Amateurbewegungen jeglicher Couleur stellten in der Volksrepublik Polen seit Anfang der 1950er-Jahre eine von Staat und Partei geförderte Form der Freizeitgestaltung für die Arbeiterklasse dar. Die Möglichkeiten der kulturellen Anteilnahme für Laien gehörten in der neuen Gesellschaftsordnung zu den durch die Verfassung verbrieften Rechten.1 Gleichzeitig ermöglichten sie dem Staat, die Freizeitaktivitäten seiner Bürger/-innen zu lenken und zu kanalisieren. In diesem Kontext spielte Kulturpolitik eine zentrale Rolle, bei der es um die Popularisierung von und die Teilnahme an kulturellem Angebot für breite Massen ging. Kulturpolitik bedeutete immer auch Normierung von Produktion, Verbreitung und Rezeption von Kunst und Kultur. Die Auffassung vom Film als Kunst – in Abwandlung der Lenin-Formel Film sei die wichtigste aller Künste – bedingte dabei die ideologische Zielsetzung der kommunistischen Partei, den Arbeitern den Zugang zur elitären Filmpraxis und teuren Filmtechnik zu ebnen. In den staatlich finanzierten Amateurfilmklubs (Amatorskie Kluby Filmowe, kurz AKF) war dies in dem ‹Hobby-Format› 8mm und dem Schmalfilmformat 16mm zu gewährleisten.2 Als Amateure konnten die Arbeiter an das von den Produktionskosten her teure Filmemachen herangeführt werden, das sonst einer schmalen Schicht akademisch ausgebildeter Filmemacher mit Künstlerstatus vorbehalten blieb.3 In Analogie zu den Filmemachern wurden so die Akteure der breiten Amateurfilmbewegung in der Fachöffentlichkeit als Künstler des kleinen Formats behandelt und dadurch auch nobilitiert.4 Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum die Filmamateure in Polen nicht wie ihre Kollegen im Westen Familien- und Urlaubsfilme drehten, sondern ihre Aktivitäten von Dokumentar- über Spiel- und Animations- bis zu Experimentalfilmen auf alle Filmgattungen ausweiteten. Im Verhältnis zu den westlichen Home Movies, die mit der familiären Filmpraxis als Hobby die damit verbundenen Verhaltensweisen und Geschlechterrollen ‹reproduzierten›, hat man es im damaligen Osteuropa mit einem anderen Gebrauchsmodell des Amateurfilms zu tun, das sich durch seine vergesellschafteten Strukturen und abweichende Filmpraxis identifiziert.5 Alle diese Eigenschaften wie kulturelle Partizipation, dezentrale Subventionierung der Filmklubs, freier Zugang zur elitären Filmpraxis und teuren Filmtechnik, formal breites Betätigungsfeld, Nobilitierung als Künstler oder institutionelles Förderungs- und Vertriebssystem bestimmen in Polen die Qualität der Amateurfilmbewegung im Sinne ihrer Beschaffenheit.
Entgegen der ursprünglichen Absicht einer Freizeitbeschäftigung für die Arbeiterklasse entwickelten sich die Klubs jedoch mit der Zeit zu einer Art soziokultureller Nische oder Asyl für ‹Amateure›, die abseits des professionellen Kulturkreislaufs ‹ungefiltert› ästhetisch-thematische Experimente wagen konnten, wie sie in der offiziellen, staatlich hoch dotierten und kontrollierten Kinematografie nicht denkbar gewesen wären. Diese betrafen Genderverhältnisse wie Darstellungen der Sexualität und das Sichtbarmachen marginalisierter sexueller Minderheiten wie der offiziell nicht verbotenen, aber völlig tabuisierten Homosexualität, aber auch politische Tabus und explizit formale Experimente. Und hier liegt eine Qualität der Filmklubs in Polen begründet, die den Amateuren einen sozialen und kulturellen Freiraum für gewagte, kritische, subversive und experimentelle Filme boten. Auffällig ist dabei der starke gesellschaftliche Bezug vieler Amateurfilme, in denen Themen wie Konsumwünsche, Arbeitsbedingungen, Mangelwirtschaft, Ökologie, gesellschaftliche Widersprüche resp. Proteste oder Jugendsubkultur aufgegriffen wurden.
