Die zwei Teile der gleichen Geschichte sind, weil sie nicht Schlag auf Schlag hintereinander gekommen sind, nicht oft als solche erkannt worden. Hier sollen sie zusammen betrachtet werden.

Distanziert und ernst weist in Die Chronik von Prugiasca die Kamera das Absterben eines Tessiner Bergbauerndorfs nach; die “macchina da presa” ist allgegenwärtig, ihr entgehen die wenigen Bewegungen einer von der Industriegesellschaft zum Sterben verurteilten Berglandwirtschaft nicht. Die letzten Bergbauern - es gibt da nur noch 20 Familien, die von der Landwirtschaft leben - führen in Geste und Wort aus, weshalb ihre Arbeit und ihre Zivilisation keine Chance mehr haben. Ein Kapitel dieser stillen Bestandesaufnahme beschäftigt sich eingehend mit der Alpstrasse, die den Tod des Dorfes noch hinauszögert, aber nicht verhindert. Wie angetönt: die Kamera schweift nicht ab, bleibt irgendwie pietätvoll stehen in der Landschaft und in den Häusern, gerät erst in Bewegung, wenn sie das Ausweichen in irgendein “gelobtes Land”, wenn sie die Emigration, die im Bleniotal Tradition hat, beschreibt. Als Marronibrater ins Schweizer Mittelland und in die Po-Ebene, als Kellner oft bis nach Paris; Legnazzi wohnt einer réunion von Heimwehtessinern in Paris bei; spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass hier neben der vordergründigen Klage über die “Auspowerung” der Berglandwirtschaft, über die Tatsache, dass der reichste Industriestaat Europas die Dritte Welt wenige Kilometer von den Industriezentren entfernt beginnen lässt, auch die Emigration/Immigrationsproblematik, mit der die Schweiz so schlecht umgeht, angesprochen ist.

In dem zweiten Film, Der zweite Anfang, ging Legnazzi noch ausdrücklicher auf sie ein, indem er eine Tessiner Kolonie in Kalifornien porträtiert. Die Tessiner sind spät angekommen in „God’s own Country”, und sie haben es nur weit, aber nicht herrlich weit gebracht; sie sind das geworden, was sie auch in der Schweiz hätten werden können, wenn das Land die Berglandwirtschaft und überhaupt die Landwirtschaft mehr gepflegt hätte: Mittelstand ohne Not, kurz das, was man auch in den Schweizer Städten hat erreichen können. Weit weg von der Heimat, wo ein “Herrenvolk” mit den Fremden nicht oder schlecht zurande kam, ging Legnazzi dem Problem nach. Er zeigt einerseits, wie einfach es offenbar den Schweizer Auswanderern gelang, bei den bereits in Kalifornien Angekommenen Vertrauen zu finden, und wie kurz das “normale” historische Gedächtnis ist. In jenen, die noch später kommen, den Mexikanern nämlich, vermögen sich die bereits installierten Tessiner Siedler nicht mehr zu erkennen. Chronik von Prugiasco und Der zweite Anfang beschreiben zusammen eine unheimliche Wiederholung und Spiegelung. Sie wäre zweifelsohne mehr aufgefallen, wäre der USA-Film dem Tessiner auf dem Fuss gefolgt.

Eigenartigerweise macht auch Bruno Molls erster Film, Gottliebs Heimat (1978), den Zuschauer mit der gleichen Borniertheit gegenüber dem Unbekannten bekannt - obwohl das nicht das Hauptthema dieses Films ist, der die eigenartige Ambivalenz seines Autors erstmals zeigte. Gottlieb Hoser, damals 90jährig, erzählt seine amerikanischen Abenteuer; er wäre, sagt er, in der Schweiz geblieben, hätte er Bauer werden können. Bruno Moll fährt den Weg eines Mannes, dessen Leben als Fabrikarbeiter in der Schweiz vorbestimmt war, ins Land der Offenheit noch einmal nach. Als aufsteigenden Lebenslauf erzählt Gottlieb Hoser seine Geschichte, und die Art, wie er sie erzählt, zeugt von einer wahrhaft einmaligen Selbstgerechtigkeit, die der Filmemacher nur einmal - und nicht einmal auf besonders glückliche Weise - kommentiert; über Gottlieb Hosers “Nigger”-Erzählung legt er Bilder von friedlich musizierenden Schwarzen im New Yorker Central Park.

