MATTIA LENTO

DER BÜEZER (HANS KAUFMANN)

SELECTION CINEMA

Seit seinem Ursprung ist das Schweizer Kino von Figuren aus dem ländlichen Raum und den Alpen geprägt. Mit dem Neuen Schweizer Film sind neue soziale Akteure aufgetaucht, aber der Bauer und der ‹Homo alpinus› sind bis heute besonders beliebt: Der Mythos der Agrar- und Alpennation hat gegen die historische Entwicklung der modernen und industriellen Schweiz einen starken Widerstand geleistet.

Dem Industrie- oder Bauarbeiter ist es ab den 60er-Jahren gelungen, einen Raum in der schweizerischen Kinematografie zu finden, die der Einwanderung gewidmet ist. Der autochthone Arbeiter ist dagegen eher am Rande des filmisch Imaginären geblieben; eine Figur, der nur wenige Interessierte, darunter Filmemacher wie Alexander J. Seiler oder Alain Tanner, wichtige Dokumentarfilme gewidmet haben.

Im Spielfilm Der Büezer geht es um einen Schweizer Arbeiter, genau genommen einen Bauarbeiter, der nicht sogleich zum Emblem einer ganzen Klasse wird. Im Gegenteil, der junge Bauklempner Sigi ist eine Figur, die dem traditionellen Stolz des in der Schweiz arbeitenden – meist ausländischen – Bauarbeiters widerspricht, weil er eine tiefe Klassenscham erlebt. Dieses Unbehagen resultiert aus einer schwierigen persönlichen Situation und aus einem Zürcher Umfeld, das im Film arrogant, elitär und oberflächlich erscheint.

Die Hauptfigur, gespielt von einem ausgezeichneten Joel Basman, ist verwaist und sucht nach tiefen menschlichen Beziehungen. Stattdessen lehnen ihn jedoch Frauen wegen seines Berufs ab; er wird gegen seinen Willen in dreckige Geschäfte verwickelt und kann seine Einsamkeit nicht überwinden.

Der Büezer ist ein realitätsnaher Film, aber sein Realismus ist nicht radikal. Der Stil des jungen Regisseurs Hans Kaufmann ist sehr direkt und die Szenen wurden zu einem grossen Teil draussen gedreht, was teilweise am knappen Budget liegt. Die Themen sind eng mit dem Zeitgeschehen verknüpft, und der Charakter scheint manchmal fast von der Kamera verfolgt zu werden. Die Konflikte sind jedoch dramaturgisch logisch konstruiert und werden durch aufsteigende Höhepunkte gut bemessen. Darüber hinaus ist der dargestellte urbane Kontext, meist der ‹kinematografische› Kreis 4, immer funktional zur Geschichte.

Der Büezer ist ein unbequemer Film, weniger wegen seines dramatischen Endergebnisses, sondern wegen seiner Fähigkeit, uns die Widersprüche einer der reichsten und erfolgreichsten Städte ohne Tabus zu zeigen.

Mattia Lento
*1984 in Italien, Promotion über La scoperta dell’attore cinematografico (Pisa 2017), zurzeit Gastforscher und Dozent an der Universität Innsbruck mit einem Stipendium des Schweizer National Fonds. Forschungsschwerpunkte: Frühes Kino/Europäischer Stummfilm/Filmschauspielerei/Film und Migration/Film und Politik/Filmkultur in der Schweiz. Freier Journalist bei RSI und filmexplorer.ch.
(Stand: 2021)
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