Enthusiasten unter staatlichem Mäzenatentum
Mit der Gründung des AKF «Śląsk» 1953 in Katowice (damals Stalinogród) begann die Amateurfilmbewegung in Polen. Die Finanzierung der Klubs übernahmen regional grosse Industriebetriebe, Jugendorganisationen, akademische Institutionen und lokale Kulturträger wie die städtischen bzw. regionalen Kulturhäuser. Damit waren vor allem in den grossen Betrieben spezifische Erwartungen an deren Nutzniesser gerichtet: Zu den Pflichtübungen der Mitglieder gehörte es, Jubiläums- und Betriebsfeiern, politische Umzüge oder öffentliche Grossereignisse auf Zelluloid festzuhalten. Nach dem ‹Polnischen Oktober›6 1956 und der damit einhergehenden Entstalinisierung im Kulturleben und der Lockerung der Zensur verzeichneten die bestehenden und rasch neu hinzukommenden Filmklubs einen massiven Mitgliederzuwachs. Auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten 1974 zählte die Amateurfilmbewegung 348 Klubs, die im Durchschnitt je 15 bis 20 Filme im Jahr produzierten. Folglich bildete sie eine Massenbewegung von Enthusiasten, die ihre Klubs als ein Reservoir ungeahnter Möglichkeiten betrachteten. Während sich für die Arbeiter in der Provinz die Filmklubs zu einem alternativen Wirkungsraum für ihre Freizeitbeschäftigungen entwickelten, nutzten in den Grossstädten auch Studenten, Akademiker und angehende Künstler ihre Infrastruktur. In der Anfangsphase der Bewegung waren auffällig viele später international bekannt gewordene Filmemacher in den Klubs aktiv, darunter die Animationsregisseure Walerian Borowczyk, Mirosław Kijowski, Daniel Szczechura und Piotr Kamler, der Avantgarde-Künstler und Experimentalfilmer Józef Robakowski oder Krzysztof Zanussi.
Der 1956 gegründete Verband der Amateurfilmklubs FAKF (Federacja Amatorskich Klubów Filmowych) trat 1957 dem Weltverband der Filmamateure UNICA (Union Internationale du Cinéma non-professionnel) bei, vernetzte sich international mit Klubs in der ČSSR, BRD, in Ungarn und Österreich, richtete sogar 1975 in Toruń den Weltkongress und alljährlichen Wettbewerb der UNICA aus. Der Koordination der Amateurfilmbewegung diente von Anfang an eine dichtmaschig entwickelte Struktur, die potenziell auch die Ausübung der Kontrolle ermöglichte. Ein veritables Verwaltungs-, Förderungs- und Distributionssystem entstand: mit staatlichen Beratungsstellen wie «Centralna Poradnia Amatorskiego Ruchu Artystycznego» (Zentrale Beratungsstelle der künstlerischen Amateurbewegung), die den Filmamateuren bei den Festivalteilnahmen im Ausland, der Festivalbeschickung oder Filmpräsentationen half; oder mit «Centralny Ośrodek Metodyki Upowszechniania Kultury» (Zentrale Methodikstelle der Kulturverbreitung), einem Staatsorgan, zu dessen Aufgaben u. a. die Herausgabe mehrerer Editionen anleitender Ratgeberliteratur gehörte, von der Technik über die Praxis des Filmemachens bis hin zu Ästhetik, Dramaturgie und Genres. Auch für eine Teilöffentlichkeit wurde gesorgt: In den Fachzeitschriften Fotografia und Kinotechnik gab es zwei monatliche Beilagen für den Amateurfilm mit Festivalberichten, Technik-Neuheiten, Porträts von Filmamateuren und Ausschreibungen für Preiswettbewerbe.
Manche Filmklubs wie AKF «im. A. Munka» in Sosnowiec und AKF «Śląsk» gaben eigene Periodika heraus, andere organisierten überregionale, betriebsinterne oder spezialisierte Festivals. Das älteste unter ihnen, OKFA, «Ogólnopolski Konkurs Filmów Amatorskich» (Polnischer Landesweiter Wettbewerb der Amateurfilme), wurde bereits 1953 gegründet und abwechselnd an unterschiedlichen Orten ausgetragen. 1965 gliederte man aus seinem Wettbewerb die 8mm-Schmalfilme aus und gründete im südpolnischen Kurort Polanica Zdrój für diese Sparte das Filmfestival «POL 8». Der Fachverband organisierte vor allem in den 1970er-Jahren, der Dekade der Filmamateure in Polen, unzählige thematische Festivals: für Touristik- und Meerfilme, Filme der Metallindustrie-Arbeiter, «Fabuła» (Story) für Spielfilme, «Publicystyka» (Publizistik) für gesellschaftlich engagierte Dokumentarfilme, «Kochać człowieka » (Den Menschen lieben) für soziale Sujets oder «Dozwolone do 21» (Erlaubt bis 21) für junge Nachwuchstalente. Formell blieben die staatlich subventionierten Amateurfilmklubs bis zur Wende 1989/1990 bestehen. De facto verloren sie nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 rasant an Bedeutung. Sie wurden von der privat, kommerziell oder im politischen Untergrund genutzten Video-Technik ins Abseits gedrängt, die billiger, wesentlich einfacher zu nutzen und als Medium noch besser geeignet war, mögliche Zensurmassnahmen zu umgehen.
