Der Laie ist ein Mann, der sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt. Max Frisch im Vorwort zu “Die grossen Städte. Was sie zerstört und was sie retten kann” von Gody Suter, 1966 Wir wissen noch nicht, was die Schweiz in der Zeit zwischen 1950 und 1970 verloren oder nicht gelebt hat, in der Zeit der heissesten Hochkonjunktur, die eine Art Besinnungslosigkeit mit sich brachte, eine unheilvolle Verschiebung der Werte. (Die Art, mit welcher damals versucht wurde, dem Problem der “Ueberfremdung” beizukommen, wird für künftige Historiker bei der Analyse jener Zeit bestimmt wichtig sein.) In Umrissen ist uns im letzten Jahrzehnt klar geworden, was die Schweiz in der Zeit des Zweiten Weltkriegs eingebüsst hat: eine spezielle Art von Konfliktkultur, von demokratischer Infragestellung, die sich dieses Land in der Zeit äusserer Bedrohung nicht mehr leistete. (Vergleiche dazu den Katalog der Ausstellung “Dreissiger Jahre Schweiz. Ein Jahrzehnt im Widerspruch”, Zürich 1981) Die “geistige Landesverteidigung” hat sich für den Rest des Jahrhunderts als schwere Hypothek herausgestellt. Im Januar 1955 schrieben Lucius Burckhardt, Max Frisch und Markus Kutter in ihrer Broschüre “achtung: die Schweiz”: “Heute, im Gegensatz zu damals (gemeint ist 1848, das Jahr der Staatsgründung), dominiert in der schweizerischen Politik durchaus das Sachgeschäft, die blosse Verwaltung. Die Politik ist nicht Anliegen des Volkes, sondern ein Beruf für Sachverständige, die meistens mit den Interessierten identisch sind oder von ihnen gelenkt. Politik ist zum blossen Geschäft geworden, zum getarnten Geschäft. Und wer einmal auf die grundsätzlichen Probleme hinzuweisen wagt, die dahinterliegen, wer auf eine wirkliche Auseinandersetzung drängt, der läuft Gefahr, als politischer Scharfmacher und als Spielverderber angeprangert zu werden, als Wirrkopf, als Träumer, als Störenfried - als Nihilist!” Den Kommunisten haben die Verfasser der Schrift ausgelassen. Sie ahnten vielleicht selbst kaum, was dem marxistischen Kunstkritiker und Kulturhistoriker Konrad Farner 1956 widerfuhr: eine richtige Hexenjagd. Etwas weiter unten lesen wir: “Die Demokratie ist aber, ihrem Wesen nach, eine Demokratie der grundsätzlichen Alternativen, oder sie ist nicht, und was uns bleibt, ist der demokratische Apparat mit seiner ganzen Umständlichkeit.” An besonnenen Warnern fehlte es auch in den 50er Jahren also nicht. Max Frischs Festrede zum 1. August 1957 im Zürcher Industriequartier drückt dieselbe Sorge aus: “Die Schweizer haben Angst vor allem Neuen.” Und ganz am Schluss der Aufruf: “Machen Sie Gebrauch von der Freiheit, deren wir uns rühmen, der Freiheit der Gedanken und der Freiheit der Rede. Machen Sie Gebrauch von der Freiheit, bevor sie verrostet ist. Machen Sie Gebrauch von der Freiheit, denn sie gehört zu den Dingen, die sehr rasch und rettungslos verrosten, wenn man sie nicht braucht.” Die fünfziger Jahre: Sie werden einmal beschrieben werden als ein Jahrzehnt, in welchem ein kleines Land mit demokratischer Tradition seine Identität nicht mehr neu definierte und damit teilweise verlor. Im Kampf aller um mehr Konsumfähigkeit, im Horror vor allem, das auch nur ganz sanfte Zeichen von Sozialismus trug. Es war das Jahrzehnt, in dem die Oeffentlichkeit, das Volk seine politischen Rechte an Fachleute, an die Technokraten abzutreten begann, die unfehlbaren Planer noch grösseren Wohlstands. Im gleichen Gedankenzug wäre eine spätere Formulierung von Max Frisch zu nennen: Dass sich jeder wieder - notfalls gegen die Experten — in die eigenen Angelegenheiten einmische. Die Filmemacher haben es in den sechziger Jahren getan. Aber noch sind wir nicht da. Es soll hier nicht eine Kulturgeschichte skizziert werden; ich kann das nicht; es wären gründlichere Recherchen anzustellen. Was mich im Zusammenhang der folgenden schlichten Untersuchung einer möglicherweise abgeschlossenen Phase provinziellen Filmschaffens interessiert, ist der Hintergrund, von dem sich eben dieses provinzielle Filmschaffen abhebt. Nennen wir diesen Hintergrund einmal mediale Kolonisation. Es gibt Zahlen für diesen Tatbestand, aber es gibt auch die Erinnerung an ein Jahrzehnt, in dem die einheimische Filmproduktion so leisetreterisch und verlogen war, dass man sich im Ernst gar nicht mit ihr befassen mochte; sie hatte mit der Realität dieses Landes nichts zu tun. 1960 führte die Schweiz 459 Spielfilme (35-mm-Kopien) ein, die im Schnitt mit rund 2,5 Kopien pro Sujet zirkulierten. Der Prozentanteil des Imports am Gesamtangebot (wieder nach einzelnen Titeln, über die Anzahl der Besucher besteht keine Statistik) betrug 98,7 Prozent: die Vergleichszahl 1964 lautet 99,8 Prozent. Was den Film anbetrifft, war die Kolonisation der Schweiz nie grösser gewesen. Auch das Fernsehen konnte dem nicht wirksam entgegensteuern. Woher hätte es auch die Filme nehmen wollen? Das Deutschschweizer Fernsehen wurde ohnehin nicht von visuell veranlagten und qualifizierten