Bei jedem kreativen Prozess wird der Künstler auf sein eigenes Selbst zurückgeworfen. Das daraus resultierende Werk ist nichts anderes als der Ausdruck seiner Gedanken, Erinnerungen, Sehnsüchte und Ambitionen, bedingt durch sein Geschlecht, seine Klassenzugehörigkeit, seine Position in der sozialen Hierarchie und seine kulturelle Prägung. Der französische Schriftsteller André Gide schrieb dazu: «So ähnlich ein Porträt auch sein mag, es zeigt doch immer den Maler, und zwar fast ebenso wie das Modell.»
Dies gilt auch für den Film und den Filmemacher. Bewusst oder unbewusst wird ein Filmthema oft zum eigenen, persönlichen Thema gemacht. Erst durch das Verstehen seiner selbst kann daher der Filmemacher einen Zugang zu seinen Protagonisten finden und sie im Film richtig darstellen. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können und die Empathie im Sinne von Karl Marx als eine Erweiterung der fünf menschlichen Sinne einzusetzen. Mein Dokumentarfilm MIRR handelt von Bauern in Kambodscha. Auch wenn ich selbst zuvor noch nie in Kambodscha gewesen war und weder Kultur noch Sprache meiner Protagonisten/-innen kannte, waren mir letztere von Beginn an vertraut. Ihre Persönlichkeiten und ihre Art, mit existenziellen Problemen umzugehen, berührten mich sehr, und es wurde mir im Verlauf meiner Arbeit immer mehr bewusst, wie sehr dieser Umstand mit meiner eigenen Person und meiner persönlichen Lebensgeschichte zu tun hatte.
Für die Herstellung meines Dokumentarfilms MIRR (Mehdi Sahebi, CH 2016) verbrachte ich insgesamt acht Monate in Kambodscha und lebte bei den Bunong, einem schriftlosen Volk in der Region Mondulkiri im Nordosten von Kambodscha. Die Ursprünge des Films gehen auf ein Forschungsprojekt der Universität Luzern zum Thema Landraub und seine sozialen und politischen Implikationen bei den Bunong in Kambodscha zurück. Ich wurde als Filmemacher mit ethnologischem Hintergrund angefragt, zu diesem Thema einen Film zu drehen. Als ich dann im gleichen Jahr für eine ethnografische ‹Pre-Study› und Filmrecherche zu diesem Projekt nach Kambodscha reiste und bei den Bunong lebte, konnte ich mir ein eigenes Bild von dem höchst brisanten und komplexen Kontext machen, in dem das Vorhaben situiert war.
In Kambodscha hat die gewaltsame Vertreibung und Umsiedlung der Bauern durch Polizei und Militär in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen. Dreiundsiebzig Prozent des anbaufähigen Ackerlandes in Kambodscha sind gegenwärtig bereits als Staatskonzessionen an ausländische Firmen vergeben. Mehr als die Hälfte davon dient alleine der Kautschukgewinnung. Mittlerweile sind eine halbe Million Menschen vom Landraub und den daraus resultierenden Konflikten betroffen.
Die Bunong sind unverhältnismässig stark von Enteignungen betroffen. Obwohl das Recht auf ihr angestammtes Land und dessen Ressourcen völkerrechtlich geschützt ist, wurden auch sie in Massen von ihrem traditionell bewirtschafteten Land vertrieben, um internationalen Grossunternehmen Platz zu machen. Wo sie bis vor Kurzem ihre Felder zur Selbstversorgung bestellten, rollen nun die Planierraupen der Socfin Agricultural Company, eines in Luxemburg registrierten Unternehmens mit belgischen Wurzeln. Die Tier- und Pflanzenwelt wird systematisch zerstört, um den Weg zu ebnen für die Plantagen-Monokultur zur Kautschukgewinnung.
Ein Kautschukbaum produziert über rund fünfundzwanzig Jahre lang den begehrten Rohstoff. Danach jedoch ist der Boden derart ausgelaugt, dass er über einige Generationen hinweg nicht mehr wirtschaftlich nutzbar ist. Was zurückbleibt, sind totes Land und erschöpfte Grundwasserreserven. Der Verlust, den die Bunong damit erleiden, ist ein totaler: Sie verlieren ihre Geschichte, ihre mit dem Land verknüpfte Identität, ihre Würde, ihr Gemeinschaftsgefühl, mithin ihre Kultur. Die Gewinner dieser Umwandlungsprozesse sind die multinationalen Konzerne und die korrupte politische Elite in Kambodscha selbst. Sie und ihre ausführenden Organe streichen den Löwenanteil des Landverkaufs ein, während in der Region der Bunong lediglich bei den Dorf-Chiefs der Khmer sowie den Khmer-Polizeichefs etwas hängen bleibt.