Charme der Glaubwürdigkeit
Heute existieren die meisten der Amateurfilmklubs aus jener Zeit nicht mehr, sodass die Beschäftigung mit ihnen auf eine Art historische ‹Feldforschung› und mediengeschichtliche Archäologie hinausläuft. Dieser Befund trifft gleichermassen auf die Amateurfilme zu, die in den knapp dreissig Jahren zwischen der Gründung des ersten Amateurfilmklubs 1953 und der Ausrufung des Kriegszustands 1981 zu Tausenden entstanden, grösstenteils aber in den Wirren der Transformationszeit nach 1989 verloren gegangen sind. Ein kleiner Korpus von circa sechzig Filmen aus den wichtigsten Amateurfilmklubs ist seit einigen Jahren im Muzeum Sztuki Nowoczesnej (Museum für moderne Kunst) in Warschau als visuelles Archiv wieder verfügbar. Die Sammlung geht auf die Ausstellung Enthusiasts. From Amateur Film Clubs des britischen Künstlerpaares Marysia Lewandowska und Neil Cummings zurück, die 2004 im Centrum Sztuki Współczesnej Zamek Ujazdowski (Zentrum für zeitgenössische Kunst, Ujazdowski-Schloss) in Warschau und später in der Whitechapel Gallery in London, bei KunstWerke Berlin und in der Tàpies Foundation in Barcelona zu sehen war. Als The Enthusiasts Archive ist sie in die Bestände der National Gallery of Art in Washington D.C. aufgenommen und 2014 im Rahmen der Filmreihe Artists, Amateurs, Alternative Spaces: Experimental Cinema in Eastern Europe, 1960–1990 vorgestellt worden.
Im Hauptprogramm der Reihe liefen sechs Filme. Darunter zwei Animationen: Humbug (Gerald Piszczek/Michał Kuczmiński, AKF «iks», Mikołów 1970), eine Autoritarismusparabel, die den Polit-Neusprech bei ritualisierten öffentlichen Feiern und Umzügen der Lächerlichkeit preisgibt, und Razem (Zusammen, Krzysztof Janicki/Marek Barań ski, AKF «Grundwald», Olsztyn 1977), ein Drei-Minuten-Bildwitz mit sich zu einem logoartigen Emblem des Aufbegehrens formierenden Vektoren, der beissende politische Kritik an mangelndem Rückhalt des kommunistischen Systems in der Bevölkerung als spielerische Animation tarnt. Nonkonformistische Sensibilitäten, wie es im Programm der Reihe hiess, wiesen auch zwei Dokumentarfilme auf: Syzyfowie (Sisyphusse, Tadeusz Wudzki, AKF «Wiedza», Warschau 1971) über ‹martialische› Arbeitsbedingungen bei der Asphaltierung einer Strasse und Symbioza (Symbiose, Tadeusz Junak, STK «Rotunda», Krakau 1969), eine Impression über die Arbeit an einer Spinnmaschine, die ein entfremdendes Verschmelzen von Mensch und Maschine zeigt. Im experimentellen Short Funkcja (Funktion, Zdzisław Zinczuk, AKF «Awa», Poznań 1981) geht es in einer einzigen Einstellung um diverse Funktionen des Mundes, der popartig als Zuführungskanal des Körpers dargestellt wird, und in Dotknąć dźwięku (Den Sound berühren, Darek Skubal/Zdzisław Zinczuk, AKF «Awa», Poznań 1981) um exzessive Jugendrebellion zu Klängen elektronischer Musik bei einem alternativen Open-Air-Festival vor der Ausrufung des Kriegszustands 1981. Auffallend dabei ist, dass die Amateurfilme hier ebenbürtig neben den Werken von Dušan Makavejev und Jonas Mekas, den Kurzfilmen osteuropäischer Avantgarde-Künstler und Dokumentaristen der polnischen wie auch jugoslawischen ‹Schwarzen Serie› oder den Arbeiten polnischer Videokünstler wie Zbigniew Rybczyński oder Józef Robakowski präsentiert wurden.
