JACQUELINE MAURER

LA DÉRIVE DES CONTINENTS (AU SUD) (LIONEL BAIER)

Nathalie Adler ist EU-Beauftragte in der sizilianischen Stadt Catania. Als sie die PR-Fachleute von Angela Merkel und Emmanuel Macron empfängt, um deren mit Symbolwert behafteten Besuch in einem Flüchtlingslager vorzubereiten, trifft sie unverhofft auf ihren Sohn. Vor knapp zehn Jahren hat sie ihn und dessen Vater für ihre Karriere und eine Frau verlassen. Albert, der mittlerweile für eine NGO arbeitet, verabscheut die europäische Flüchtlingspolitik und hat mit seiner Mutter abgeschlossen. Im aufgeladenen politischen Setting an der südlichen europäischen Aussengrenze versucht Nathalie zu ihrem Sohn zurückzufinden und ist dadurch mit ihrer Selbstfindung konfrontiert. Dies, samt unvorhersehbaren natürlichen Ereignissen, bringt nicht nur Nathalies streng getaktetes Arbeitsprotokoll durcheinander, sondern löst auch ein Stück weit ein Umdenken in ihr aus. Die scheinbare Rationalität und Effizienz der EU-Bürokratie, die es unbedingt aufrechtzuerhalten gilt, und die menschlich-emotionale Perspektive driften immer mehr auseinander.
 
Lionel Baiers La dérive des continents (au sud) ist nach Comme des voleurs (à l’est) von 2006 und Les grandes ondes (à l’ouest) von 2013 die dritte Komödie seiner Tetralogie über die Konstruktion Europas. Der Film verknüpft die kritisch beleuchtete symbolische Mutterrolle Europas mit der Doppelrolle einer Karrierefrau, die für die Wahrung der südlichen EU-Grenzen tätig ist und ihr eigenes Muttersein negiert. Das klingt streng nach Tragödienstoff, doch Lionel Baier meistert es, die grossen Erzählungen in eine rasante Komödie zu verpacken, die zum Denken anregt. Baier recherchierte für den Film im Flüchtlingslager von Moria auf Lesbos und wurde Zeuge davon, wie die westlichen Medien die Berichterstattung über das Elend wiederholt inszenieren. Der Film nimmt dies in satirischer Manier auf, wobei die PR-Kampagne die Hintergrundfolie für die persönliche Geschichte von Nathalie und Albert bildet. Reflektiert wird unsere westliche Perspektive, was die Migration mit uns macht und was unser Umgang mit ihr über uns aussagt.
 
Die Überforderung mit Arbeitsalltag, familiären Verpflichtungen, Liebesbeziehungen, Emotionshaushalt und Unvorhersehbarem innerhalb des humanitären Kontexts, in dem das Wohl der Bedürftigen aus Selbstschutz mit Abgeklärtheit gemanagt wird, nimmt La dérive des continents (au sud) in sich auf und überlässt uns Zuschauenden, wie wir mit dieser Vielheit an Themen, Erzählsträngen, Kulturen und Sprachen umgehen. Entstanden ist ein ausgesprochen dichter und kluger Film, der besonders auch vom vielschichtigen Schauspiel Isabelle Carrés (Nathalie) und Théodore Pellerins (Albert) getragen wird.
Jacqueline Maurer
Dr. phil., studierte Kunstgeschichte und Deutsche Philologie in Basel und London, arbeitete als Kunstvermittlerin am Kunstmuseum Basel, war Assistentin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur gta an der ETH Zürich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Architektur der FHNW und promovierte am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich zu Jean-Luc Godard und Verschränkungen zwischen Film-, Infrastruktur-, Städtebau- und Architekturforschung. Sie war 2022/2023 Postdoctoral Fellow am Collegium Helveticum, 2023/2024 Residente am Istituto Svizzero di Roma und Gastforscherin an der Biblioteca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, 2024–2025 Postdoc am Institut ArchitekturWerkstatt der Ostschweizer Fachhochschule OST innerhalb des SNF Sinergia-Projekts «Aerial Spatial Revolution» und arbeitet nun als akademische Mitarbeiterin im Bereich Schulraumplanung am Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt.
(Stand: 2025)
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