Da viele verschiedene Stellen von den korrupten Deals profitieren, lastet auf diesem Thema ein Tabu. Weder die Vertreter von Socfin noch die kambodschanischen Behörden wollten deshalb für MIRR vor die Kamera treten. Auch das Filmen in den Plantagen wurde mir untersagt. Viele Menschenrechtsaktivisten sowie freie Journalisten und Anwälte, die sich mit dem Thema ‹Land Grabbing› beschäftigen und sich für die Rechte der Kleinbauern einsetzen, müssen mit Verhaftungen und Gefängnisstrafen rechnen. Einige davon bezahlten für ihren Einsatz sogar mit ihrem Leben.
Mein Übersetzer Neth Prak, ein junger Bunong Anfang dreissig, der erst mit sechzehn Jahren lesen und schreiben lernte und zur Zeit meiner Dreharbeiten an der Universität von Phnom Penh Soziologie studierte, wurde häufig von der Polizei vorgeladen und verbalen Drohungen ausgesetzt. Er ist Menschenrechtsaktivist und stets darum bemüht, die Rechte seiner Leute auf legale Weise zu vertreten. Zusammen mit den Bauern im Dorf organisierte er Meetings und kümmerte sich um das Wohl der ärmeren Familien im Dorf. Während der ganzen Dreharbeiten wohnte ich mit ihm im Haus seines Vaters mitten im Dorf von Bou Sra.
Binchey, den Hauptprotagonisten des Films, lernte ich schon am ersten Tag nach meiner Ankunft im Dorf kennen. Im Nachhinein erscheint mir diese Begegnung als geradezu schicksalshaft. Denn während Binchey vom ersten Augenblick an eine starke Anziehung auf mich ausübte, wurde mir mit der Zeit auch immer mehr bewusst, wie viel mich tatsächlich mit diesem Bauern aus Kambodscha verband.
Binchey war damals Anfang fünfzig und Vater von fünf Kindern. Er wohnte in der Nachbarschaft meines Übersetzers Neth. Wie fast alle Bauern im Dorf war er im Begriff, nach und nach alle seine Felder an Socfin zu verlieren. Bis vor Kurzem hatte er noch fünf Felder besessen, doch deren vier waren bereits von Socfin beschlagnahmt und in Kautschukplantagen umgewandelt worden. Inmitten des Konzessionsgeländes von Socfin befand sich nun sein allerletztes Feld, das ihm geblieben war. Ein absurdes Bild, das sich mir darbot: ein einsamer Bauer, der ganz allein auf einem kleinen Feld inmitten von riesigen mit modernen Bewässerungsanlagen ausgerüsteten Plantagen eines Grosskonzerns arbeitete.
Die ersten Aufnahmen mit Binchey drehte ich, während er und seine Familie dieses eine Feld für den Reis- und Gemüseanbau vorbereiteten. Binchey kannte Vertreibung bereits aus seiner Kindheit. Während der Herrschaft der Roten Khmer wurde er zusammen mit vielen anderen Bunong gewaltsam in einen Nachbarsdistrikt umgesiedelt und musste auf Nassreisfeldern arbeiten. Nicht noch einmal wollte er seine Unabhängigkeit auf diese Weise verlieren. Für Binchey und seine Frau Yong war es unvorstellbar, ein Leben als unfreie Plantagenarbeiter zu fristen. Schon nach diesen ersten Aufnahmen auf dem Feld war ich dermassen von Binchey und seiner Familie beeindruckt, dass ich mir den Film nicht mehr ohne sie vorstellen konnte. Ich empfand eine Art Seelenverwandtschaft zu ihnen. Vielleicht hat dies damit zu tun, dass ich in den 1980er-Jahren gezwungen war, aus dem Iran zu flüchten, und in gewisser Weise ebenfalls die Erfahrung gemacht habe, der Heimat beraubt zu werden. Es beeindruckte mich sehr, dass Binchey sich gegen sein Schicksal zu stellen versuchte und nicht klein beigeben wollte. Mit seiner rebellischen Haltung, seinem Versuch, den Umständen zu trotzen und dem vermeintlich Unausweichlichen etwas entgegenzusetzen, konnte ich mich sehr gut identifizieren. Ausserdem war Binchey sehr charismatisch und sprach sehr offen über seine Situation. Immer wieder betonte er, wie wichtig das Land für ihn sei und dass er für dieses Stück Land bereit wäre, sein Leben herzugeben.