Vielleicht hätten zwei Spielfilme zum Thema schweizerischer Emigration die Reziprozität besser und klarer akzentuiert als die wenigen einschlägigen Dokumentarfilme zum Thema: Kurt Gloors “Schwabengänger”-Projekt und Bruno Soldinis Vorhaben einer Verfilmung von Plinio Martinis Romans “II fondo del sacco” (Nicht Anfang und nicht Ende. Roman einer Rückkehr). Oder vielleicht auch nicht, denn es ist äusserst schwierig, solche Vergangenheit in diese Gegenwart hinein sprechen zu lassen. Es liess sich mit ökonomischen und historischen Argumentationen beinahe nicht eingreifen in die Fremdarbeiterdiskussion.

Dringender überdies erschien einigen Autoren die Darstellung des Spiels mit dem Auswanderungsgedanken “aus Gewissensgründen”. Die Helden des neuen Schweizer Spielfilms seit Tanners Charles mort ou vif? sind ja keine Menschen, denen das Schicksal böse mitspielt, und die an den Umständen zerbrechen. Es sind sensible Menschen, die nicht „im schlechten Fett”, wie Vincent in Le retour d’Afrique sagt, verkommen wollen, und die etwas dagegen tun, sich zu regen beginnen. Manchmal ist ihr Bewegungsdrang so gross, dass sie das Land verlassen zu müssen glauben.

Michel Soutter hatte diese Abreise selbst versucht, war “nach Paris hinauf” gefahren mit seinen Gedichten, seinen Chansons. Alain Tanner, der nicht ohne gute Gründe zur See gegangen war, bevor er sich auf den Film einliess, und der damals gerade in Paris arbeitete - es war düsterste Brotarbeit, etwas anderes gab es nicht für Schweizer, die Filme machen wollten -, Alain Tanner hat Soutter, unter Mithilfe von Claude Goretta, der damals bereits für das Genfer Fernsehen arbeitete, wieder in die Enge der Heimat zurückgebracht. Soutters erster Film, La lune avec les dents (1967), ist ein verzweifelter Stillstandsfilm. William, die Hauptfigur, das könnte! Soutter selber sein vor seiner Abreise nach Paris. Am Anfang der zweiten kleinen Geschichte, die Soutter erzählt, Haschisch (1968), packt einen jungen Schauspieler ein unbeschreibliches Fernweh, als er im Korridor des Radiostudios, wo er einen Text zu lesen hat, den Schrei eines anatolischen Hirten vernimmt; der Schrei korrespondiert mit dem Gedicht des türkischen Dichters Nazim Hikmet über eine Bahnfahrt durch die Schweiz, die er einen Garten inmitten einer blutgetränkten Wüste nennt. Mathieu beschliesst von einer Minute auf die andere, der Enge zu entfliehen, und verabredet sich mit Bruno, einem Freund, der Automechaniker ist, zu diesem Zweck. Doch Bruno wird allein fahren. (Vielleicht heisst er in Soutters nächstem Film Hector, der so begeistert vom Theater in Paris erzählen wird und vom Café gegenüber.) Wichtig ist, dass Mathieu nicht fährt, wie einige Schweizer Filmhelden nach ihm. Man könnte sagen, eine Frau halte Mathieu vom Abfahren ab, eine Frau, die von draussen, aus der ersehnten Ferne kommt; aber das wäre mindestens so falsch wie richtig. Trotz spielt eine Rolle, und komme der Trotz auch als Resignation daher.

Auf die Begriffe bringt die Heimathassliebe - wie so oft - Alain Tanner; in Le retour d’Afrique, der vielleicht kein besonders sinnlicher, kein besonders souveräner und packender Film ist, aber ein umso hellhörigerer, genau um den Zeitgeist strukturierter.

Das Terrain ist vorbereitet durch Charles mort ou vif? und La Salamandre, wo auch das Motiv des Wegfahrens bereits skizziert ist. Aus einem Land, wo es bei spielsweise Inspektoren der Zivilverteidigung gibt, die zu kontrollieren haben, ob das kleine tomatenrote Büchlein auch schön säuberlich aufbewahrt wird, möchte man nur zu gerne abhauen. Pierre, der Journalist, sucht schon lange eine passende Stelle in Paris. Eigentlich, denkt er, interessiere er sich gar nicht so brennend für die kleinkarierten Problemchen seines Landes; er ist eben aus Brasilien zurückgekehrt; da schlägt der Zeitgeist zu, und nicht in Genf; er braucht eine ganze Weile, bis er merkt, dass - wie Tanner im Kommentar selber sagt - “die Zerstörung der Körper dort etwas mit der Zerstörung der Geister hier” zu schaffen hat. Wenn Pierre zum Schluss sagt, er verkaufe sein Auto, überlasse die Wohnung einer Freundin und fahre dennoch nach Paris, wo man ihn zwar nicht anständig bezahlen könne, ist das nicht nur ironisch gemeint. Der Deserteur ist bei Tanner immer eine sehr schillernde Figur, bis zu Paul in Dans la ville blanche.

