BERNHARD GIGER

KÜHLE SCHÖNHEIT AUS DEM REICH DER SCHATTEN — BEMERKUNGEN ZU VIOLANTA VON DANIEL SCHMID

CH-FENSTER

Als Kind, so erzählte der in Films, in den Bergen, geborene Daniel Schmid einmal, habe er immer das Meer gezeichnet. Heute braucht er das Meer nicht mehr zu zeichnen, er hat es unterdessen gesehen, er weiss, was hinter den Bergen liegt, zwischen denen er aufgewachsen ist. Seit Jahren ist er unterwegs — er ist ein durch die Ruinen des Glücks Streunender, ein nach Spuren der Liebe Suchender, der sich von den Einsamen ihre Träume erzählen lässt und selber seine Träume erzählt. Aus seinen Zeichnungen sind unterdessen Filme geworden, und so wie die Zeichnungen Ausdruck der Sehnsucht waren, so sind es nun auch die photographischen Bilder. Als Kind in den Bergen zeichnete er die befreiende, unendliche Weite des Meeres, (wie sehr diese Weite Hoffnungen zu wecken vermag, zeigt das Schlussbild in Truffauts Erstling Les quatre cents coups), in seinen Filmen zeigt er Menschen, die im Labyrinth der Angst einen Ausweg suchen. Die helle Öffnung aber, die den durch die Dunkelheit Irrenden einen Ausweg weist, führt sie nicht zurück in eine von allem Bösen erlöste Welt: die befreiende, unendliche Weite des Meeres ist der Tod. Die Welt, durch die Daniel Schmid seit Jahren zieht, ist ein Reich der Schatten.

Daniel Schmid ist ein Kind unserer Zeit, aber er ist der Wirklichkeit, gegen deren Brutalität wir uns täglich zu verteidigen haben, entwichen. In seinen Filmen bleibt die moderne Zivilisation, wenigstens ihre ins Auge springenden Erscheinungen, unsichtbar. Kaum vorstellbar, dass Schmid in La Defense in Paris drehen würde. Nur einmal, gegen den Schluss von Schatten der Engel, als der Jude die Hure Lily erwürgt, ist im Hintergrund ein riesiger Betonklotz zu sehen. Im Hintergrund, weit entfernt. Die Orte der Handlung liegen hinter den Neontempeln der Macht, hinter den Autobahnen, hinter den Kernkraftwerken, hinter Seveso. Im Niemandsland. In den Landschaften der Träume, im imaginären Exil.

Die Figuren, die Daniel Schmid für seine Filme erfunden hat, sind Flüchtlinge. Die Liebe, nach der sie sich auf ihrer Flucht sehnen, finden sie nur in ihren Vorstellungen. Im Drehbuch zu Violanta steht, «dass das eigentlich Schöne nur als erlittene Vorstellung existiert.» (In Zürich, als Daniel Schmid Violanta erstmals auf die Leinwand projiziert sah, las er gerade Kleists Briefe, «Geschichte meiner Seele».) Nahe dem Wahnsinn erst findet die Liebe ihre Erfüllung. In Todesnähe. Das imaginäre Exil ist ein Vorzimmer des Todes. So scheinen denn die Figuren ohne Leben zu sein. Die Flamme des Lebens zittert im Hauch des Todes. (In Violanta schliesslich sind die Lebenden nicht mehr von den Toten zu unterscheiden.) Ihre Gesichter — gezeichnet von seelischen Qualen — sind blass, in ihren Augen öffnen sich die Abgründe des Schreckens. Das zarte Gesicht von Ingrid Caven etwa scheint aus dünnem, milchigem Glas zu sein, das bei der kleinsten Erschütterung zerbrechen könnte.

Daniel Schmid, der Reisende, macht seine Filme meistens an einem Ort, in einem Hotel, in einer Villa, in einer Stadt. Einen Film drehen heisst für ihn, mit anderen zusammenleben, mit Schauspielern, Technikern, Freunden. Diese kommen von den verschiedensten Orten der Welt und sprechen selten alle die gleiche Sprache. Ihre persönlichen Geschichten sind nicht weniger wichtig als die Geschichte, die der Film erzählen sollte, ihre Erfahrungen sollen nicht weniger umgesetzt werden als die des Filmemachers.