Mitarbeitern gemacht, sondern von Leuten, die vom Radio und von den Printmedien kamen; das Westschweizer Fernsehen, schon wegen der kleineren Mittel, die ihm zur Verfügung standen, konzentrierte sich weniger auf Studioproduktionen und begann immerhin am Anfang der 60er Jahre eine gewisse optische Dokumentationsarbeit. Man muss gar nicht beim Film bleiben. Tatsache ist, dass die “Amerikanisierung” in den 50er Jahren hierzulande nicht kleiner war als anderswo: die Musik, die Filme, die Mode, besinnungslos. Bis auf die Literatur. Wahrscheinlich ist Otto F. Walters erstes Buch, “Der Stumme”, die gültigste Formulierung dieser Zeit. Und der Name der kleinen Stadt, den Walter gefunden hat, ist eine jener Trouvaillen, die pro Jahrzehnt nur einmal gelingen: Jammers. Bei Friedrich Dürrenmatt heisst “das gleiche” Städtchen “Güllen”, das ist viel hochmütiger und deshalb viel weniger treffend. Max Frisch mit seinem Unbehagen über ein Land, das sich ins Abseits stellt, mit seinen Identitätsschwierigkeiten in der Geschichtslosigkeit; Friedrich Dürrenmatt mit seinem Spott und Hohn, aber auch mit seinem heiligen Zorn über die Selbstgerechtigkeit des satten Bürgertums; und dann, zu Beginn der 60er Jahre die junge Schweizer Literatur, die immerhin, auch wenn sie Zeitloses, Umgreifendes meinte, ein paar Ansätze zur genaueren Beobachtung des schweizerischen Alltags, des “Malaise” - ein Modewort damals - zeigte: Herbert Meiers “Ende September” (1959) und Otto F. Walters “Der Stumme” (1959), Hans Boeschs “Das Gerüst” (1960), Walter M. Diggelmanns “Das Verhör des Harry Wind” (1962) und Jörg Steiners “Strafarbeit” (1962), Christoph Mangolds “Manöver” (1962), Jürg Federspiels “Massaker im Mond” (1962) und Hugo Lötschers “Abwässer” (1963), Peter Bichsels “Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen” (1964) und Urs Jaeggis “Die Komplizen” (1964). Zu nennen sind auch die in unserem Zusammenhang vielsagenden ersten Versuche in neuer Mundartliteratur: Ernst Eggimann, Kurt Marti und Ernst Burren; auch die lakonischen Zeilen von Heinrich Wiesner und Peter Lehner gehören ins Bild der Literatur eines Landes, das sich für die Intelligenzia langsam und stetig zu einem Problem auswächst. In der Westschweiz ist das Phänomen vielleicht nicht so deutlich. Immerhin schreibt Walter Weideli ein Stück (“Un banquier sans visage”), das viel Staub aufwirbelt, und ein Literaturwissenschaftler und Historiker, Alfred Berchtold, publiziert ein Buch mit dem Titel “La Suisse romande au Cap du XXeme siede”, das einiges beiträgt zu einer Korrektur des Westschweizer “Ewigkeitswahns”. Aber eine Hinwendung zu den “eigenen Angelegenheiten” wird man in dieser Literatur nicht voll postulieren können. Sie wird in der schweizerischen Kultur eindeutig vom Film initiiert - und von Max Frisch, der nicht erst die Publikation des tomatenroten Buchs “Zivilverteidigung” brauchte, jenes in Millionenauflage verbreiteten Gratisbuchs (2,6 Millionen Exemplare Druckauflage, Gesamtkosten 4,1 Millionen Franken, davon 160’000 Franken Autorenhonorar), um zu merken, was in diesem Land im Gange war, bzw. zum Stillstand neigte. Was heisst eigentlich “sich in die eigenen Angelegenheiten mischen”? Im Film und nicht nur im Film hiess und heisst das: Rückeroberung dessen, was eine besinnungslos sich bereichernde Generation “freiwillig” abgegeben oder abgetreten oder verkauft hat, Rückeroberung, notfalls auch mithilfe eines äusserst primitiven Instrumentariums, ja sogar ohne eigentlich existierende produktionelle Grundlage. Das ist es, was im Schweizer Film der Mitte der Sechziger Jahre begonnen hat. 1969 konnte Alain Tanner - im Zusammenhang mit Charles mort or vif? - bereits schreiben: “Nos rues, nos maisons, nos concitoyens commencent à se transformer en choses vues, regardées, commentées ... Pendant longtemps, nous nous sommes tus. Maintennant, nous commençons a parler, et notre accent en vaut probablement bien d’autres. Nous parlons donc. Nous vous parlons.” “Unsere Strassen, Häuser, Mitbürger”: Entschiedener als die neuere Schweizer Literatur sprach der neue Schweizer Film vom eigenen Lebensraum und praktisch nur von diesem Lebensraum, trauerte nicht mehr über die Engnis der Enge. In der Sintflut der Bilder aus dem “Weltdorf” (Marshall McLuhan) gab es für ihn nur diese eine Aufgabe. “Schweizer Film” konnte nicht heissen Film, der in der Schweiz und von Schweizern gemachte, sondern Film, der von Schweizern in der Schweiz in und über Schweizer hergestellt wird, Rückeroberung des eigenen Bildes. Was Jean-Luc Godard in seinem Pressebuch für La Chinoise (1967) in einem kurzen Manifest niederschrieb, hätten die meisten Schweizer Filmemacher der ersten Generation unterschrieben: “Fünfzig Jahre nach der Oktoberrevolution herrscht das amerikanische Kino über das Kino der Welt. Diesem Sachverhalt ist nichts mehr hinzuzufügen. Ausser, dass auf unserer bescheidenen Stufe auch wir zwei oder drei Vietnams inmitten des ungeheuren Imperiums