Dies wirft die Frage nach der Qualität des Amateurfilms im Allgemeinen und der von Filmen der polnischen Amateure im Besonderen auf. Bevor der Amateurfilm in der letzten Dekade eine Aufwertung als Teil des kulturellen Erbes erlebt hat, was auch zur verstärkten Sammlungstätigkeit der Archive geführt hat, galt er als naiv und formal ‹unzulänglich›.7 Diese unfertig wirkende Gattung assoziiert man mit grobkörnigen Schmalfilmformaten, unkontrollierten Kameraschwenks, verwackelten und unscharfen Bildern, Bildaussetzern bis -fehlern, disparaten Momentaufnahmen oder unzusammenhängenden Szenen. Versehen im Fall des Home Movies mit der sozialen Funktion, durch Erinnerungsbilder den familiären Zusammenhalt zu stärken, schien sie lange keinen ästhetischen Wert zu besitzen und von geringem kulturellem Interesse zu sein. Der zunehmende Einsatz von ‹Amateurfilmästhetiken› in Musikvideos und Werbespots, die konjunkturelle Verwendung von Amateurfilmmaterial in historischen TV-Dokumentationen sowie die schiere Omnipräsenz von Privatem auf Internetportalen haben den Amateurfilm zu einem Phänomen der visuellen Kultur der Gegenwart werden lassen und in der Forschung ein «Umschlagen von Quantität in Qualität» bewirkt.8 So legen die Visual Culture Studies ein besonderes Augenmerk auf Formen von Bildlichkeit, die nie einem Kanon zugehörten und ausserhalb des professionellen Bildumlaufs entstanden sind wie etwa Amateurfilme. Und die Visual History hat dazu beigetragen, Amateurfilme als historische Quellen anzusehen und zu untersuchen. Einerseits wegen ihrer ‹autarken› Produktionsweise: Es sind keine professionellen Auftragsarbeiten, die in einen vorgegebenen Diskurs eingebettet sind, sondern kulturelle Produkte einer Freizeitbeschäftigung. Andererseits wegen ihrer flexiblen Gebrauchsweisen: von der Ausrüstung mit den kleinen portablen Schmalfilmkameras über die relativ ‹spontane› Umsetzung bis hin zu eigenen, ‹internen›, nicht kommerziellen Vorführpraktiken.
Die in Washington gezeigten Amateurfilme lassen sich um den Kontext der in Polen der 1970er-Jahre starken Experimentalfilm-Szene erweitern, die unter dem Einfluss von Konzeptkunst, Fluxus-Künstlern und Andy Warhols Factory-Filmen die Entwicklungen der Avantgarde in Echtzeit nachvollzog. Zu deren Merkmalen gehörte der Rückgriff auf Amateurapparate und -ästhetiken wegen des angestrebten ‹Authentizitäts›-Effekts. Dilettantismus besass den Charme der Glaubwürdigkeit. Bei diesen Anleihen im Amateurfilmbereich ging es um die Vermessung der Freiheitsräume in einer totalitären Gesellschaft und um die eigene Selbstbestimmung, wie etwa im Umkreis der an die Filmhochschule Łódź seit 1971 angedockten Warsztaty Formy Filmowej (Werkstätte der Filmform). Einer ihrer wichtigsten Akteure, Józef Robakowski, kam selbst aus der Amateurfilmbewegung, vom AKF «Pętla» in Toruń, wo er in den 1960er-Jahren die erste Keimzelle seiner Filmexperimente und die Foto-Künstlergruppe «Zero ’61» mitbegründet hatte. Die Staatsorgane beachteten die Aktivitäten der Gruppe kaum, was Robakowski heute darauf zurückführt, dass die Aufsichts- und Zensurbehörden die Künstler für Filmamateure hielten, also für ungefährliche Dilettanten.9
Qualität des Aussenseiterblicks: Körper und Erotik