In Le retour d’Afrique wollen zwei ernst machen, der Geldsack-Stadt den Rücken zeigen, da neu beginnen, wo man noch neu beginnen kann. Sie wollen in Algerien siedeln; einer, der schon dort ist, Max, soll ihnen helfen. Aber da kommt etwas dazwischen. Und doch kann man sagen; Vincent und Françoise fahren weg; sie sind in Tizi-Ouzou, darüber besteht kein Zweifel, sie müssen gar nicht wirklich abfahren. Warum soll Vincent, der gespürt hat, dass Gewöhnung und Karriere das schweigende Einverständnis mit den Verhältnissen bedeuten, nicht freiwillig die Entwurzelung wählen, wo es ja auch soviele unfreiwillige gibt? Und überhaupt: Nicht nur ökonomische Gründe dürfen als hinlänglich gelten. Vincent und Françoise wollen sich selber retten, indem sie desertieren. Doch “sich selber retten” ist für den politschen Filmautor Tanner keine Lösung. Darum lässt er seine beiden Helden eine Reise ins Innere ihres Schädels antreten, lässt sie citoyens (und nicht nur Einwohner) der Heimatstadt werden. In Charles mort ou vif? hatte er ja bereits jenen Satz aus dem surealistischen Manifest zitiert, den Studenten ein Jahr vor seinem Film wieder auf die Hausmauern von Paris geschrieben hatten: “Wenn du den Frieden willst, bereite den Bürgerkrieg vor. ” Die Kriegserklärung von Vincent und Françoise, das ist ihr Kind, der “Landesverräter”, den sie “ihnen”, und das heisst den vereinten und verfilzten Politikern und Händlern, anhängen wollen.

Es ist also nicht Feigheit und Mangel an wirklichem Freiheitsdurst, was die Helden einiger Schweizer Filme nicht verduften lässt, sondern Verantwortlichkeit. Vincent und Françoise übernehmen Verantwortung nicht nur in der Gegenwart, sondern auch für die Zukunft dieses Landes. Tanner wird ein paar Jahre später, in Jonas, dafür ganz starke Sätze finden und Geschichten erfinden. Noch auf die folgenden Filme, Messidor, Les années lumière und Dans la ville blanche, gilt Rousseaus Satz, den Tanner am Schluss von Jonas zitiert: “Emile n’est pas un sauvage à reléguer dans les déserts; c’est un sauvage fait pour habiter les villes.” Mathieu, frierend auf seinem Motorfahrrad, auf dem Weg zur Arbeit, entwirft ein Zukunftsprogramm für Jonas, der im Jahr 2000 fünfundzwanzig Jahre alt sein wird.

Das Wegfahren, die Desertion ist ein Hauptthema, aber nie ist sie als Lösung propagiert worden. Jene, die in diesem Land Filme machten, waren und sind zum Teil noch immer der Ansicht, man dürfe diesem Land den Widerspruch nicht entziehen, indem man abreist. Viele haben die Formel der schwärzesten Reaktionäre in diesem Land noch in den Ohren: “Moskau einfach” sagten diese immer dann, wenn ihnen die “neue Heimatliebe”, jene, die allenfalls sogar subversiv macht, in die Quere kam.

Die Filmemacher selber drohten selten mit Auswanderung. Die Kunst-Reisläuferei kam ihnen suspekter vor als den Schriftstellern der letzten 150 Jahre, die sich so viel “Weltgewinn” vom Abreisen versprachen, die die Engnis der Enge beklagten, von Gottfried Keller bis zu Jakob Schaffner, von Albin Zollinger bis zu Jürg Federspiel. Die Filmemacher sagten nur: Lasst uns hier arbeiten, es gibt noch soviel zu tun.

Kurt Gloor entlässt sogar in Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner den alten Schuhmacher mit einem gewissen Verdacht, mindestens mit Ironie. Der alte Mann, der da mit seinem Rucksäcklein im Flughafen aufkreuzt und an die Sonne fliegen will, wird wohl bald wieder zurückkehren, und man darf nur hoffen, dass er dann all sein Erspartes ausgegeben haben wird und der Staat und die Verwandten für ihn aufkommen müssen. Sebastian C. Schroeder lässt in Südseereise einen, den er selber spielt und dem er seinen Namen gibt, nur von der Ferne träumen und zeigt ihn am Schluss unter Topfpalmen im Schwimmbad, wo die Wellen künstlich hergestellt werden; auch ihn hält “es”, das heisst Arbeit, Frau, Kind.

