Der aus Vevey stammende Filmemacher Jean-François Amiguet erprobt immer wieder neue Formen zu ganz unterschiedlichen Stoffen. In seinem letzten Kinodokumentarfilm, Au sud des nuages (2003), begleitete er Walliser Bauern nach Peking, nun hat er mit Sauvage wieder ins Spielfilmfach gewechselt. Den Berg-Menschen ist er dabei treu geblieben – genauer gesagt: einem abgeschiedenen Leben in den Bergen, wie es Bernard (Jean-Luc Bideau) führt. Zu ihm hinauf in die einsame Hütte inmitten einer lebensfeindlichen, überwältigenden Landschaft – die Gelegenheit zu grossartigen, beinahe mythisch wirkenden Bergbildern bietet – verschlägt es Adriana (Clémentine Beaugrand). Ihr wurde von der Polizei in Genf nach wiederholten Diebstählen ein Ultimatum gestellt: Entweder verschwinde sie aus der Stadt, oder sie lande im Gefängnis. Dennoch führt sie ihr nächster Gang über das Dach einer Villa, aus der sie ein wertvolles Fabergé-Ei klaut. Auf der Flucht in die Berge, wo sie sich der Grossfahndung mit dem Überqueren der Landesgrenze entziehen will, begegnet Adriana dem Eremiten Bernard.
Dass sich zwischen der einer Wildkatze ähnelnden jungen Vagabundin und dem einsilbigen Hütten-Wolf nach anfänglichem misstrauischem Beschnuppern eine Art Einverständnis und gar eine Trost spendende Freundschaft entwickelt, ist allerdings sehr absehbar. Und in ähnlich wenig überraschender Weise werden aufgeworfene Fragen am Ende aufgelöst. Amiguet verzichtet zwar auf eine allzu detailreiche Psychologisierung in diesem Kammerspiel, das übrigens weitere Figuren fast durchwegs mit ihren Stimmen aus dem Off auftreten lässt. Und doch gibt er genug Hinweise, um für seine Protagonisten je eine spezifische und wenig überraschende Erlösung finden zu können: Bernard wird von seinen schweren Schuldgefühlen erlöst und stirbt, während die zeichnerisch begabte Adriana nach gelungener Flucht in den Süden ihre Zukunft in der Kunst findet. Aussteiger- und Lagerfeuerromantik mischt sich da mit einigen Kitschmomenten; in der Hinsicht ist Sauvage ein recht konventioneller Film. Was das Drehbuch in einer allzu schematischen Dramaturgie vorgibt, lässt das ungleiche Schauspielerduo aber zeitweise vergessen: Die beiden überzeugen als Einsame, die ihre Unabhängigkeit ohne Rücksicht auf Verluste verteidigen; neben Bideaus stoischer Bärbeissigkeit markiert Beaugrand zwischen Verstocktheit und Fürsorge eine starke, facettenreiche Leinwandpräsenz.