Doch nach meiner Rückkehr in die Schweiz musste ich leider erfahren, dass Binchey inzwischen gezwungen worden war, auch sein letztes Feld aufzugeben. Sechs Monate später, auf meiner zweiten Reise nach Kambodscha, suchte ich ihn wieder auf und fand einen gebrochenen Mann vor. Da Binchey nun gar keine Felder mehr besass, verbrachte er die meiste Zeit zu Hause – trinkend. Dass er durch die Umstände, die ihm aufgezwungen worden waren, den Weg der Selbstzerstörung zu gehen begann, erschütterte mich zwar, doch konnte ich dieses Verhalten auch verstehen. Ähnliches habe ich später auch bei anderen Dorfbewohnern beobachtet. Auch wenn es paradox erscheint: Ich hatte den Eindruck, dass sie sich damit ihre Würde bewahren wollten. Selbstzerstörung als Alternative zur Fremdbestimmung.
In der Zeit darauf bin ich oft mit Binchey durch seine ehemaligen Felder gestreift und habe ihn dort gefilmt. Auch bei ihm zu Hause habe ich täglich gefilmt: Alltagssituationen und viele Gespräche mit ihm und seiner Frau. Immer wieder sprach Binchey von seiner Erfahrung, von seinem letzten Feld vertrieben worden zu sein. Da die Vertreibung in meiner Abwesenheit stattgefunden hatte, schlug ich ihm alsbald vor, diese Szene im Film nachzustellen.
Zu dieser Zeit wusste ich bereits, dass ich mein ursprüngliches Konzept ändern musste. Denn unter den gegebenen Umständen war es mir nicht möglich, einen klassischen Dokumentarfilm zu drehen. Weder war ich zugegen, wenn Schlüsselereignisse stattfanden, noch waren Vertreter der Kautschukplantagen bereit, vor die Kamera zu treten. Ich musste und wollte mich also auf die Bauern im Dorf und vor allem auf meinen Hauptprotagonisten Binchey konzentrieren und die Geschichte ihrer Vertreibung aus ihrer subjektiven Sicht erzählen. Basierend auf diversen Gesprächen mit den Bauern im Dorf, begann ich eine Art Drehbuch zu schreiben. Mein neues Konzept bestand darin, mit meinen Protagonisten Szenen aus ihrem Leben nachzustellen. Die Bauern sollten ihr eigenes tragisches Schicksal und ihre Erfahrungen in Schlüsselszenen wieder zum Leben erwecken. Deswegen trainierten wir sie in ‹Schauspiel› und inszenierten erlebte Szenen, die mir meine Protagonisten schilderten. Es sollten Szenen sein, welche für sie besonders einschneidend waren.
Die intensive Zusammenarbeit mit meinen Protagonisten fand ich sehr inspirierend, und nach und nach bezog ich das ganze Dorf in diesen Prozess mit ein. So entstand die Versammlungsszene, in der der Dorfälteste Gllang den anderen Dorfbewohnern von meinem Projekt erzählt und vorschlägt, dass das ganze Dorf mich unterstützen soll. Diese Szene war rein dokumentarisch gedreht. Doch schon als ich sie am drehen war, wusste ich, dass sie eine Ebene des Films werden würde. Eine Ebene, in der die Dorfgemeinschaft das Filmprojekt und ihre Rolle dabei reflektiert und mit der ich indirekt auch den filmischen Prozess selbst thematisieren konnte. Ich wollte solche Reflexionen im Film unbedingt einbauen, denn einerseits erleichtern sie den Zuschauern den Zugang zu den inszenierten Teilen des Films, helfen sozusagen die Inszenierungen ‹einzuordnen›, und andererseits führen sie auf einer Metaebene zur Vertiefung des Themas.
