SIMON MEIER

SCHWESTERLEIN (VÉRONIQUE REYMOND, STÉPHANIE CHUAT)

Lisa (Nina Hoss) und Sven (Lars Eidinger) sind Zwillinge. Er ist ein verdienter Theaterschauspieler in Berlin, sie freischaffende Theaterautorin. Sven ist an einer schweren Form von Leukämie erkrankt. Seit der Diagnose schreibt Lisa nicht mehr. Die Mutter (Marthe Keller), die nicht gerne vor Mittag aufsteht, ist mit der Pflege ihres Sohnes überfordert. So holt Lisa ihren Bruder zu sich nach Leysin, einem kleinen Bergdorf in der Nähe von Montreux, wo sie mit ihrem Mann Martin, Direktor eines Eliteinternats, und ihren beiden Kindern lebt. Nach der definitiven Absage von Svens Verpflichtung bei der kommenden Hamlet-Inszenierung verschlechtert sich sein Zustand massiv. Lisa setzt alles in Bewegung, damit Sven wieder auf die Bühne zurückkehren kann, dort strahlt er, ist er in seinem Element. Die Beziehung zu ihrem Mann, der nicht wie abgemacht nach Berlin zurückkehren sondern in Leysin bleiben will, verschlechtert sich zusehends. Dafür beginnt Lisa eine moderne Adaption von Hänsel und Gretel zu schreiben...
 
Das Regieduo Véronique Reymond und Stéphanie Chuat, beide ausgebildete Schauspielerinnen, hat mit Schwesterlein – ihrem zweiten Spielfilm nach La petite chambre (CH, LU 2010) – einen Film über die Seele von Theatermenschen und eine aussergewöhnliche Geschwisterbeziehung geschaffen. Lisas und Svens Verhältnis zeichnet sich durch eine grosse Intimität aus: Die beiden Zwillinge fühlen sich nicht nur durch ihre Arbeit beim Theater sondern auch emotional zutiefst verbunden. Zudem ist Schwesterlein gleich auf mehreren Eben selbstreflexiv: Sowohl Nina Hoss als auch Lars Eidinger sind beide langjährige Bühnenschauspieler, die beide auf der Berliner Schaubühne unter Thomas Ostermeier gespielt haben. Dieser spielt im Film eine fiktionale Version von sich selbst. Sven wiederum zeichnet sich durch eine grosse Verspieltheit aus, die er trotz seiner Erkrankung nicht ablegt, wenn er etwa Lisas Kinder als Monster unter der Bettdecke überrascht oder mit blonder Perücke bei der Hamlet-Probe der Berliner Schaubühne auftaucht.
 
Filmisch zeichnet sich Schwesterlein durch viele Plansequenzen aus, die mit der Handkamera gedreht wurden. So kommt das intensive, nuancierte Schauspiel von Nina Hoss und Lars Eidinger, das phasenweise an ein Kammerspiel erinnert, besonders gut zur Geltung. Einerseits sind da die intimen Szenen, wenn die Zwillinge miteinander alleine sind, wenn Sven nach einer starken Verschlechterung seines Zustandes vor Schmerzen weinend im Spital liegt und Lisa ihm verspricht, ein Stück für ihn zu verfassen oder wenn sie sich noch auf dem Sterbebett zusammen Szenen für eine Adaption von Hänsel und Gretel ausdenken. Anderseits ist da die verschneite weite Winterlandschaft von Leysin, in der Lisa mit ihrer Familie schlitteln geht und Sven mit Martin zu einem folgeschweren Gleitschirmflug abhebt.
 
Schwesterlein feierte an der 70. Ausgabe der Berlinale seine Premiere, ist als bester Spielfilm für den Europäischen Filmpreis nominiert und der offizielle Schweizer Beitrag für die 93. Academy Awards als bester fremdsprachiger Film.
Simon Meier
*1986, Studium der Kunstgeschichte, Filmwissenschaft und Ethnologie an der Universität Zürich. Längere Sprach- und Forschungsaufenthalte in Louisiana und Neuseeland. Arbeitet als Bildredaktor bei Keystone-SDA. Seit 2011 Mitglied der CINEMA-Redaktion. www.palimpsest.ch
(Stand: 2021)
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