Der französische Film La Provinciale (1981) von Claude Goretta darf wohl in dem gleichen Zusammenhang auch noch genannt werden. Christine könnte ebensogut aus dem Kanton Waadt wie aus der Lorraine stammen und auch wieder dorthin zurückkehren - allerdings nicht, weil es da so viel zu tun gäbe, sondern weil da die Welt — im Gegensatz zu Paris - noch in Ordnung ist. Goretta hat sich in diesem Film dem Heimatverständins einer früheren Generation - man ist versucht zu sagen: auf eine gefährliche Weise-wieder genähert. Ob diese Tendenzwende endgültig ist, wird man an einem der nächsten Filme Gorettas ablesen können; er erzählt die Geschichte eines Genfer Mädchens am Hofe Ludwig XVI.; das könnte eine “Heimwehgeschichte” werden. Hier dagegen ist die Rede von den schweizerischen Fernwehfilmen der letzten zwanzig Jahre, und wir wollen noch einmal zu Vincent und Françoise zurückkehren.

Im kleinen Reisegepäck von Roger Wiedmer in Hans-Ulrich Schlumpfs Trans Atlantique findet sich nicht nur das für den Ausbruch des Vierzigjährigen entscheidende Buch, “Les tristes tropiques” von Claude Lévy-Strauss, sondern auch ein Bild von Vincent aus Tanners Film. Roger scheint es wie einen Fetisch mit sich herumzutragen; auch wenn er in die Kabine der schönen Brasilianerin Zaira zieht, kommt das Foto mit und steckt im Spiegelrahmen. Es ist nicht leicht zu interpretieren, was Wiedmer an Tanners Le retour d’Afrique fasziniert hat, und wie er den Film gelesen hat. Der Fetisch scheint mir eher auf die fragwürdige Seite dieses Abdampfers Wiedmer zu gehören, auf die Seite der einfachen Lösungen komplizierter Konflikte, die ihm Zaira manchmal ja auch vorhält. Die Sehnsucht Vincents und die Sehnsucht Rogers sind vergleichbar, aber einige Jahre liegen zwischen den beiden Filmen, einige Jahre und der Zusammenbruch einiger Hoffnungen, die ja immerhin dafür verantwortlich waren, dass Tanner sein Auswandererpaar nicht abreisen liess. Roger, so ist anzunehmen, hat den Zusammenbruch der Hoffnungen einigermassen bewusst miterlebt. Und dennoch will er ja vorerst nur für ein halbes Jahr weg. (Insofern ist er gar nicht zu vergleichen mit Vincent und Françoise. Aber weshalb denn führt er das Bild von Vincent mit? Zutiefst drinnen scheint er doch damit zu rechnen, dass er die Brücken ganz abbrechen könnte.) Schlumpf verlässt seinen Helden in einem bezeichnenden Moment der Unentschiedenheit: Roger könnte sein Vorhaben durchziehen, oder er könnte sich auf dem schnellsten Weg nach Rio, zu Zaira, begeben ... oder er könnte mit dem nächsten Flugzeug nachhause reisen. Denn natürlich hat er sich getäuscht; natürlich hat auch er eine Reise ins Innere seines Schädels angetreten.

Von der Warte und der Tradition eines Amerikaners ausgesehen, müsste dieses Hauptmotiv eines ganzen Filmschaffens besonders auffallen. Wie schwer sich die Schweizer Filmhelden tun, Distanz zwischen sich und ihren ureigensten Boden und das heisst auch zwischen sich und ihre Geschichte und ihre Aufgabe zu legen, ist doch sehr eigenartig. Wie da Menschen immer wieder Autos, Bahnen, Flugzeuge und Schiffe besteigen, nur um sich schliesslich in ihr Bewusstsein, in ihre “Enge” zu verbohren, das ist vielleicht zum Teil wohl unverständlich für mobilere Zivilisationen, auch für Bewohner von Ländern, die eine starke Emigration aufweisen. Wie schon angetönt, muss ihnen auch auffallen, wie wenig kohärent die an ihren Boden fest verschraubten und von Fernweh geplagten Menschen auf Immigranten reagieren, wie wenig einfühlsam. Das “Heimweh” - übrigens ein Begriff und ein Wort rein schweizerischen Ursprungs, die Reisläufer haben es erfunden - scheinen viele Schweizer exklusiv für sich beanspruchen zu wollen.

In dem kleinräumigen Land, das man nur ungern verlässt oder nur in der Krise, ist, so würde man annehmen, auch kaum eins der beliebtesten Genre des internationalen Films der letzten zwanzig Jahre möglich, das Roadmovie oder der Reisefilm. Und doch gibt es das, kleinmasstäblich selbstverständlich.