Dass die Amateure die Klubs in ein Refugium der Kreativität und selbstbestimmter Freizeitgestaltung verwandeln konnten, dürften die vielen Amateurfilm-Festivals mit ihrer reichlichen Ausbeute bezeugen. Davon erzählt auch der Film Amator (Der Filmamateur, PL 1979) von Krzysztof Kieślowski, der die Gründung eines betriebsinternen Amateurfilmklubs als einen beinahe zufälligen Initiationsvorgang zeigt und das Heranreifen eines Freizeitfilmers zu einem Künstler nachzeichnet. Sein Wandlungsprozess zwischen öffentlicher und privater Sphäre führt den Filmamateur von der anfänglichen Faszination für die ungeahnten Möglichkeiten des Mediums Film bis zur ‹Illumination› des Finales, als er – den Determinanten des sozialen Lebens ausgesetzt – auch dessen Grenzen erkennt: von den verlorenen Illusionen des Enthusiasten zur gewonnenen Reife des Künstlers. Das reale Vorbild des Filmamateurs von Kieślowski lieferte Franciszek Dzida, der 1969 mit seinem Bruder Jan Dzida in Chybie, einem kleinen Ort in Südpolen, den Filmamateurklub «Klaps» (Die Klappe) gegründet hatte, finanziert von der dort ansässigen Zuckerfabrik. Kieślowski kam mit der Amateurfilmbewegung als Juror einiger Amateurfestivals in Berührung. Er bat den damals in Amateurkreisen bereits bekannten Dzida die Geschichte seines Klubs niederzuschreiben. Diese Vorlage bildete die Basis des Drehbuchs zum Kinofilm Der Filmamateur. Was Kieślowski an Dzidas Filmen besonders fasziniert haben soll, war dessen offener Umgang mit dem Thema Sexualität, die wegen der prüden, mit der katholischen Kirche fast deckungsgleichen Sexualmoral des kommunistischen Parteiapparates in der Öffentlichkeit verdrängt wurde.10
In der offiziellen Kinematografie marginalisierte Motive wie Erotik oder erlebnisbedingte Gruppendynamik, durch deren Prisma Geschlechterverhältnisse gespiegelt werden, kamen in Dzidas ‹erotischem Provinzkino› ab 1970 auf. Sie trugen dazu bei, dass man seine Amateurfilme als Zeugnisse verdrängter oder vernachlässigter Aspekte der Alltagsgeschichte in Polen und eines generationsspezifischen Erfahrungshorizonts betrachten kann. In Motyle (Schmetterlinge, AKF «Klaps», Chybie 1971) evoziert Dzida einen imaginierten ‹Summer of Love› in einer Kleinstadt. Psycheodelische Flower-Power-Fantasien einiger Mittzwanziger von endlosem Trinken, Tanzen und Sex gipfeln in einem Waldausflug zweier Paare, die enthemmt durch Alkohol und Musik eine Sexorgie feiern, untermalt von einem wilden Rocksoundtrack. An der Grenze zwischen Wunschtraum und Realität wiederholt Impreza (Party, AKF «Klaps», Chybie 1972) dieses Szenario unter den Bedingungen einer Studentenparty. Während ein schüchterner Student vergeblich versucht, Lernstoff zu pauken, flirtet und tanzt sein Mitbewohner bei einem Trinkgelage mit mehreren Frauen, die sich mit dem steigenden Alkoholpegel sukzessiv ihrer Kleider entledigen und immer freizügiger benehmen. Je erotisch aufgeladener die Party wird, desto mehr gibt sich der Student seinen Wunschträumen von sexueller Eroberung durch eine der Frauen hin, die sich als reine Sexfantasie erweisen. Przez lustro (Durch den Spiegel, AKF «Klaps», Chybie 1985) widmet sich einem früheren Liebespaar, das sich wieder begegnet und dank alter Fotos, Briefe und Erinnerungen die Gefühle füreinander neu belebt. Mit schockierender Intimität bricht sich körperliche Leidenschaft Bahn, durch erotische Zärtlichkeiten bar jeglicher Pornografie, selten in dieser exponiert ‹hautnahen› Form in einem Film zu sehen.
