CORINNE GEERING

KOMBINAT (GABRIEL TEJEDOR)

Bereits seine früheren Dokumentarfilme führten Gabriel Tejedor in den postsowjetischen Raum. In La Trace (2014) erkundete er eine von Zwangsarbeitern erbauten Strassen im Osten Russlands und in Rue Mayskaya (2015) zeigte er ein Dorf in Belarus während der Präsidentschaftswahlen. In seinem neuesten Film Kombinat begibt sich der Journalist und Filmemacher nun in die russische Industriestadt Magnitogorsk im Ural. Die Stadt wurde ab 1929 im Rahmen des ersten Fünfjahresplans für die sowjetische Schwerindustrie komplett neu errichtet. Das damals gegründete Magnitogorsker metallurgische Kombinat (MMK) mit seinen grossen Fabrikanlagen prägt das Panorama der Stadt bis heute und das Unternehmen beschäftigt über einen Drittel der arbeitenden Stadtbevölkerung. Das Kombinat ist das Leitmotiv des Dokumentarfilms und im Leben der porträtierten Menschen. Im Hintergrund der Szenen ist in Fernseh- und Radioberichten immer wieder von der grossen Menge Stahl zu hören, die das Kombinat produziert.
 
Gabriel Tejedors Erkundung der Stadt Magnitogorsk beginnt in den weitläufigen Fabrikanlagen, nimmt ihren eigentlichen Ausgangspunkt aber in einem Salsaclub. Die mit lateinamerikanischer Musik unterlegten Proben bilden die Rahmung der Erzählung und der Dokumentarfilm kehrt immer wieder zu ihnen zurück, bevor er in der Tanzperformance während der Feierlichkeiten für den ‹Tag des Metallurgen› seinen Höhenpunkt findet. Die Stärke von Kombinat liegt in seinem subtilen Erzählstil, der weitgehend auf Dramatik verzichtet, indem man dem Alltag der porträtierten Menschen beiwohnt. So begleitet man einen Stahlarbeiter nach Hause zu seiner Familie, holt gemeinsam mit Frau und Tochter einen anderen Stahlarbeiter beim Kombinat ab und man nimmt an einem Ausflug zum See oder an einem Grillfest teil. Eingewoben in diese Alltagszenen der Familien sind die bedrückenden Lebensumstände in der Industriestadt. Eine der porträtierten Familien möchte Magnitogorsk wegen der stark belasteten Luft verlassen, findet jedoch keinen neuen Schulplatz für ihr Kind. Auf die monumentalen Aufnahmen der Innenräume des Kombinats folgt in einer anderen Szene der Bericht über den Arbeitsunfall eines Mitarbeiters, der durch einen Stromschlag getötet wurde.
 
Der Film Kombinat reiht mehrere bekannte Motive zum heutigen Russland aneinander. Der zurückhaltende Erzählstil lässt die Szenen manchmal beliebig wirken, insbesondere die langen Proben im Salsaclub. Der schnelle Wechsel der Jahreszeiten im Filmschnitt unterstützt das assoziative Narrativ zusätzlich. Anstelle eines Stadtportraits von Magnitogorsk stehen die porträtierten Arbeiter und ihre Familien dadurch vielmehr stellvertretend für die gegenwärtige russische Gesellschaft.
Corinne Geering
*1987, dr. phil., studierte Philosophie (BA) und World Arts (MA) in Zürich, Bern und Prag. Promotion in Gießen. Lebt in Leipzig.
(Stand: 2021)
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