Hollywood-Cinecittà-Mosfilm-Pinewood usw. schaffen müssen und, gleichermassen ökonomisch wie ästhetisch, das heisst, indem wir an zwei Fronten kämpfen, nationale, freie Kinos schaffen, Brüder, Genossen und Freunde.” Sprechen wir von den beiden Fronten. Für die Filme, die bis etwa 1972 (La Salamandre) entstanden, war der Weg in die Kinos nur in den seltensten Fällen offen. Die Kinos waren die “Trading Posts” der internationalen, vorwiegend amerikanischen Filmindustrie. Die Schweizer Filmer hätten Filme machen müssen, die sie weder machen wollten noch konnten, um in diesen Verteiler zu kommen. Hoffnungen, dass sich die Kinos im Zuge der gesamteuropäischen Veränderung des Films - französische nouvelle vague, englisches free cinéma, polnische schwarze Serie - auch für die kunsthandwerklich hergestellten einheimischen Produkte öffnen könnten, erwiesen sich als trügerisch. Von einigen verschwindend wenigen Ausnahmen abgesehen, wären die ersten Filme in den Büchsen vermodert, wenn sich dieser Film nicht seine eigenen ökonomischen Strukturen aufgebaut hätte. An eine offene Auseinandersetzung mit dem Kino war nicht zu denken; man hätte einen Aufführungszwang durchsetzen müssen, wie ihn andere - weniger demokratische, weniger marktwirtschaftlich geprägte Länder - mit mehr oder weniger Erfolg versuchten. Der neue Schweizer Film baute sich einen “circuit parallèle” auf. In den besten Fällen brachte er einem Film ebensoviele Zuschauer wie ein mittlerer importierter Film in den Kinos. Die Erfolge von Jürg Hasslers Krawall, Peter von Guntens Banana Libertad oder Kurt Gloors Die grünen Kinder, in Zahlen ausgedrückt, müssten den Vergleich mit relativ weitherum bekannten Filmen der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nicht scheuen. Die Filmemacher gingen mit ihren Filmen zu den Leuten; dass sie damit eine ganze Menge Zeit verloren und extrem langsam zu produzieren gezwungen waren, versteht sich von selbst. Und hier wäre auch der Ort, gebührend von der Eidgenössischen Filmförderung zu sprechen. Es ist oft gesagt worden, dass das Bundesgesetz über das Filmwesen (Filmgesetz), das 1963 in Kraft trat und die Möglichkeit einer Filmförderung vorsieht, den neuen Film in der Schweiz sozusagen ausgelöst habe. Davon kann keine Rede sein. Die Investitionen kamen von jenen, die “sich in die eigenen Angelegenheiten einmischen” wollten. Siamo italiani von Alexander J. Seiler zum Beispiel wurde mit 20’000.- Fr. Qualitätsprämie für den Auftragsfilm In wechselndem Gefälle, mit einem Privatdarlehen in der Höhe von 50’000.- Franken und Eigeninvestitionen von 150’000.- Franken finanziert; Ursula oder das unwerte Leben von Rem Mertens und Walter Marti mit 96’000.- Franken einer achtjährigen Geldsammlung, einem Bundesbeitrag von 30’000.-, einem Zuschuss der Migros von 20’000.- und Eigeninvestitionen von 110’000.- Franken. In den ersten Jahren schweizerischer Filmförderung, bis 1969, als auch (etwas höhere) Beiträge an die Herstellungskosten von Spielfilmen möglich wurden, haben Filmemacher nur mit extrem niedrigen Produktionskosten (unter Selbst- und Freundesausbeutung), mit TV-Verkäufen, Einkünften aus dem “circuit parallèle” und den Qualitätsprämien des Bundes überleben können. Anstösse jedenfalls gingen von der Filmförderung nicht aus; nur zu oft dienten die Qualitätsprämien - die von Gesetzes wegen zur Weiterführung der Produktion bestimmt sind - zur Schuldendeckung. Für mehr reichte der Filmförderungskredit von allem Anfang an bei weitem nicht aus. Fredi M. Murer hat seine Bücher einmal offengelegt. Pazifik, in der längsten Version über zwei Stunden dauernd, hat 8’000.- Franken gekostet (und selbstverständlich einige Hundert unbezahlte Arbeitsstunden). Mit der Qualitätsprämie (10’000.-) produzierte Murer Chicorée. Mit der Qualitätsprämie für Chicorée (wieder 10’000.-) entstand Bernhard Luginbühl; mit der Qualitätsprämie für Bernhard Luginbühl begann Murer die Produktion von Sad-is-fiction, den er nur dank einem Vorkaufsvertrag mit dem Bayerischen Rundfunk fertigstellen konnte; mit einer Qualitätsprämie von 4’000 Franken für Sad-is-fiction (im Jahr 1969!) allerdings war dann nicht mehr an die Weiterführung dieser Produktionsweise zu denken. Andere Filmemacher hätten ähnliche Dossiers präsentieren können. Die staatliche Filmförderung hielt etwas ganz mühsam am Leben; es war grad ein bisschen mehr als das Nichts, das zum Sterben gereicht hätte. Was kann man anderes sagen, als dass der Kampf an der “ökonomischen Front” (Godard) kaum zu führen, dass die ersten Jahre des neuen Films in der Schweiz seine “Underground-Phase” war? Man kann noch etwas sagen: Gemessen am Engagement des Staates, des halbstaatlichen Fernsehens und den beschränkten finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Filmemacher war der Schweizer Film unverhältnismässig interessant, ja man möchte sagen viel zu gut. Die Erfolge wurden also eher an der “ästhetischen Front” (Godard) erzielt. Der Schweizer