Dem Erotik-Kino zuzurechnen ist auch Engelbert Krals A czy my to jacy tacy ... (Sind wir nicht cool oder was?, AKF «Alchemik», Kędzierzyn-Koź le 1974/75), eine Satire auf unerfüllbare Konsumwünsche, die die Verführung einer Frau bei einem Date mittels fingierter Westware witzig bis pointiert durch die Kritik an westlicher Werbung, medialem Glamour und Markenfetischismus konterkariert. Der Film ist stark angereichert mit materialen, sozialen und kulturellen Informationen über seine Zeit, die nicht nur für Historiker/-innen Aufschlüsse darüber liefern dürften, welche vorwiegend westdeutschen Zeitschriften und Konsumgüter damals in Polen im Umlauf waren. Hautnah dran ist auch Tadeusz Wudzki – am Gesicht einer Frau, die sich ihrem Make-up widmet – in seinem erotischen Poem Anatomia (Anatomie, AKF «Pegaz», Warschau 1974). Einstellungen in einem extremen Close-up auf Mund, Augen, Fleisch, Zigarettenglimmen, Rauch oder Make-up-Utensilien, begleitet von einem verstärkten Soundtrack des Make-up-Auflegens, nehmen eine aussergewöhnliche Materialität an. Ewa i mąż (Ewa und ihr Mann, AKF «Alka», Puck) des Ehepaares Krystyna und Józef Czoska steuert schliesslich eine skurrile Satire auf Gender-Stereotype bei. In der Eingangsszene sieht man morgens ein Paar im Bett. Zu Klängen von Easy-Listening-Musik verwandelt sich der Mann in einen humanoiden Roboter. In Umkehrung der Geschlechterrollen agiert er, wieder in seiner menschlichen Gestalt, als ‹Sklave› seiner Frau. Den ganzen Tag erfüllt er im Haushalt alle ihre Wünsche, nur nachts wird er im Bett von einem weichen Plüschtier ersetzt, nachdem er sich erneut in den Roboter verwandelt hat und von der Frau in einem Alkoven abgestellt worden ist. Die demonstrative Subversion gilt hier der patriarchalen Institution der Ehe mit ihrer scheinbar unumstösslichen Genderordnung, die durch die ‹verkehrte› Hierarchisierung wie in einem Zerrspiegel sichtbar gemacht wird.
Die Filme der Enthusiasten konnten geradezu tabubrechend sein, wofür die fiktionalen Arbeiten von Jan Janusz Bujak (AKF «im. A. Munka» in Sosnowiec) und Piotr Majdrowicz (AKF «Awa» in Poznań) stehen, den beiden Protagonisten eines 16mm-Schwulenkinos, welches in der Teilöffentlichkeit des OKFA-Festivals von den Jurys mit Preisen bedacht wurde. Ein Befund, der insofern erstaunt, als dass in dem herrschenden Realsozialismus das Verhältnis zur Homosexualität nicht nur von politischen Dogmen des kommunistischen Systems, sondern auch durch die homophobe Dominanz katholischer Traditionen bestimmt war. Homosexuelle Handlungen wurden zwar bereits 1932 legalisiert, bis 1989 galt Homosexualität allerdings offiziell als eingetragene Krankheit. Das Leben der Schwulen war von Feindseligkeit und Intoleranz durch ihre Umgebung geprägt. Obwohl die Homosexualität nicht verboten war, wurde sie gesellschaftlich tabuisiert und vom Staatsapparat dazu genutzt, missliebige Personen zu diffamieren.11 Die Schwulenszene wurde seit Mitte der 1960er-Jahre von der Volksmiliz beobachtet. In den 1970er-Jahren legte die polnische Staatssicherheit die ersten Dossiers mit Belastungsmaterial gegen Homosexuelle und ihr Umfeld an, was schliesslich in der Aktion «Hiacynt» gipfelte, der flächendeckenden Erfassung von Homosexuellen in einer zentralen Datenkartei der Volksmiliz.12
Die öffentliche Tabuisierung erstreckte sich auch auf die offizielle Kinematografie. Erst Ende der 1970er-Jahre kam die Homosexualität vereinzelt in der Kunst und in den Amateurfilmen zum Vorschein wie in Bujaks Toń (Die Tiefe, 1978) und in Majdrowiczs Nieporozumienie (Das Missverständnis, 1978), Spojrzenie (Der Blick, 1979) oder Niepokoje (Unruhezustände, 1985). Die Filme thematisierten die inneren, durch soziale Abwertung und Ablehnung ausgelösten Konflikte, die Wahrnehmung des eigenen Andersseins oder die gesellschaftliche Ausgrenzung von schwulen Männern. In der (Film-)Amateurnische konnten sie dem homosexuellen Begehren einen Ausdruck verleihen wie der Spielfilm Das Missverständnis, in dem ein