Es wurde also zu meinem leitenden Interesse als Ethnologe und Filmemacher, die herrschenden Verhältnisse nicht ‹von aussen›, sondern gleichsam ‹aus dem Inneren der heutigen Lebenswelt der Bunong heraus› zu zeigen. Meine Entscheidung, diese radikal subjektive Sichtweise einzunehmen, hatte notwendigerweise zur Folge, dass der globale Kontext von Bincheys Problem im Film nicht ‹erklärt› wird. Nicht zuletzt deshalb, weil die politischen Zusammenhänge, die zur hoffnungslosen Situation von Binchey und seinem Volk geführt hatten, weder von ihm noch dem Grossteil seiner Landsleute überhaupt verstanden wurden.
Doch diese Arbeitsweise führte leider schnell zum Konflikt mit meiner damaligen Produzentin in Zürich, die das neue Konzept nicht ‹dokumentarisch› genug fand. Sie drohte, mich zu entlassen, wenn ich mich nicht an das ursprüngliche Konzept halten würde. Damit ähnelte meine Situation urplötzlich derjenigen der Bauern im Dorf. Ihnen wurde das Feld weggenommen, auf dem sie arbeiteten, und mir drohte man jetzt, meinen Film wegzunehmen. Es folgten Treffen mit den Geldgebern und unzählige Anwaltsbriefe und Mediationen.
In der Tat begibt man sich während der Arbeit an einem Dokumentarfilm immer wieder auf Messers Schneide. Bis zum Ende bleibt vieles unklar. So wie das Leben weist auch der Herstellungsprozess eines Films keine Kontinuität auf und ist zu jedem Zeitpunkt fragil. Jeden Moment kann alles scheitern oder eine völlig unerwartete Wendung nehmen.
Jedes Mal, wenn ich nach Kambodscha ging, war ich beispielsweise unsicher, ob Binchey und die Bauern weiterhin bereit waren, mit mir den Film zu Ende zu drehen. Und ich hätte sie absolut verstanden, wenn sie nicht mehr die Lust und Motivation gehabt hätten, mit der Arbeit fortzufahren. Ich glaube, in ihrer ausweglosen Situation hätte ich Mühe gehabt, meinen Enthusiasmus aufrechtzuerhalten. Denn es war ja bereits klar, dass die an Socfin verlorenen Felder für immer verloren sein würden. Auch ein Film würde daran nichts ändern. Doch der Dorfälteste vertrat die Meinung, dass der Film trotzdem hilfreich sein könnte, indem er die Anliegen der Bauern thematisiert und sie über ihr Dorf hinaus bekannt macht. Auch würde somit zum ersten Mal ein Film in der Sprache der Bunong gedreht werden und die Ereignisse rund um die Landenteignungen könnten so in der Erinnerung kommender Bunong-Generationen erhalten bleiben.
Vertreibungen sind ein zunehmendes Problem unserer Zeit. Was Binchey und die Bauern in Südostasien oder in Afrika derzeit erleben, geschah auch in den USA. Dort wurden aufgrund der Immobilienblase dreissig Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Diese Art der Vertreibung erleben wir auch in Europa. In Ungarn wurde eine Million Menschen Opfer von Zwangsräumungen. Auch in Grossstädten wie Berlin und London werden die Menschen aus den Innenstädten vertrieben. Flüchtlinge aus Kriegs- und Konfliktregionen sind ebenfalls als Vertriebene zu verstehen. Für mich war deshalb der Zustand von Binchey stellvertretend für die Situation von Millionen von Menschen weltweit, die von Vertreibungen unterschiedlicher Art betroffen sind. Wer jemals eine Vertreibung erlebt hat, kann sich daher in Binchey und seinem Seelenzustand wiederfinden – ganz unabhängig von seiner Kultur oder Sprache.
Diese Universalität menschlicher Erfahrungen hat mich bei meiner Arbeit an MIRR besonders fasziniert. Denn auch wenn ich die Sprache der Bunong nicht verstand und dies mein Gefühl der Einsamkeit zu Beginn verstärkte, entwickelte sich mit der Zeit eine starke Verbindung zwischen meinen Protagonisten und mir, die auf gegenseitigem Verständnis jenseits von Worten basierte.
Und auch im Kino ist es letzten Endes nicht anders: Es sind die Gesichter, die die Leinwand füllen, und die Gefühle, die sie ausdrücken, die die Zuschauer viel stärker zu berühren vermögen als Worte. Sinnbildlich antwortete der amerikanische Regisseur John Ford auf die Frage eines Journalisten nach dem Thema seines nächsten Films, er werde in die Wüste gehen und Gesichter filmen.