Film schuf sich seine eigene Sprache, oder sagen wir lieber “seine Mundarten”. Es ist wirklich unglaublich, was zwischen 1964 und 1969 alles entwickelt worden ist. Die Formulierung “sich einmischen in die eigenen Angelegenheiten” bekommt da noch einen ganz anderen Sinn. Sie bedeutet nicht nur, sich mit Film in die Politik einmischen, sondern - zuerst und zuvorderst - sich in den Film einmischen, ihn nicht mehr nur den anderen überlassen. In einem Land, dessen Filmproduktion praktisch versiegt war, stellte sich das Problem der Erneuerung nicht wie in den grossen filmproduzierenden Ländern; ein Vergleich mit der französischen nouvelle vague oder mit dem englischen free cinéma bringt eigentlich recht wenig. In der Schweiz ging es darum, dass sich einige Leute, die Filme machen wollten und es trotz einer evidenten ökonomischen Unmöglichkeit versuchten, den Film recht eigentlich sich aneignen, ihn für sich erfinden mussten. Viele Formen, die dann in den siebziger Jahren verfeinert (und zum Teil auch nur angewandt) werden sollten, sind schon in den sechziger Jahren erprobt worden. Einige Filmtitel und Stichworte müssen in diesem Zusammenhang genügen. 1961: Quand nous étions petits enfants von Henry Brandt, die Beobachtung eines Jurahochtals und seiner Leute mit einem Blick, der nichts mehr zu schaffen hatte mit jenem der Auftragsfilme. 1962: Krippenspiel und Unsere Kleinsten von Walter Marti und Reni Mertens, der Beginn einer Serie von filmischen Anrufen aus und durch eine Randgruppe. 1964: Siamo italiani von A.J. Seiler, Les Apprentis von Alain Tanner, Anfänge des cinéma direct, Nachrichten aus Gesellschaftsschichten, die weder das Kino noch das Fernsehen beachtet; La Suisse s’interroge von Henry Brandt, ein Problemkatalog. 1965: Pazifik - oder die Zufriedenen von Fredi M. Murer, erste Skizze aus der Zürcher Gegenwelt; La panier à viande von Yves Yer- sin und Jacqueline Veuve, der erste moderne ethnographische Film. 1966: Chicorée und Bernhard Luginbühl von F.M. Murer, Modell- und Musterfilme des vor allem in Zürich jahrelang gepflegten “vertonten Stummfilms”, rein optische und rhythmische Formulierung, Versuche in cinéma pur; Ursula oder das unwerte Leben, eine Langzeitstudie, wie sie sich nur sozialistische Länder, und die nur selten, erlaubt haben; Antoine et Cléopâtre von Francis Reusser, eine Genfer Spielart der zehn Jahre zuvor in Frankreich erprobten nouvelle vague-Etüden. 1967: Musikwettbewerb von A. J. Seiler, Rob Gnant und June Kovach, perfekt montiertes cinéma direct; Pic-Nic von Georg Radanowicz, eine Farce aus dem Kreis der “Zürcher Wahnwelt”: La lune avec les dents von Michel Soutter, der Beginn der “kleinen Musik” des Genfer Spielfilms, und L’Inconnu de Shandigor, der ehrgeizige Versuch von Jean-Louis Roy, das gesamte in ein paar Jahren erworbene TV- und Film-know how in einem einzigen Film zu konzentrieren. 1968: Portrait von Max Bosshard und Selbstgespräch von Hans Jakob Siber, offenste Selbstdarstellungen aus dem Underground; Yvon, Yvonne von Claude Chapion, intime Informationen über kleine körperliche Behinderungen; Métro von Hans und Nina Stürm, ein Kamerafilm; Rondo, Markus Imhoofs Début, kongenial formulierte Nachrichten vom ewigen Teufelskreis des Strafvollzugs; Lydia von Reto A. Savoldelli, ein Flower-Power-Märchenfilm; Haschisch, der zweite Streich von Michel Soutter, Quatre d’entre elles von Champion, Reusser, Jaques Sandoz und Yves Yersin, ein Omnibus-Film, der ein vielversprechendes Autorenpotential auswies. Und dann 1969. Man müsste einmal die ganze Produktion dieses Jahrs anschauen, um zu ermessen, was der Schweizer Film an eigener Sprache, an Themen, an grossen und kleinen, erworben hatte, und zwar mit minimalster Unterstützung des Staates und des Fernsehens und ohne Mitwirkung, ja unter einer gewissen’ (ideellen) Behinderung durch die Kinowirtschaft. 1969 war das Jahr von Alain Tanners erstem Spielfilm, Charles mort ou vif?, von Kurt Gloors Pamphlet zum Bergbauernproblem, Die Landschaftgartner, von Markus Imhoofs Abrechnung mit schweizerischem Militarismus, Ormenis 199 † 69, von Georg Radanowiczs kritischer Befragung eines Monuments der schweizerischen Moderne, 22 Fragen an Max Bill, von Fredi M. Murers Phantasie über das Sichbewegen, Sad-is-fiction, von Michel Soutters drittem Film, La pomme, von Francis Reussers Reise- und Fluchtfilm Vive la mort, von Frédéric Gonseths La Bataillere, der die lebendige oder zum Tod hintendierende Zerrissenheit einer jungen Generation mitten aus ihr heraus formulierte. Vieles lag bereit zur Fortsetzung, zur Entwicklung, als die eidgenössische Filmförderung im Zuge einer Revision (auch Spielfilme konnten ab 1969 gefördert werden, und das Wort “staatspolitisch wertvoll” fiel) auch über etwas mehr Mittel verfügte, und sich - zuerst das Westschweizer - Fernsehen versuchsweise mit dem unabhängigen Film einliess. Man darf wohl sagen, dass die Jahre 1971 bis 1979 die “glücklichsten Jahre” des Schweizer