politisch explosives Sujet mit viel Empathie für den Protagonisten erzählt wird.13 Einen jungen Mann, der sich dem Objekt seiner Begierde, einem jungen Sprintläufer, mit einer Fotokamera nähert: ihn im Stadion fotografiert und unbemerkt in der Umziehkabine beobachtet. Ein verdoppelter voyeuristischer Blick, der mediatisierte des Protagonisten beim Fotografieren und der des Filmamateurs durch die Kamera, vermittelt dem Zuschauer die Sehnsucht des Liebenden. Unter dem Vorwand, klassische Männerstatuen fotografisch nachbilden zu wollen, überredet er den Sportler, für ihn nackt zu posieren. In dieser emotional intensiven Szene betrachten sie zusammen homoerotisch aufgeladene Bilder männlicher Körper aus der antiken Klassik und Renaissance (den Diskobol, Michelangelos David). Eine kaum zufällige Reverenz an Andy Warhols und Paul Morrisseys Film Flesh (USA 1969), der einen ähnlichen Moment enthält. Als der junge Mann aber dem ‹Geliebten› seine Gefühle offenbart, wird er schroff abgewiesen. Es ist ein Akt der Selbsterniedrigung, der in brutaler Gewalt eskaliert. Eine verbotene Liebe, die der Protagonist nicht zu überwinden vermag und wegen der er Gefahr läuft, im Affekt den Sportler bei einer zufälligen Begegnung im Park zu töten.14
«Die Filme der Filmklub-Künstler über Liebe und Erotik», so der Kunsthistoriker Paweł Leszkowicz, «untergraben die offizielle Geschlechter-Politik der Partei, die sozialistische Sexphobie und Prüderie. Enthalten sind auch erste Zeichen einer Pluralisierung von Sexualität und sexueller Revolution, die in Polen in den 1960er- und 1970er-Jahren in diffuser Weise anzutreffen war. Die Filme betreffen die Krise der sozialistischen ‹Kleinfamilie› und heterosexueller Ehepaare mit ihren traditionellen Geschlechterrollen, sie zeigen eine orgiastische Befreiung durch Gruppensex, thematisieren homosexuelle Beziehungen, Jugendsubkulturen und erfüllen das Medium Film mit Körperlichkeit und Erotik. Das Amateurfilmmaterial scheint [...] ein bescheidenes Pendant des erotischen Experimentalfilms des Westens zu sein.»15
Community der Gleichgesinnten
Die Amateurfilmklubs konnten diesen ‹Qualitäts›-Modus nur erreichen, weil sie sich in einer Grauzone zwischen kritischer Praxis und staatlicher Reglementierung angesiedelt hatten. Aus der Sicht der Machthaber erschienen ihre Aktivitäten ungefährlich, hatten sie doch ihre Filme für die Teilöffentlichkeit eher marginaler Gemeinschaften (Amateurfilmfestivals, -klubs, -verbände) produziert. Sie hatten ihren Platz als Akteure einer Amateurkinematografie gefunden, die von den Anforderungen an professionelle Produktionen und Parteirichtlinien unbehelligt blieb. Die Freizeitfilmer hielten sich meist von der Politik fern; dies garantierte ihnen gewisse Freiheiten. Im Glauben, Kunst und Ideologie könnten getrennt werden, erklärte Franciszek Dzida: «Wir haben uns nie mit Politik befasst, denn ich glaube an die Reinheit der Kunst. Ich mag keine Kunst, die sich einer politischen Richtung zuwendet, welcher auch immer. Hier im Klub waren manchmal 40 Leute, und wir haben nicht über Politik, sondern über Kunst diskutiert.»16 Natürlich agierten die Filmamateure nicht frei von politisch-gesellschaftlichen Zwängen, sowohl was die potenziellen Restriktionen durch den Parteiapparat betraf als auch den eigenen Anspruch, ambitionierte Filme zu machen. Ein individueller Anspruch, der wiederum an die ideologisch propagierten Vorgaben des politischen Systems rückgekoppelt war, dem Volk die Errungenschaften der Bildung und der Kunst angedeihen zu lassen. In Interviews verweisen die ‹Enthusiasten› auf ihre bewusst apolitische Haltung, aber auch darauf, welche Kompromisse notwendig waren, um unter den Bedingungen des Systems arbeiten zu können: etwa die Pflicht, staatliche Umzüge und Feierlichkeiten filmisch aufzuzeichnen oder Erklärungen abzugeben, um sich den Eingriffen von Parteisekretären wegen unzureichender ideologischer Qualität zu entziehen. Damit war noch eine ökonomische Paradoxie verbunden. Der