Am Drehort herrscht ein Chaos der Gefühle. Aus diesem Chaos ergeben sich dann jene intensiven Momente, in denen alles und alle zusammenfinden, in denen die Kamera läuft. Daniel Schmid:

Wenn ich arbeite, freue ich mich jeden Tag auf ein Wunder. Es gibt wirklich einen Moment, wo man dasteht und wartet, und langsam beginnen die Schauspieler, beginnt alles irgendetwas zu machen und jeder denkt, um Gottes Willen und wie abenteuerlich... In diesem Chaos drin fängt man irgendwie irgendetwas an und hofft dann auf irgendein Wunder. Und was passiert, weiss ich dann auch nicht. Aber zumindest ist das Interesse der Leute da, die in dem Raum vorhanden sind, sich wirklich ausschliesslich auf das zu konzentrieren, was da dann plötzlich kommt oder was wir versuchen zu machen. Und das Schöne ist, dass die Leute dann eben nicht in die Kneipe rausgehen, sondern dass sie dableiben, weil das hier halt viel interessanter ist als die Kneipe um die Ecke. Und das kann dann fünfzehn, sechzehn oder siebzehn Stunden dauern. Das ist dann der Moment, wo der Film einem trägt.

Daniel Schmid ist zurückgekehrt in seine Heimat, in Soglio, in den Palazzi der Familie von Salis — der Casa Battista, heute Hotel Willy, der Casa Max und den dazwischenliegenden Stallungen — und in der Umgebung drehte er Violanta. Aber er ist nicht zurückgekehrt wie der müde gewordene Wanderer, der sich nun zur Ruhe setzen will. Er machte in seiner Heimat nur einen Zwischenhalt wie an anderen Orten irgendwo in der Welt auch, einen Zwischenhalt wie die Handelsreisenden, deren Route früher durchs Bergell führte. Violanta ist ein Heimatfilm von einem Weitgereisten, von einem der weiss, dass die Welt hinter den Bergen weitergeht. Daniel Schmid hat aus dieser Welt hinter den Bergen mitgenommen, was er dort gesammelt hat. Schmids Sammlung, Leidensbilder aus dem Reich der Schatten, und die majestätische Kulisse der Schneeberge — extremer könnten die Gegensätze nicht sein.

Das von Daniel Schmid und Wolf Wondratschek verfasste Drehbuch entstand nach der Novelle Die Richterin von Conrad Ferdinand Meyer. Schmid und Wondratschek haben Meyers Novelle entkleidet, sie haben ihr den historischen Rahmen, in dem Meyer seine doch recht persönliche Geschichte versteckte, weggenommen. (Meyers Schwester Betsy erklärte einmal: «Die Richterin ist meines Erachtens das einzige Gedicht meines Bruders, von dem er mir, während er es komponierte, niemals sprach, das einzige, das ich erst in Buchform zu Gesicht bekam...») Violanta spielt irgendwo in den Bergen, zu einer Zeit, da es weder Autos noch elektrisches Licht gab. Zeitangaben werden im Film sonst keine gemacht.

Meyers Novelle wurde also nicht «Wort für Wort» umgesetzt, Violanta ist keine übliche Literaturverfilmung, das geschriebene Wort wird mit photographischen Bildern nachempfunden. Darum wird die literarische Vorlage im Vorspann richtigerweise auch nicht nach dem Titel erwähnt, sondern erst bei den Angaben zum Drehbuch. Schmid hat damit den ständigen Vergleich während der Vorführung mit der Vorlage umgangen, er hat sich von der Vorlage so weit entfernt, dass der Text im Kopf nicht ständig das Erlebnis im Kino stört. Schmid hat aus Meyers Geschichte eine eigene gemacht. Bei der Gestaltung der Figuren fällt dies besonders auf, im Film treten nicht Meyer — Figuren auf — oder dann Figuren, die auch an Meyer erinnern — sondern solche, wie sie Daniel Schmid für seine Filme schon immer erfunden hat. Insofern unterscheidet sich Violanta nicht von den anderen, früheren Filmen. Dennoch ist er nicht wie diese.