Films gewesen sind. Von den Filmen dieser Zeit ist in der folgenden Untersuchung mehrheitlich die Rede. Die Gesamtproduktion hätte grösser sein können und müssen. Eine vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit ist verpasst worden. In diesen Jahren formulierte eine Generation, die in ihrem politischen Gewissen einigermassen kohärent, mindestens auf einen ziemlich grossen gemeinsamen Teiler zu bringen war, die Probleme dieses Landes, und sie tat es aus einer tiefen Liebe zu diesem Land. Wer hat einmal gesagt, dass viele “aus lauter Heimatliebe subversiv” waren? Wer hat gesagt, dass die “68er” die Heimat mehr liebten als die “Multis”? Und hatten sie nicht recht? Es lassen sich verschiedene Gründe dafür namhaft machen, dass Schweizer Filmer im siebten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eine Vielzahl von langsamen, intensiven Filmformen hervorgebracht haben. Die Besonnenheit (bis Schwerfälligkeit) ist bestimmt ein Hauptmerkmal dieses Filmschaffens, das sich nicht in eine aussichtslose Konkurrenz mit dem im Kino gerade Gängigen einliess, und das sich gegen die Oberflächlichkeiten, die Null- Bilder des Fernsehens zur Wehr setzte, auch und gerade wenn das Fernsehen sich mit kleinen Koprokuktionsbeiträgen an bestimmten Werken finanziell beteiligte. Die scharfe Konkurrenzsituation in bezug auf die Herstellungsbeiträge des Staates ist wohl ein wichtiger Grund für die intensive Langsamkeit: Kein Filmemacher wagte es, mit unfertigen Projekten aufzukreuzen, auf sein Genie und seine Improvisationsgabe zu pochen. Alle Projekte waren von langer Hand vorbereitet, dokumentiert und manchmal so bis ins Detail entworfen, dass man jedesmal um die Spontaneität und Sinnlichkeit der entstehenden Filme fürchten musste. Die Skepsis, ja der Argwohn der Fernsehredaktionen, die sich an “freien” Filmen beteiligen sollten, war auch nicht dazu angetan, flinke Formen zu begünstigen. Oft füllten Korrespondenzen zwischen den Filmautoren und den Fernsehredaktionen ganze Dossiers. Kurz: der Staat und das Fernsehen machten den Filmautoren - sofern dies überhaupt noch nötig war - klar, dass Sorgfalt im Umgang mit den spärlich zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln das erste Gebot war. Sie waren keine Produzenten, die eilig in “Marktlücken” springen, auf modischen Schnellzügen mitfahren oder gar das Publikum mit Sensationen überraschen und vereinnahmen wollten. (Dass die Angst und die Sorge der beiden wichtigsten Finanzpartner des neuen Schweizer Films auch einen negativen Einfluss auf die Lebendigkeit dieser kleinen nationalen Kinematographie ausgeübt haben, soll hier nicht verschwiegen werden. Es fehlten die ausreichend finanzierten experimentellen Filmformen in diesem Jahrzehnt fast vollständig. Und die Stellung von noch nicht ausgewiesenen, jüngeren Filmautoren war natürlich eine besonders schwache. Davon etwas später, an dem Punkt, da von der gegenwärtig herrschenden Krise auch noch die Rede sein wird.) Die Besonnenheit und relative Langsamkeit nur auf die Tatsache zurückführen zu wollen, dass jeder Filmgestalter auch irgendwie annehmen musste, dass der Film, den er in Arbeit hatte, für lange Zeit der letzte sein würde, genügt selbstverständlich nicht. Es gibt weitere Gründe: Zum Beispiel, dass dieser Film seine Filmarbeiter, die Techniker selber formte. Es gab keine erfahrenen, mit allen, auch trüben, Wassern gewaschenen Profis, die in jeder Film- und Lebenslage einen konventionellen Trick aus dem alten Hut zauberten: Die Mitarbeiter waren in die Absichten der Autoren oft bis ins letzte eingeweiht und versuchten, die sich stellenden Probleme der Realisierung zusammen mit dem Autor - und im vollen Bewusstsein der oft minimalen Mittel - zu lösen. Hohle Virtuosität war in den siebziger Jahren keine Gefahr. Wenn ein Filmautor Virtuosität noch gewollt hätte, er hätte sie mit den einheimischen Filmtechnikern, mit ihrem sich von Film zu Film entwickelnden Sinn für besonnene und bedeutende Qualität nicht bekommen können. Die relative Langsamkeit des Schweizer Films hängt sehr mit dem Authentizitätswillen seiner Autoren zusammen. Die plan séquence zum Beispiel war nicht einfach eine gerade im Schwange stehende Form, sondern eine Philosophie, mindestens eine moralische Entscheidung. Gleich wie die rigorose Anwendung des Direkttons. Ich erinnere mich genau der Dreharbeiten zu Markus Imhoofs erstem Spielfilm, Fluchtgefahr, dessen Hauptrolle (hervorragend) mit einem des schweizerischen Idioms nicht völlig mächtigen Schauspielers (Wolfram Berger) besetzt war, und wie dieser in längeren Szenen stumm die Lippen bewegte; der Ton, das heisst Wolfram Bergers Dialogteile wurden später eingesetzt. Erste Priorität hatte die richtige Tonambiance. Und die ersten “Nachsynchronisationen” im Schweizer Film: genial und nicht machbar mit kalten Profis. Claude Goretta synchronisierte einen seiner schönsten Filme, Jour des noces, am Drehplatz selbst, an einem windgeschützten Ort