HANS M. EICHENLAUB

DIE TRAGIK DER PIONIERROLLE — WAS LEISTEN ALTERNATIVE STELLEN FÜR DIE FILM WIRTSCHAFT?

CH-FENSTER

Alle nichtkommerziellen Filmvorführer müssten ihre Aufgabe vermehrt in den Rahmen einer heute mehr denn je von Interessen gestörten Kommunikationssituation sehen. Es ist die erste Aufgabe jedes nichtkommerziellen Filmvorführers, Kommunikation dort zu ermöglichen, wo die kommerziellen Vorführer (das Fernsehen eingeschlossen) versagen. Die blinden Flecke in unserem Kommunikationssystem werden immer grösser, und zwar weil ganze Erdteile sich den Film erobern und ganze Schichten, die früher allenfalls als Gegenstände von Filmen in Frage gekommen wären, nie aber als Autoren. Das traditionelle Kommunikationssystem kann längstens die Stimmen, die sich erhoben haben, nicht mehr fassen. Selbst wenn unsere offiziellen und traditionellen Kommunikationsmacher es möchten. Und daran hat man immerhin Grund zu zweifeln. Wenn sich dereinst einmal mit diesen neuen Stimmen wird Geld verdienen lassen, werden sie sich jedenfalls eher für sie verwenden.

(Martin Schaub in: «Kellerkino: Materialien zu den Filmen 1973/74»)

Die folgenden Überlegungen verstehe ich keineswegs als differenzierte Analyse der Situation der alternativen Verleih-und Abspielstellen gegenüber der Kinowirtschaft. Es handelt sich vielmehr um die Skizzierung von Beobachtungen und Gedanken die sich mir in letzter Zeit aus diesem Spannungsfeld ergeben haben.

Unter nichtkommerziellen oder alternativen Stellen verstehe ich sowohl Abspielstellen wie auch Verleihorganismen deren Alternativität sich darin manifestiert, dass sie andere Ziele verfolgen als die kommerziellen oder ausschliesslich kommerziell ausgerichteten Pendants aus der Filmwirtschaft. Um falsche Vorstellungen im Keime zu ersticken, möchte ich weiter vorausschicken, dass für mich der Begriff «kommerziell» nicht an sich schon etwas Schlechtes, Verwerfliches gar, beinhaltet. Hingegen stossen mir jene Kaufleute und Krämer auf, die mit den Produkten der siebenten Kunst handeln, als wären es Autos, T-Shirts oder Lebensmittelkonserven, jene Leute der Branche also, die nicht die geringste Beziehung zu ihrem Handelsobjekt haben, und die entsprechend damit verfahren.

Die nichtkommerziellen oder alternativen Stellen leisteten und leisten auf idealistischer Grundlage so etwas wie Pionierarbeit. Und zwar Pionierarbeit, von der weitgehend die Kinowirtschaft profitiert. Dies soll im Folgenden belegt werden.

«Zulieferbetriebe» fürs Kino

Die filmkulturellen Anstrengungen dieser alternativen Stellen kommen in zweierlei Hinsicht der Kinowirtschaft zu gute. Zum einen wird laufend ein neues, jugendliches Publikum rekrutiert und für den Film begeistert. Zum andern erschliessen die alternativen Stellen dem Kino immer wieder neue Namen oder neue, andere Filmarten. Und damit muss sich nicht einmal ein Vorwurf an die Adresse der Kinowirtschaft verbinden, denn es ist offensichtlich, dass die nichtkommerziellen Stellen wesentlich risikofreudiger programmieren können, ja sogar nicht selten ihr Ziel gerade darin sehen, sich der eingangs von Martin Schaub erwähnten «blinden Flecke» anzunehmen, immer wieder in Marginalbereichen nach Neuem zu suchen. Einige Beispiele:

Die früheren Filme von Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog oder Wim Wenders waren in der Schweiz in Filmclubs, beim Zürcher Filmpodium und im Berner Kellerkino zu sehen, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo sich weder Verleiher noch Kinobesitzer für diese Namen interessierten. Überhaupt lässt es sich verallgemeinernd sagen, dass der Neue Deutsche Film in der Schweiz durch die alternativen Stellen bekannt geworden ist. Wie sieht es heute aus? Fassbinder, Herzog und Wenders sind wohlklingende Namen geworden. Ihre Filme sind nun in den offiziellen Kinoprogrammen zu sehen. Das Risiko hat sich offenbar vermindert, ist für die Kinowirtschaft tragbar geworden. Dies ist durchaus erfreulich, erfahren diese Filme doch dadurch eine grösserer Verbreitung. Nur, das Nachsehen haben die alternativen Stellen. Denn sie müssen sich nach anderen «neuen» Namen umsehen.

