JACQUELINE MAURER

HOTEL MOTEL (ALICE DENYSE)

In der kleinen Hotellobby im 70er-Jahre-Stil scheint die Zeit still zu stehen. Der passiv wirkende und etwas ungeschickte Rezeptionist in Zirkusmontur vergnügt sich hinter der Theke mit dem Anschauen von Goldfischen im Internet, obschon solche im Gästebereich in ihrem Aquarium herumschwimmen. Das ältere Ehepaar wartet nach Begutachtung einer gestickten nackten Frauenfigur geduldig auf die vergessen gegangenen Handtücher. Zum Paar setzt sich eine sich selbst zelebrierende junge Frau, die es sich in Bademantel, mit Gesichtsmaske und Kopfhörern bequem macht und einen Margarita-Drink bestellt. Sie alle wollen in ihrer kleinen Welt ungestört bleiben, auch dann noch, als ein Mann mit Blumenstrauss seine Exfreundin prompt in ihrem Versteck vor ihm abfängt und insistiert, dass sie es nochmals miteinander versuchen müssen. Was amüsant, da überzeichnet daherkommt, entpuppt sich als ernst gemeinter Aufruf zur Zivilcourage. Wir werden Zeug_innen einer immerzu heftiger werdenden Belästigungsszene. In diese greifen die umgebenden Anwesenden auch bei Gewaltanwendung nicht ein. Durch den Auftritt einer starken Frauenfigur und Mutter endet die Szene gerade noch gut – und der Film mit einem poetischen, doch aufweckenden Blütenzauber.
 
Die Genferin Alice Denyse Matthey, die den Kurzfilm Hotel Motel im zweiten Bachelor-Studienjahr im Bereich Film an der École Cantonale d’Art de Lausanne ECAL geschaffen hat, erlebte selbst Belästigung hautnah und kritisiert in ihrem Film den grassierenden Individualismus und die Passivität in unserer Gesellschaft. Als Erzählweise wählte sie unterschiedliche Figurenperspektiven auf die Miniszenen und spielt so auch geschickt mit der Zeitlichkeit. Um gegenüber dem ernsten Thema nicht ins Moralisieren und in Pathos zu verfallen, wirkt weniger das Schauspiel als die Inszenierung und Ausstattung überzeichnet. Der dominanten Farbe Orange kommt dabei zunehmend die Bedeutung einer Signalfarbe zu. Der Jungregisseurin gelingt es, durch einen divers ausgewählten Cast, den spielerischen Einsatz unterschiedlicher filmischer Mittel und ein sorgfältig ausgearbeitetes Dekor eine kleine Welt zu kreieren, die unterschiedliche Sichtweisen auf das grosse Gesellschaftsthema der Zivilcourage und deren Abwesenheit verhandelt.
Jacqueline Maurer
Dr. phil., studierte Kunstgeschichte und Deutsche Philologie in Basel und London, arbeitete als Kunstvermittlerin am Kunstmuseum Basel, war Assistentin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur gta an der ETH Zürich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Architektur der FHNW und promovierte am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich zu Jean-Luc Godard und Verschränkungen zwischen Film-, Infrastruktur-, Städtebau- und Architekturforschung. Sie war 2022/2023 Postdoctoral Fellow am Collegium Helveticum, 2023/2024 Residente am Istituto Svizzero di Roma und Gastforscherin an der Biblioteca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, 2024–2025 Postdoc am Institut ArchitekturWerkstatt der Ostschweizer Fachhochschule OST innerhalb des SNF Sinergia-Projekts «Aerial Spatial Revolution» und arbeitet nun als akademische Mitarbeiterin im Bereich Schulraumplanung am Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt.
(Stand: 2025)
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