Und wieder ist es Alain Tanner, der die Figur genau ins Bedeutungsfeld setzt, aus- und abgrenzt, in Messidori 1979), dessen Arbeitstitel “Le voyage encercle” gelautet hatte. Der Film beginnt geradezu mit dieser Ab- und Eingrenzung, mit einer Flugaufnahme, die zunächst fast senkrecht auf Felder und Autobahnen hinunterblickt, dann einer Bergstrasse folgt und schliesslich über eine Voralpenkrete horizontal in die Weite schaut, die von der Alpenkette halb verdeckt wird. Die Schweiz liegt nicht am Meer; Weite ist ein mythischer, nicht ein realer Begriff. Tanner setzt ein weiteres Zeichen: Zu dieser von zwei Schnitten strukturierten langen Einstellungen ertönt - von einer Frau gesungen, auch das ist wichtig - ein Lied aus dem Zyklus “Die Winterreise” von Franz Schubert: “Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus”; und, was ebenso bezeichnend ist: “Die Liebe liebt das Wandern.“ Reisen kann man in der Schweiz, Verreisen nicht. “Wer keinen Pass dabei hat”, sagte Tanner damals, “kann hier nur reisen wie eine Billardkugel, von einem Bord zum nächsten. ”

Trotzdem ist Messidor ein Reisefilm, und er macht irgendwie die gleiche Entwicklung durch wie ein Tannerscher Held: in Ermangelung weiter Horizonte senkt sich der Blick auf den Boden, auf dem der Film steht, auf den Boden eines verbetonisierten, markierten, noch und noch und durch und durch organisierten Musterländchens mit evidenter Tendenz zur Unmenschlichkeit, zu Herrschaft und/oder Selbstmord. Dieses Land hat und findet keinen Atem.

Die Billardtisch-Odyssee auch in zwei Filmen von Christian Schocher: Das Blut an den Lippen des Liebenden (1974) und Reisender Krieger (1981), Versuche, in der Erstarrung einer kleinen Welt die Ausblicke, die Weite zu finden. Trostlos. Schocher beschreibt seinen ersten Film, der im übrigen weit ab von den handwerklich sauberen und schon leicht standardisierten Spielfilmen der Endsiebziger Jahre liegt, lakonisch: “Die Geschichte einer Heimkehr, die zur Flucht wird, und einer Liebe, die in den Tod führt.” Ein “Heimkehrer” steht im Mittelpunkt, eine Figur, die im Schweizer Film eher selten ist, und auf die in diesem Kapitel auch noch kurz eingegangen werden soll. In Schochers Das Blut an den Lippen des Liebenden traut man zuerst seinen Augen nicht: Kommt da doch einer an wie im Western, geht langsam die Strasse hinauf, fast endlos, bis zum Dorf. Das ist zu gross, gemessen am schweizerischen Lebensstil, pathetisch, unwirklich, Kino eben. Doch die fluchtartige Reise kreuz und quer durch die Alpen, holprige, besinnungslos-orientierungslose Fahrten, kommt einem eigentlich vertraut vor. Man kann nicht fortlaufen in der Schweiz, kommt immer wieder an den Ausgangspunkt des Aufbruchs zurück. Schochers Held läuft dem Polizisten direkt vor die Flinte. Es ist eine sehr romantische Kinogeschichte, die da erzählt wird, aber weil sie mit äusserst beschränkten Mitteln erzählt wird, spielt die Realität, spielt der Alltag sehr schnell wieder hinein; die pathetische Höhe lässt sich nicht halten. Alles wird sofort klein; der eigenartige Film Schochers lebt von dieser Diskrepanz, von diesem Schwarzweiss, das im Grau versinkt. Der Film, der einer dieser wiederkehrenden Bastarde im Schweizer Film ist, eine verrückte Mischung von Traum und Wirklichkeit, wird keinen Platz bekommen in der Anthologie des neuen Schweizer Films, doch vermittelt er streckenweise ein starkes und wesentliches Gefühl von Ausweglosigkeit, das nur sehr schwer mit Worten zu beschreiben ist, auch weil es sich eigentlich erst in der Erinnerung - also nicht in der gegenwärtigen Entfaltung und Erfüllung während der Projektion - eingestellt hat.

Das ist seine Schwäche, die sich in Reisender Krieger, einer der gültigsten Formulierungen unseres Problems, nicht mehr wiederholt. Reisender Krieger ist nach dem Muster der Odyssee entworfen. Dass das nicht oder nur für den Betrachter mit privilegierten Informationen durchscheint, muss allerdings sofort gesagt werden.