In den Räumen von Violanta, der Richterin, der Hauptfigur, sind die Fensterläden meistens geschlossen oder dann filtern Tücher das hereinfallende Licht — die Innenwelt verschleiert sich vor der Aussenwelt. Violanta hat sich zurückgezogen, ihr Leben hat eigentlich schon lange aufgehört, sie findet es nur noch in ihren Begegnungen mit den den Toten, in ihren Erinnerungen. Die schöne Frau hat schlimmste Leiden durchgemacht, ihr Körper war an den ihres Geliebten geschmiegt als dieser von ihrem Vater erschossen wurde, weil ein anderer Mann das Würfelspiel um sie gewonnen hatte. So grausam dieser Mord war, so grausam war ihre Rache, sie streute Gift in den gemeinsamen Trunk, während ihr Mann gelähmt umfiel, spielte sie vor dem Volk Entsetzen — sei besass das Gegengift.

Erst gegen den Schluss des Films verlässt sie ihr grosses, leer, oder besser, von allem Leben verlassen scheinendes Haus, um ihr Werk, die Hochzeit ihrer Tochter Laura, zu vollenden und um sich dann selber zu richten. Während der Hochzeitsnacht streut sie sich selber Gift in den Wein, sterbend stösst sie dann ihr Glas um, der Wein bildet ein Herz (oder ist es ein V-Zeichen?). Erstarrt schaut sie auf das tanzende Hochzeitspaar, auf ihre Tochter, die den Mann nicht liebt, mit dem sie tanzt.

Lucia Bosé ist die Darstellerin der Violanta. Sie stellt diese leidende Figur eigentlich nur mit ihrem Gesicht dar. Als wäre es ein Bildschirm der Gefühle, erscheint in ihrem Gesicht Einsamkeit, Angst und der Hass, der sich tief in sie hineingefressen hat. Aber durch die Maske der Verbitterung, die dieser Büdschirm zu sein scheint, schimmert auch verlockend die noch nicht ganz erloschene Glut der Liebe. Ich wüsste keine andere Schauspielerin, die, wie Lucia Bosé, einfach nur dadurch, dass sie, dass ihr Gesicht im Bild ist, eine solche Faszination hinterlässt.

Das Spiegelbild Violantas ist Alma, eine Frau aus dem Volk. Auch sie hat ihren Mann, den sie nicht heiraten wollte, umgebracht, auch sie hat jahrelang geschwiegen, hat jahrelang den Schmerz mit sich herumgetragen. Sie wollte nicht, dass es von ihrem Kind hiesse, es habe eine Mörderin zur Mutter. Alma bittet Violanta, über sie zu richten, was diese aber ablehnt. In der Hochzeitsnacht erhängt sie sich. Alma, und das überrascht vorerst, wird von Ingrid Caven dargestellt.

Nachtlokale und dreckige Hotelzimmer passen eigentlich mehr zu ihr als einfache Steinhäuser in den Bergen. Dann aber, nachdem ihre Bitte von Violanta zurückgewiesen wurde, und das, was sie mit sich herumträgt, wie des Teufels Kind in ihr nagt, wird die Besetzung verständlicher. Das unheimliche Spiegelbild Violantas lässt den nahen Tod ahnen.

Gestört wird die Vollendung von Violantas letztem Werk durch Silver, dem aus Venedig für die Hochzeit zurückgekehrten Sohn ihres Mannes. Silver, der sich mit Laura an einem Bergsee in, wie sie meinen, sündiger Geschwisterliebe findet, wirkt, als ob er in der Fremde nur schlechte Erfahrungen gesammelt hätte. Die Lust aufs Leben scheint auch ihm vergangen zu sein, er scheint schlafend durch die Welt zu reisen. Seine Müdigkeit ist jedoch weniger eine Folge von Überanstrengung, als vielmehr ein Schutz: Silver hat Angst vor dem Leben, er ist irgendwie ein Feigling. In der Auseinandersetzung mit Violanta bleibt er darum der Schwächere.

Silver wird von Lou Castel dargestellt. Schmid und Wondratschek haben, während der Arbeit am Drehbuch, bei der Figur Silvers an James Dean gedacht. Dean wollte in seinen Filmen kein Einzelgänger sein, er hat darum gekämpft, verstanden zu werden. Lou Castel in Violanta hingegen hat sich daran gewöhnt, ein Einzelgänger zu sein, er ist schon so weit, dass er gar nicht mehr verstanden werden will. Lou Castel ist ein gebrochener Rebell.

Zwischen Silver und Violanta ist Laura, die Unschuldige, die Naive — gespielt von Maria Schneider. Dass gerade sie dieses doch recht einfache Mädchen spielt, überrascht vorerst ebenso wie die Besetzung der Alma. Dann aber ist es, als ob der komplizierte Star wieder zum Kind geworden wäre, das mit grossen Augen in die ihm noch unbekannte Welt blickt, unschuldig, aber neugierig.

