NATALIE BÖHLER

BURNING MEMORIES (ALICE SCHMID)

«Die mit den Kindern» sei sie in der Schweizer Filmwelt immer gewesen, sagt Alice Schmid in ihrem neusten Film. Ihr Leben lang hatte sie sich mit den Themen Kindergewalt auseinandergesetzt, in ihren Filmen und Büchern, deren Hauptfiguren oft Mädchen in Gefahrensituationen sind. Da mag es zunächst erstaunen, dass sie ihre eigene Missbrauchsgeschichte jahrzehntelang vergessen hatte, bis ein zufällig gesehenes Gemälde einen Stein ins Rollen brachte. Von der Reise in die Tiefen der verschütteten Erinnerung handelt der autobiografische Dokumentarfilm Burning Memories: Die Regisseurin möchte verstehen, was genau geschehen ist, und auch, wie sie ein so einschneidendes Erlebnis vergessen konnte. Intuitiv reist sie nach Südafrika. Die Weite und Fremdheit der Wüstenlandschaften geben ihr einen Schutzraum, der die innere Reise ermöglicht.
 
Nach und nach fügen sich Teile ihres Lebens ineinander, ein Gemisch aus Voice-over-Kommentaren, inszenierten Szenen, Archivbildern und Selbstportraits: das strenge Elternhaus, die Schläge der Mutter, die Umsiedlung ins Internat, später die Angst vor Liebe und Nähe, die wiederkehrende Beschäftigung mit der Gewalt gegen Kinder, die Schlafstörungen – und als zentrales Puzzleteil der sexuelle Missbrauch durch einen Lehrer, der Alices jugendliche Unbeschwertheit jäh beendete und sie eine Zeitlang verstummen liess. Dies freizulegen, gleicht einer Archäologie des Gedächtnisses: Behutsam wird eine Schicht nach der anderen hervorgeholt. Dazwischen setzt sich der Staub, Scham und Schmerz kommen hoch, kaum aushaltbar. Es wird klar: Vergessen ist eine Schutzstrategie, die ein Überleben des Traumas ermöglichte.
 
Bewundernswert ist der Mut, aus diesem Stoff einen so direkten, ehrlichen Film zu machen. Burning Memories ist ein Film übers Anerkennen und Würdigen der eigenen Lebensgeschichte samt ihres Schattens, sowie der immensen Lebenskraft, die uns innewohnt und dank der selbst eine Vergangenheit, die zerstörerisch wirken könnte, überwunden wird. Das filmische Erzählen nutzt Schmid als Mittel, das Erlebte mitteilbar zu machen. Damit erhält ihr Film eine sozialpolitische Dimension, die übers Persönliche hinausreicht: Er fragt nach dem gesellschaftlichen Stellenwert, den Rechten und dem Schutz von Kindern, früher und heute. Als Alice ihren Missbraucher aufspürt und zur Rechenschaft zieht, bittet er um Nachsicht, da dies seiner Ehe schaden könnte.
 
Schmid erzählt, wie sie nach zahlreichen Werken über Kindergewalt schliesslich einen Film machen wollte über etwas, was sie nie hatte: eine glückliche Kindheit. Das Resultat war der Dokumentarfilm Wir Kinder vom Napf (2011) . Die Geborgenheit und Lebensfreude der portraitierten Kinder zogen Tausende von Zuschauern in ihren Bann, und der Film wurde Schmids grösster Erfolg bis anhin – ein Indiz, wie zentral die Kindheit und die Sehnsucht nach dem kindlichen Glück für uns alle ist.
Natalie Böhler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA- Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeit- genössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2021)
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