Reisender Krieger ist keine Literaturverfilmung, ist ausschliesslich lebendiger Film: ein Abenteuerfilm aus den Hinterhöfen und Untergründen des Landes, das nach “money, milk und honey stinkt” (Christian Schocher), nach “business, Blei und Beton, nach erstickten Gefühlen und niedergewalzten Träumen”. Krieger, der Handelsreisende mit Kosmetika, ist “born to be wild”, einer von so vielen, die einmal leben wollten und nun das Ueberleben üben. Er hat nicht nur den Ausbruch geträumt, er hat ihn sogar versucht; man erfährt, dass er in die Fremdenlegion abgehauen ist, damals. Krieger ist keine Tanner-Figur, er hat nicht gelesen, hat keine Filme angeschaut; sein Drang nach Wildnis und Wildheit war primitiv, aggressiv, ganz elementar gewesen. Nun ist er 45 Jahre alt, träumt nur noch im Alkoholdusel. Nur die Bewegung ist noch geblieben, sinnlos. Könnte er nicht mehr reisen, müsste er sich erschiessen.

Das Reisen mit Produkten ist der letzte kärgliche Rest der Träume; Krieger hat zwar offenbar eine Wohnung in einer Schlafstadt, doch die bewohnt seine Frau. Sie sieht man nicht, und man glaubt kaum, dass es sie gibt, denn der Held ist ein Flüchtling und eigentlich nur zu flüchtigen Begegnungen oder zu gar keinen fähig. Ein Freak ist er, und er begegnet anderen Freaks, bis auf ein einziges Mal. Die “Nausea-Episode”, gedreht in dem Dorf, wo Schochers erster Film entstand, ein Film unter anderem über ein Schülertheaterstück, das von einem Araber, einem Fremden also, erzählt, der da plötzlich in der Bergeinsamkeit der Bauern auftaucht und nicht eben auf Gastlichkeit stösst, die Nausikaa-Episode formuliert das für ewig Entschwundene, nur noch in Reliktgebieten, in der nächsten Nähe der Natur mögliche sesshafte Glück. Würde Krieger auf seiner ewigen Reise etwas suchen, könnte er es möglicherweise da finden. Aber Krieger sucht nicht, er verliert sich, ist schon fast verloren, bis er auf einen Jungen trifft, den er auf seine kaputte Weise ins Herz schliesst; “Telemach” ist Drummer, ein junger Deutscher, der sich aus der Bundeswehr davongestohlen hat, ein Deserteur. Reisender Krieger ist die Nachtversion von Messidor-, die Nacht- oder Untergrundversion ist, wie Messidor, ein Akt von verzweifelter Subversion.

Die Nacht als Entgrenzung, als Versuchung und Verheissung, als “Ausland” erscheint schliesslich mit der durchsichtigsten Konsequenz in Clemens Klopfensteins Filmen, zu denen man — obwohl er da die Kamera führte, bewegte, einschmuggelte und infiltrierte - Reisender Krieger nicht zählen darf.

Abreisen und Entgrenzen in der Dunkelheit gehören nahe zusammen, bewusst oder unbewusst, das spielt wirklich keine Rolle. Der erste Film von Clemens Klopfenstein ist ein kurzer Abreisefilm: In Nach Rio schleppt sich ein angeschossener Gangster, zur Nachtzeit selbstverständlich, zum Flughafen und erreicht das Flugzeug nicht mehr. Die beiden Helden des Kriminalromans “Die Migros Erpressung” (den Klopfenstein und Markus P. Nester zunächst als Filmvorlage geschrieben hatten) hecken ihren monströsen Anschlag auf die Sicherheit der sesshaften Mitmenschen aus, damit sie abhauen können. (In Markus P. Nesters letztem Film, Ballonbremser, kauft einer eine Bahnkarte nach Marseille, weil er da ein Schiff besteigen und nach Mexiko flüchten will. Als er vernimmt, dass für die Einreise in Mexiko ein Visum nötig ist, lässt er, kleiner und kleinbürgerlicher Schweizer, der er ist, von seinem Plan ab. Auch Markus P. Nester hat vom Filmen abgelassen, und wir wenden uns wieder Clemens Klopfenstein zu.)