nach. Und Georg Radanowicz machte im Grunde für Alfred R. - ein Leben und ein Film zwei Filme: einen Bildfilm und einen Film aus Tönen. Der Ton des neuen Schweizer Films wäre eine eigene Untersuchung wert; eine Zeitlang waren Schweizer Tontechniker in der Direkttontechnik in Europa führend. (Wieviele Einstellungen wegen Flugzeug-, Verkehrs- und Schiesslärms haben abgebrochen werden müssen, könnten nur die Labors anhand der alten Bildprotokolle berechnen. Der Direktton jedenfalls hat die Filme nicht billiger gemacht.) Auch die 16-/35-mm-Bildtechnik, die die Schweizer Filmautoren in Zusammenarbeit mit den filmtechnischen Betrieben zu einer auch ausserhalb des Landes bewunderten Hochblüte trieben, hatte ihren Einfluss auf die relativ gemächliche Gangart vieler Filme. Nur wenige Dokumentarfilme und kaum ein Spielfilm benützen eine bewegte 16-mm-Kamera, die sich indiskret an die Darsteller drängt. Meistens steht die Kamera fest auf einem Stativ, und gefahren und geschwenkt wird in einem Tempo, das einen sauberen Blow-up auf 35-mm-Material erlaubt (selbst dann wenn keiner vorgesehen ist). Mittlere Brennweiten dominieren, und etliche Kameraleute verzichten prinzipiell auf Zoomobjektive. Noch sind wir nicht im Zentrum der Argumentation für einen langsamen Rhythmus der Filme. Und einen schweizerischen Nationalcharakter, der sich ja bekanntlich auch in unserem Sprechtempo ausdrücken soll, will ich nicht bemühen. Schon eher jene Philosophie des Blicks (regard), die, wenn überhaupt theoretisiert wurde, immer wieder auftauchte. Der Schweizer Dokumentarfilm klärte ab, ob die Dinge einen langen und intensiven Blick aushielten, oder ob ein langer und intensiver Blick die Dinge demaskieren konnte. Und die Spielfilmautoren blickten lange und intensiv auf Figuren, die sie liebten, die eigentlich Projektionen ihres eigenen Inneren waren. (Tanner zum Beispiel hat das immer wieder betont, und bei Reusser und Schmid, bei Soutter und Koerfer wird es auch ohne Deklaration schnell einmal deutlich.) Die langsamen Filme dieser Generation von Filmemachern reflektiert also nicht nur die kunsthandwerkliche und handwerkliche produktionelle Infrastruktur, die sich erst heranbildet und keine schnelle Gangart erlauben kann, sondern eine mehr oder weniger bewusste Wahl, die ich im weitesten Sinne als eine politische bezeichnen möchte. Dieser Film war nicht - wie der übliche Kino- und TV-Film - für den schnellen Konsum, für die Zerstreuung gedacht, sondern gegen diesen Konsum und diese Zerstreuung. Jean-Marie Straub, der materialistischste aller Filmautoren in der gesamten Filmgeschichte, hat vielleicht den nachhaltigsten Eindruck im Schweizer Film hinterlassen. Lange Zeit war er das Gewissen, an dem sich Schweizer Filmemacher massen. Und hinter Straub Brecht und hinter Brecht die lange epische Tradition der Literatur in der Schweiz. Diese Zurückhaltung, diese Zuständigkeit jedes einzelnen Bildes und Tones, dieser Realismus haben sich, wie auch immer definiert und verteidigt, zehn Jahre lang gegen die sich ablösenden Trends, gegen die zunehmende Veräusserlichung der TV-Kurzwaren halten und verteidigen können. Doch schon gegen Ende des Jahrzehnts liessen sich hier und dort Einbrüche feststellen. Einbrüche oder Anschlüsse, Anschlüsse an das, was in Europa gerade gängig war, an den industriell gefertigten Film. Der Schweizer Film war an die Stelle gelangt, an der er technisch leisten konnte, was gang und gäbe war. An die Stelle leider auch, an der er ab und zu vergass, was eigen war und ist an ihm. Er hätte jetzt eine Erneuerung nötig, und wahrscheinlich eine, die sich auch theoretisch formuliert. Aber die Erneuerer fehlen. Einige Neue haben sich im Umkreis der 80er-Bewegung kurz gezeigt, aber sie sind dermassen theoriefeindlich, derart spontaneistisch und Unwillens, sich eine die Zukunft bestimmende Ideologie zu schaffen, dass sie gerade noch als spontane Kritiker des in die Erstarrung, ins Schweigen oder in die Konvention driftenden Films der achtziger Jahre in Frage kommen. Es sieht nicht gut aus. Das finanzielle Engagement des Staates, die vorsichtige Beteiligung des Fernsehens und die im grossen ganzen bescheidenen kommerziellen Erfolge des neuen Schweizer Films haben gerade knapp ausgereicht, jene, die in den sechziger Jahren begonnen haben und ein paar wenige frühe Nachzügler ökonomisch über Wasser zu halten. In grossen zeitlichen Abständen haben sie produzieren können. Die auf dem Gebiet der Filmherstellung besonders drastische Teuerung und die wachsende Grösse der Projekte haben zu einem Engpass geführt, den gewisse Strategen nur noch mit der Produktion von “marktgerechten” Produkten für überwindbar halten. Andere fordern ein wirkliches Engagement der öffentlichen Hand, des Publikums und der Kinowirtschaft für die einheimische Produktion. Einmal mehr. “Marktgerechte” Produktion heisst internationale Produktion. Es ist auch in den letzten zehn Jahren wieder klar geworden, dass sich Filme auf dem eigenen Kino-Markt nicht amortisieren lassen, sobald die private Investition 150’000.