Unter diesen Lebenden bewegen sich auch die Toten. Sie tragen die Wahrheit mit sich herum und erzählen sie den Lebenden, die sie treffen. Es ist eine schreckliche Wahrheit und die Toten, die ja nichts mehr zu verlieren haben, quälen die Lebenden damit. Die Qual ist aber auf die Dauer nicht zu ertragen. Der Tod wird zur süssen Erlösung.

Ein Totentanz zwischen den Schneebergen, die Qual der Nacht und der Glanz des Tages, Schönheit und Hässlichkeit zusammengeflochten wie ein Zopf — Violanta ist wirklich ein Film extremster Gegensätze. Sie herauszuarbeiten ist in begeisternder Art und Weise Renato Berta gelungen. Selbst jene, die den Film aus was für Gründen auch nicht mögen, werden zugeben müssen, dass sie eine ähnliche Kameraarbeit bisher in keinem anderen Schweizer Film und, in den letzten Jahren, vielleicht sogar in überhaupt keinem anderen Film gesehen haben. Die unerhört schönen Bilder Bertas, die, wie bei den Dreharbeiten zu beobachten war, mit grösster Sorgfalt komponiert wurden, bestechen vor allem dadurch, dass sie einfach sind, ohne überflüssige Verzierung. Das sind kerne überladenen Bilder der Dekadenz, die Berta aufgenommen hat, sondern solche, die den vielfarbigen Gefühlen dieses Films genügend Raum zur Entfaltung lassen.

Daniel Schmid hat, und damit wäre von den Unterschieden zu den früheren Firmen, insbesondere zu Schatten der Engel, die Rede, die Variationen der Angst zurückhaltend inszeniert — Violanta ist eine kühle Schönheit. Quollen bei Schatten der Engel die Gefühle, die Sehnsucht nach dem Tod, über die Ränder der Leinwand hinaus in den dunklen Saal, so muss der Betrachter nun selber sich intensiv in die Bilder hineinschauen. Musste man in Schatten der Engel beinahe eine Verteidigungsposition einnehmen, so fängt nun Violanta erst richtig zu wirken an, wenn man selber zu seinen Gefühlen steht. Man wird erst zum Begleiter der Figuren, wenn man sich ganz in ihre Nähe begibt. Violanta ist alles andere als ein aufdringliches Melodrama. Das ist ein Vorteil. Denn einerseits ist die Kulisse, in der die Geschichte angelegt ist, gewaltig, das Auge überrumpelnd, und andererseits wirkt die Geschichte, das ist auch beim Lesen von Meyers Novelle zu spüren, an und für sich schon so stark, dass sie durch einen dicken melodramatischen Aufstrich vielleicht unerträglich geworden wäre.

Violanta ist keine Totenmesse, sondern ein Liebesfilm. Verzweifeln in der Liebe kann nur, wer sie auch spürt, Schatten bilden sich nur dort, wo auch Licht ist. Die Variationen der Angst sind Negative der Liebe. Sie umzusetzen wäre Aufgabe des Betrachters, des liebesbedürftigen Betrachters.

Wie kann einer, ich spreche nun von mir, zugleich Richard Dindos Landesverräterfilm einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Schweiz finden und sich von Daniel Schmids Violanta faszinieren lassen? Darum, weil beide Filme, jeder freilich auf seine Art, von unserer Zeit sprechen, weil beide Ausdruck sind von ihr. Sicher, Dindos Film ist für die direkte Auseinandersetzung mit einem politischen System, in dem man sich nicht besonders wohl fühlt, der wichtigere Film. In ihm und in den Reaktionen seiner Gegner auf ihn findet das alltägliche Unbehagen eher konkrete Anhaltspunkte als in Violanta. Dennoch finde ich in Schmids Film, diesem Reisebericht aus dem Reich der Schatten, mehr typische Aussagen zu jener Welt, in der ich lebe, als in manchem Film, der laut und deutlich von Ausbeutung und Unterdrückung berichtet. Beides entspricht unserer Zeit: die Erforschung der Landschaften, in denen sich Geschichte abgespielt hat und die Erforschung der Landschaften der Träume, der Landschaften des imaginären Exils.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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