Man kann es auch umgekehrt sagen: «Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner» von Kurt Gloor und La Dentellière von Claude Goretta wären wohl niemals an der Kinokasse so erfolgreich gewesen, wenn es nicht die Vorarbeit der alternativen Stellen gegeben hätte. Wer hat die ersten Filme von Gloor und Goretta (ich nenne nur die beiden, weil sie ihres Erfolges wegen gerade aktuell sind, doch sie stehen stellvertretend für andere) gezeigt, wer hat ihre Namen bekannt gemacht oder zumindest entscheidend dazu beigetragen? Jedenfalls nicht die Filmwirtschaft, die nun mit diesen Namen die Gewinne macht. Hier wird deutlich, dass die alternativen Stellen längerfristige Werbe-Vorarbeiten leisten, von denen sie selbst in keiner Weise profitieren können. Kommt dazu, und dies ist nicht unwesentlich, dass die alternativen Spielstellen ihre Filme ja nicht einfach nur zeigen, sondern sie mit Dokumentationsmaterial begleiten. Auch dies sind letztlich PR-Arbeiten für andere!

Noch ein letztes Beispiel, das in aller Deutlichkeit illustriert, wie die Kinowirtschaft von der Arbeit der alternativen Spielstellen profitiert. Der Filmkreis Olten hat während einigen Jahren zusätzlich zu den 16 mm-Vorführungen alle vierzehn Tage in einem Oltner Kino Filme im 35 mm-Format gezeigt und zwar jeweils an einem Samstag, um 17.15 Uhr. Ein Unterfangen, dass den Organisatoren des Filmkreises breitere Programm-Möglichkeiten bot und das zudem beim Publikum Anklang fand. Bis eines Tages jener Kinobesitzer auf die Idee kam, am Samstag um 16.30 Uhr selbst eine Studio-Film-Reihe aufzuziehen, die nun zu den Filmkreis-Vorstellungen alterniert.

Der Zwang, Pionier zu sein

Diese Beispiele mögen genügen, um darzulegen, in welcher Art die Film- und Kinowirtschaft von der Arbeit der nichtkommerziellen Stellen profitiert. Es wird deutlich, dass solche filmkulturellen Bemühungen eigentlich immer Pionierarbeit, um nicht zu sagen Sysiphus-Arbeit, bleiben müssen. Doch wo Pioniere gemeinhin mit der Zeit soweit kommen, dass sie befriedigt auf ihre Arbeit zurückschauen können, dass sie es ruhiger nehmen können, weil sie gewisse Sicherheiten erreicht haben, sind die Träger der filmkulturellen Pionierarbeit im Bereich der alternativen Stellen immer wieder gezwungen, von vorne anzufangen. Ihr Pionier-Dasein nimmt kein Ende. Dass diese Rolle eine tragische ist, ist wohl unbestreitbar. Umso erstaunlicher ist, es, dass solche filmkulturelle Arbeit immer wieder geleistet wird, dass Idealismus und Liebe zum Film grösser sind, als alle Hindernisse und widerwärtigen Umstände, dass Pionier Sysiphus nicht aufgibt.

Noch ein Punkt in diesem Zusammenhang: Es ist wohl unbestritten, dass alternative Spielstellen eminent erzieherisch-emanzipatorische Funktionen haben. Im weitesten Sinne tragen sie zur Medienerziehung bei, deren Bedeutung in unseren Schulen immer noch so sträflich unterschätzt wird. Sie helfen mit, Zuschauer kritisch-sensibel und mündig zu machen. Schon allein deshalb würde es sich rechtfertigen, dass alternative Spielstellen vom Gemeinwesen (auf kantonaler oder kommunaler Ebene) unterstützt oder ganz getragen werden (etwa nach dem Vorbild der Kommunalen Kinos in Deutschland). Dies würde jedoch voraussetzen, dass kritische und mündige Zuschauer hierzulande überhaupt erwünscht sind. Einige Vorfälle der letzten Zeit (Filmförderungs- und Qualitätsprämienvergebungspraxis des Bundes, Entscheid Hürlimann im Fall Dindo, mangelndes Interesse der eidgenössischen Parlamente für die einheimische Filmkultur, neuerlicher Eclat bei der kürzlichen Vergabe der Zürcher Filmpreise etc.) lassen immer hin daran zweifeln.

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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