-Franken übersteigt; und das muss sie eben, wenn die Filmförderung derart knapp ist. Bleibt der Auslandverkauf - fürs Kino, an die Fernsehanstalten; da lassen sich bei kleinen Filmen auch noch einmal maximal 200’000.- Franken herausholen. Die Ueberlegung, die sich einige Produzenten gemacht haben und die sich jetzt auch die staatliche Filmförderung zu eigen gemacht hat, liegt nahe: Warum teilen wir nicht das Risiko mit ausländischen Ko-Produzenten, warum verkaufen wir die Filme nicht schon, bevor sie gemacht sind, warum haben wir uns während fünfzehn Jahren so unkommerziell benommen? Produzieren wir für den Mark, der existiert: europäischen Kinomarkt, europäischen Fernsehmarkt, neue Medien wie Video, Kabelfernsehen (d.h. Pantoffelkino) und Satellitenfernsehen. Aber hier muss ebenso deutlich wie unerbittlich festgehalten werden: Ob in der Schweiz grössere Filme hergestellt werden und welche, bestimmen jetzt schon die ausländischen Produktionspartner. Richtet sich die Schweizerische Filmproduktion auf den internationalen Markt ein, werden Filmautoren und Produzenten zu Hausierern, zu fahrenden Händlern, mit denen jeder um alles marktet, wenn er ihn nicht schon abgewiesen hat. Da steht also der Schweizer Film im Moment. Vor der Frage, ob er versuchen soll, international konkurrenzfähig zu werden, indem er auch jene internationalen Standards und Normen akzeptiert und zu erfüllen versucht, die er bekämpft hat. In diesem Moment ist es angezeigt, abzuklären, was ein provinzielles Filmschaffen dieser Provinz selber gebracht hat, gebracht an Bewusstseinsmomenten, an Aufklärung, an Selbsterkenntnis. Dazu will die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten. Eine Geschichte des neuen Films in der Schweiz ist es nicht; sie bleibt noch zu schreiben. Es ist ein Versuch einer Gewissenserforschung. Wir nehmen zwanzig Jahre schweizerischen Filmschaffens als eine gewisse Einheit. In den Zusammenhängen, die wir sehen oder erahnen, spielen beispielsweise die Genres keine entscheidende Rolle. “Ein Film ist ein Film ist ein Film”, sagte# wir früher. Markus Imhoofs Spielfilm Das Boot ist voll gehört eng zusammen mit Mathias Knauers Dokumentarfilm Die unterbrochene Spur, obwohl die beiden Werke völlig anders, ja geradezu mit entgegengesetzter Aesthetik funktionieren. So betrachtet, rückt Alexander J. Seilers fragmentarisches Dichterporträt von Ludwig Hohl in die Nähe von Michel Soutters frühen Filmen, die Auswanderer-Dokumentarfilme in die Nähe von Yves Yersins Les petites fugues. Es ist klar, dass Vollständigkeit bei dieser Art von Vorgehen ausgeschlossen ist. Es treten nur Filme in Erscheinung, die in einem Zusammenhang, der uns für die “Themen, Motive, Obsessionen und Träume” des neuen Schweizer Films konstituierend erscheint, ohne Zwang aufleuchten; wir haben nicht versucht, gewisse Filme so zu biegen und zu brechen, dass sie plötzlich auch noch “passen”. Der Schweizer Film hat sich zu Beginn der sechziger Jahre der Schweiz zugewandt, und das aus im weitesten Sinne politischen Gründen. Erstens transportierte ein alt und uninteressant, schliesslich unproduktiv gewordener Schweizer Film nicht mehr das wahre Bild, die Realität, sondern den Mythus Schweiz; selbst die Kleinbürgerkomödien der Zürcher Schule machten nichts anderes. Zweitens wurde sich ein Generation von Filmautoren der kolonialistischen Situation bewusst und versuchte, etwas dagegen zu tun, sozusagen als Partisanen, als Freischärler Ein gewisser pädagogischer Kulturbegriff stand und steht hinter dem grossen Projekt, das eine Generation während fast 20 Jahren durchgezogen hat. Dem schweizerischen Publikum sollte gezeigt werden, dass es Probleme gibt, die niemand für uns löst, dass es Eigenarten gibt, die wir uns nicht auch noch nehmen oder verkaufen lassen sollten, dass die Utopien nicht nur auf fremden Mist wachsen können, dass wir in den Relikten einer schweizerischen vorindustriellen Zivilisation vielleicht sogar einer gewissen Utopie habhaft werden könnten, dass - um noch einmal Alain Tanner zu zitieren - “unsere Mundart soviel wert ist wie die anderen”. Damit stellte sich eine Sparte schweizerischer Kultur auch in einen entschiedenen Gegensatz zu einem Kulturpessimismus der Zeit, der vom “Unbehagen im Kleinstaat” redete und immer wieder von der Engnis der Enge. Die von Paul Nizon formulierten Thesen zur Schweizer Kunst schienen eine zeitlang von den Filmemachern konkret widerlegt werden zu sollen. Was sie machten oder versuchten, war ein Widerspruch zu der offenbar unausweichlichen Alternative “Lokalkünstler — Kunstreisläufer”. Eines gelang bestimmt: der Beweis, dass auf dem Gebiet des Films nicht nur “Kolonialkunst”, d.h. Imitation und Abwandlung des international Gängigen möglich ist. Andererseits war der neue Schweizer Film der Versuch, gewisse Befunde der Kulturkritik der 60er Jahre zu anerkennen — beispielsweise