Zwang etwa, die Umzüge zum 1. Mai zu dokumentieren, führte in der von der Partei kontrollierten Wirklichkeit je nach Perspektive zu Beschaffungskreativität oder -kriminalität: Der Aufwand, der dem Filmen vorausging, wie die Bestellung von ausreichend Filmmaterial oder die Arbeit mit drei Kameras, sowie das spätere Desinteresse der Offiziellen für das gedrehte Material, die nur an der Präsenz der Medien, aber nicht an dem Endresultat interessiert waren, begünstigten eine Schattenwirtschaft. Man bestellte mehr Material, bestückte damit aber nur eine Kamera, während die anderen zum Schein im Leerlaufbetrieb eingesetzt wurden. Den auf diese Weise gewonnenen Überschuss an Filmmaterial konnte man für die eigenen Arbeiten verwenden. Letztlich verdankte also das subversive Amateurkino seine Existenz den 1.-Mai-Umzügen.17
Der subversive Charakter dieses Kinos bestand gerade darin, marginalisierte Motive wie Erotik und Sexualität, von einem Darstellungsverbot betroffene Themen wie Homosexualität oder die Verkehrtheit scheinbar unumstösslicher Geschlechterordnung wie am Beispiel der patriarchalen Institution der Ehe sichtbar zu machen. Auch Widersprüche und Tabus des politischen Systems wie unzumutbare bis ausbeuterische Arbeitsbedingungen und ignorierte Umweltverschmutzung, Mangelwirtschaft und nicht erfüllbare Konsumwünsche, auf Indoktrination abzielende Sprachrituale oder Massenproteste des «Solidarność»-Umbruchs und massive Repressionsmassnahmen des Staates wurden unmittelbar dokumentiert bzw. formal verdeckt ausgelotet.
Die Amateurfilme entstanden nicht nur jenseits der offiziellen Produktions- und Vertriebsstrukturen, sondern hatten auch eine stark integrierende bis identitätsstiftende Wirkung nach innen, in die Amateurfilmbewegung hinein. Diese beiden Merkmale rücken die Subkultur der Amateure in die Nähe des ‹Untergrunds›. Viele der Filmklubs bestanden aus Gleichgesinnten: gemeinsam drehte man Filme, zeigte, schaute und diskutierte eigene und ausländische Arbeiten, feierte Premieren und organisierte Veranstaltungen. Doch die Aktivitäten der Enthusiasten waren auf lokaler Ebene angesiedelt: Die Filme richteten sich vor allem an die nächste Umgebung und schufen so eine Art Gemeinschaft.18 Diese lokale Komponente, getragen von privater Motivation und gruppenspezifischen Initiativen, ruft Assoziationen an die ‹Local Films› aus den Anfängen des Kinos hervor, zu denen auch die Filme der Brüder Lumière gerechnet werden. Mit dem urban-modernen Underground der Filmavantgarde hatten die Amateure ihr Engagement im Rahmen einer kreativen Bezugsgruppe gemeinsam. Ihre kommunitären Betätigungen gewannen jedoch durch das Umdefinieren der Beziehung zwischen Arbeit und Freizeit einen spezifisch politischen Charakter: Denn die Gemeinschaft, an der die in den Amateurklubs vom Staat organisierten Laien partizipierten, war zwar durch Enthusiasmus und Leidenschaft geprägt. Erst der Amateurstatus erlaubte ihnen aber, mit eigener Stimme zu reden, in ihren Filmen marginalisierte und verdrängte Themen sichtbar zu machen. «Es muss betont werden», so Franciszek Dzida, «dass dieser Ort, der Klub, dank des Zelluloids ein Ort war, wo eine andere Welt herrschte … Es war ein magischer Ort. Diejenigen, die damals kamen, waren sich bewusst, dass sie hier in eine andere Realität eintauchten, dass das, was man hier machte, die wirkliche, von uns geschaffene Welt war. Daher die Vorliebe für Spielfilm und weniger für Dokumentarfilm, der eine Dramaturgie nur begrenzt erlaubte. Hierher kam man wie an einen sicheren Ort […]. Hier war man nicht einfach Schlosser, hier war man kein Elektriker, hier war man Künstler. Und das unabhängig davon, wie gut man das Handwerkszeug beherrschte, hier war man Künstler im Sinne von Persönlichkeit. Hier wollte man etwas ausdrücken, hier hatte man etwas zu sagen.»19 Und diese Atmosphäre der Klubs, an diesem Ort etwas über eigene Wünsche und Träume erzählen und zu sich selbst finden zu können, war wohl deren entscheidende Qualität.