Der bislang vorletzte Film von Klopfenstein, Transes, thematisiert mit einem quasi narrativen Beginn unser Thema. Da wankt einer durch ein fast stockdunkles Zimmer, schaut auf die Strasse hinunter; ein Mopedfahrer, der ganz gemächlich unten vorbeifährt, hat Signalwirkung. Der Mensch, den man nicht sieht, denn man schaut mit seinen Augen, stürzt sich über Treppen hinunter; dann beobachtet er sich sozusagen selber bei der Abfahrt; ein Wagen wendet auf der Strasse, die wir eben von oben gesehen haben, und braust davon. Von diesem Moment an fährt der Kameramensch und fährt der Zuschauer, über eine Stunde lang. Fahrend, in der Ferne und Fremde, ist man bei sich; und es gibt keine Umkehr; das Subjekt des Films - Kameramensch und Zuschauer - rast einher, richtet sich ein in der Bewegung; den “Zug” verlässt er nur versuchsweise und zögernd; die Bewegung könnte unendlich weit und unendlich lange weitergehen; die letzte Einstellung von Transes, eine der längsten, ist eine leicht seitwärts blickende Vorwärtsfahrt durch eine unendlich weite nächtliche Ebene; in einer Art Oszillatorbewegung tauchen elektrische Leitungen ins Bild und wieder weg; dazu das eintönige und vielschichtige Geratter von Eisenbahnrädern auf Schienen, die scheinbar ins Unendliche führen. Im gesamten neueren Schweizer Filmschaffen gibt es keine anderen von der Heimatproblematik dermassen abgelöste Sequenzen wie in Transes und Geschichte der Nacht (1979). Diese Filme sind Einlösungen der Sehnsucht, nicht ihre Darstellungen. Im jüngsten Film Klopfensteins, Das Schlesische Tor (1982), ist das Fernweh wieder im Bild. Ein Tisch, drei Briefe drauf, eine Matratze in einem Zimmer, und wieder dieses Hinunterstürzen durch ein Treppenhaus, und dann fremde, lockende Musik und fremde Vorgänge in fremden Gegenden: das Sehnen, das furchtbare Sehnen: Der Autor wohnt seit rund zehn Jahren in Umbrien — wenn er nicht auf Reisen ist. Das selbe Sehnen spürt man auch in Alain Klarers bisher einzigem Film, Horizonville (1978), wo alles fürs Abfahren in Griffnähe bereit steht: Autos, der Zug, und auch die Phantasie wären da.

Von zwei Filmen und einem Nebenmotiv muss hier noch die Rede sein, bevor wir versuchen werden, das Tableau so differenziert wie möglich und so schematisch wie nötig aufzuzeichnen. Zwei Filme immerhin gibt es, in deren Mittelpunkt zwei Männer stehen, die weggefahren sind: Yves Yersins Episode 1980 - Celui que dit non in Swissmade (1969) und Friedrich Kappelers Stolz oder die Rückkehr (1981). Yersins Held hat 1968 die Schweiz verlassen, weil er dachte, die wahren Aenderungen, die eigentlichen Ereignisse spielten sich anderswo ab; nach zwölf Jahren, 1980(1), kehrt er zurück, und er merkt, mit wachsendem Zorn, dass er recht gehabt hat; alle seine früheren Freunde und Genossen haben ihre Karriere gemacht und leben im “schlechten Fett”; der “Neinsager” flüchtet sich in eine ohnmächtige Demonstration, verbrennt die Embleme der Heimat, für einen Film’, Yersins Sarkasmus kennt keine Grenzen.

Mindestens ebenso bitter sind Heimkehr und Wiederaufbruch des Fotografen Jörg Bär in Kappelers Film. Er kehrt aus dem nahen Ausland zurück und begreift, dass sich, wenn sich überhaupt etwas verändert hat in der Kleinstadt, so zum Schlechten. Der Vater schwimmt ohne Aussicht auf Erfolg gegen den Strom, den Grossvater hat “man” ins Altersheim abgeschoben; wo man hinblickt, wartet der Tod. Selbst der Dorftrottel möchte irgendwohin verreisen. Hier sind nur ganz kleine, ganz beschränkte Ausfluchten möglich - Kappeler zeigt sie mit einer fast gespenstischen Motorradfahrt. Jörg Bär verlässt die Kleinstadt wieder, weil sie keine Zukunft hat und weil er zu stolz ist, den Niedergang der Heimat mitanzusehen oder sogar mitzubewirken. So nimmt er wieder den Zug. “Ja, ja, jene, die ein bisschen Ehrgeiz haben, zieht es eben weg”, sagt der Bahnhofsvorstand, aber Jörg Bär ahnt einen anderen Grund für diese unabwendbare Notwendigkeit der Abreise: “Ein Dichter hat einmal gesagt, den Heimatort müsse man verlassen, der Heimatort bringe seine Söhne und Töchter um.” Der Dichter ist Thomas Bernhard, der Sänger des Sterbens.