den Befund vom Rückzug aus der Geschichte und von der Restauration als Weltanschauung-, und etwas dagegen zu unternehmen. Wir haben das oben Rückeroberung genannt. Die Motivation eines Neubeginns im Schweizer Film war nicht nur medienintern. Der Kulturimperialismus war und ist nur eine Facette des ganzen Imperialismus, den diese Generation im Vietnamkrieg, aber auch in der Niederschlagung des tschechoslowakischen Modells, in der mühsamen Dekolonisation Afrikas und in der Unterdrückung aller demokratischen und fortschrittlichen Entwicklungen in Südamerika täglich erfuhr, und dessen naive oder berechnende Parteigänger im eigenen Land unschwer auszumachen waren. Vielleicht hat diese Generation von Medienpartisanen in den ersten Jahren, die Renitenz jener, um die es schliesslich ging, der einheimischen Konsumenten, etwas unterschätzt. Partisanen gewinnen eben nicht so schnell das Vertrauen des eigenen Volks, besonders wenn ihr Programm eine gewisse Austerität auszeichnet. Nach spätestens zehn Jahren wussten sie aber auch, dass es Ausdauer braucht, dass Wandlungen im Kulturverständnis und im Bewusstsein keine Umschwünge sind, sondern Entwicklungen, die Zeit brauchen (so wie ja auch die Kolonisation nicht von einem Tag zum anderen plötzlich geschehen ist). So wie die Dinge heute liegen, erscheint der lange Schnauf (oder lange Marsch) von aussen gefährdet. Der Staat, der eigentlich das grösste Interesse an einer deutlichen Entwicklung der kulturellen Dekolonisation haben sollte, ist nie richtig eingestiegen und hat diese Generation von Kulturarbeitern beinahe verbluten lassen. Das Fernsehen fürchtete Konzessionsverletzungen durch parteiliche Filme und setzte die Kolonisation der Zuschauer frischfröhlich fort, wie wenn es keine fundamentale Kritik an dieser schleichenden Zersetzung des Bewusstseins gäbe. Die Privatwirtschaft konnte sich mit dem emanzipatorischen Film selbstredend nie befreunden. Und jetzt, 1983, stehen wir mitten in einem deutlichen Neokonservativismus, der sich zwar für einen eigenen Film in der Schweiz auch interessieren könnte. Nur fehlen die Filmautoren, die | die “richtigen” Filme machen. Die Welt (die kleine Filmwelt) hat von den Filmen aus der Provinz Schweiz zuerst staunend Kenntnis genommen, dann mit wachsendem unpaternalistischem Interesse. Schweizer Filme sind an unzähligen Festivals gezeigt worden, in mannigfaltigen Spezialveranstaltungen auf der ganzen Welt, auch in Fernsehprogrammen, in den Kinos. Sie legten Zeugnis davon ab, dass dieses Land an seiner Identität arbeitet, und dass die Probleme an seinen Grenzen nicht Halt machen, dass die Schweiz ein Land ist wie jedes andere auch, dass sie zur Welt gehört (wie Henry Brandt in 1 seinen Kurzfilmen zur schweizerischen Landesausstellung 1964 formuliert hatte). ‚ Man wird nicht sagen können, dass der Film den ganzen Goodwill, den das Bankenland verloren hat auf der Welt, wieder hergestellt hat. Aber er machte vielen klar, dass in der Schweiz nicht nur Gnomen, sondern Menschen leben. Der erste Film Henry Brandts, Les Nomades du Soleil (1954), ein ethnographischer Film über die Bororo-Nomaden in der nigerianischen Sahelzone, endet einigermassen überraschend: Da gibt ein schwarzer Viehzüchter dem weissen Filmer Brandt einen Auftrag: “Sag deinen Leuten zuhause, dass wir auch Menschen sind.” Genau das hat der neue Schweizer Film während fast zwei Jahrzehnten im Ausland gemacht: gezeigt, dass wir auch Menschen sind, eigene Menschen, die aber allen anderen auch gleichen. Die “eigenen Angelegenheiten”, zu denen durchaus auch ein eigenes internationales Bewusstsein gehört, waren Motiv und Gehalt, die eigentliche “raison d’être” der Erneuerung des Schweizer Films. Dieser Schweizer Film ist immer gefährdet, immer in der Krise gewesen. Ein “Wunder” - wie ausländische Beobachter wiederholt formulierten - war gar nicht so sehr seine hohe Qualität, ein “Wunder” war, dass er überhaupt immer wieder zustande kam. Dieser Film steht wieder einmal vor einer wichtigen Entscheidung, wie knapp vierzig Jahre früher: Will er mit geringen Mitteln, aber eigenständig weiterexistieren, oder soll er versuchen, europäisch, international zu werden, das heisst: gewisse Dinge opfern, die er in den letzten zwanzig Jahren errungen hat? “Der Schweizer Film steht vor einer Entscheidung”: Was heisst das? Alle, die ihn machen, die ihn benützen, denen er etwas bedeutet, stehen vor einer Entscheidung. Und sie wissen ganz genau, dass diese Entscheidung nicht in völliger Freiheit und Unabhängigkeit getroffen werden kann. Der Medienkrieg, der Kampf um Einflüsse und Anteile, ein unerbittlicher Krieg, der aussieht wie ein ökonomischer, der aber ganz klar ein ideologischer ist, hat seinen Höhepunkt längst nicht erreicht. Martin Schaub

CINEMA #29
DIE EIGENEN ANGELEGENHEITEN
EDITORIAL
ESSAY
SELECTION CINEMA
DIE LIEBE AM SANKT GOTTHARD (SILVIA-GEMEINSCHAFTSPRODUKTION)
UNSERE ELTERN HABEN DEN AUSWEIS C (EDUARD WINIGER, MIA FRÖLICHER)