In der ständigen Wiederkehr des Motivs “Abfahren” und dem aussergewöhnlich differenzierten Umgang der Filmautoren damit spiegelt sich das aus ganz verschiedenen Gründen prekäre Verhältnis, das jüngere Menschen mit der Schweiz als Heimat (was ein wenig mehr ist als der blosse Lebensraum) unterhalten. Wegfahren hat da - von den Autoren und von ihren Figuren aus gesehen - immer etwas mit Desertion zu tun, mehr jedenfalls als mit der Verwirklichung einer Lust, eines Triebs. Es geht nicht gerade um “Fahnenflucht”; einen solchen nationalistischen Ausdruck würden sich alle Autoren verbitten. Was zur Diskussion steht, ist im Grunde ein Solidaritätsproblem. Dem drohenden oder gar bereits eingetretenen Immobilismus der Heimat begegnet man nicht mit Flucht; die selbstgefällig gewordene Gemeinschaft braucht den Widerspruch jener, die das Malaise zuerst verspüren. Es gibt viel zu tun. Meistens bedeutet der Entschluss, der Heimat doch nicht den Rücken zu kehren, nicht Resignation. Bei Michel Soutters frühen Figuren kann man vielleicht davon sprechen, obwohl gerade diese Figuren auch wieder etwas Utopisches haben, indem sie eine Art Randsystem oder Subkultur aufbauen, eine neue Kommunikation.

Am schönsten und ergreifendsten kommt dieses Grundproblem moderner schweizerischer Existenz für meine Begriffe in Yves Yersins Les petites fugues zum Ausdruck, einem der vielschichtigsten Filme, die je in der Schweiz hergestellt worden sind. Der Knecht Pipe, jahrzehntelang festgeschraubt auf der Scholle, jahrzehntelang ein gutmütiger und “zufriedener” Gefangener der Arbeit und des Bodens, entdeckt die Bewegung, wird mobil und geniesst die Mobilität bis zur Besinnungslosigkeit. Yersin hat für die Entdeckung der Mobilität eine wunderbare Metapher gefunden: Pipe fliegt, seine Phantasie hebt ihn in die Lüfte, wenn er einmal das Moped beherrscht; es ist ein Rausch. Und was alles auf dem Spiel steht oder was in Bewegung geraten ist, fühlen wir, wenn Pipe die Arbeit - eine bezeichnende Arbeit: er zieht zusammen mit dem Meister die Zäune neu durchs Feld - verlässt und einen Segler verfolgt durch Felder und Dörfer, bis hinauf auf die Jurahöhen des Suchet, wo sich ihm die Weite auftut, das Unendliche. Da füllen sich die Augen des Knechts mit Tränen; der Mund steht ihm offen, und im Wind formt er mit Lippen und Mundhöhle Töne, eine Natur“sprache”, eine Melodie, die von weit her kommt und weit (und tief) reicht. Pipe treibt es weit, und ihn treibt es weit, und dass er nach seinem Rausch plötzlich nicht mehr fahren darf, ist ein herzzerreissendes Unglück. Umso ergriffener sind wir, wenn Pipe sich mithilfe seines Sofortbildapparats auf andere, realistischere Reisen begibt, sich umschaut da, wo er war und ist, festhält, wie er lebt. Das Er-fahren mit dem Moped war ein Rausch, das Er-fahren mit dem Fotoapparat ein Programm. Noch fehlt die Begegnung mit dem Traum, dem schneeglitzernden weiss-silbrigen Matterhorn. Nochmals fliegt Pipe, mit dem Helikopfter nun, näher und näher an das Sinnbild der Höhe und der Ferne heran. Bis er sagt: “Y a que des cailloux” - nur Steine. Von nahe betrachtet, erweisen sich die Träume und Sehnsüchte als ganz normale Erscheinungen. Pipe, angesichts seines Traums - in der Knechtenkammer hängt ein alter farbiger Oeldruck des Matterhorns - will zurück, zehn Minuten vor der Zeit. Und was sagt er? “J’ai du travail en bas” - ich habe Arbeit drunten.

Wegen Pipe und dank Pipe zeigen sich die Probleme und Fronten auf dem Bauernhof langsam und richtig, kommen Dinge, die lange versteckt und verhockt gewesen sind, in Bewegung. Ein Deserteur hätte das nicht zustande gebracht.

Man kann’s vielleicht doch so allgemein sagen, obwohl es Ausnahmen gibt: Die Helden der neuen Schweizer Spielfilme fahren deshalb nicht ab, weil es so viel zu tun gibt, um das Land, in dem sie wohnen, wieder zur Heimat zu machen.

In jüngster Zeit allerdings haben sich Anzeichen der Verzweiflung angekündigt, in den Filmen von Beat Kuert (Schiiten, Nestbruch) und Markus Fischer (Das Flugjahr) zum Beispiel. Von ihnen ist in dieser Studie in einem anderen Ordnungszusammenhang schon kurz die Rede gewesen: im Rahmen der Auseinandersetzungen mit den Vätern und ihrer Welt.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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