SANDRA GYSI

... AUS ÄGYPTEN

FILMBRIEF

Vor Jahren klärte mich ein Kairoer Filmemacher und Freund über die unübersichtliche Situation mit der Zensur in Ägypten auf. Wer einen Film drehen will, kommt um diese Behörde nicht herum, das war allgemein bekannt. Meine Idee eines eigenen Kino-Dokumentarfilmes, der in Ägypten gedreht werden sollte, begann sich gerade langsam zu konkretisieren. Ich wollte mich frühzeitig informieren.

Es gibt die Zensur-Abteilung, die für ägyptische Produktionen zuständig ist, dann gibt es eine andere, die für ausländische Filmproduktionen verantwortlich ist. Doch was bedeutet das genau? Am besten war es, mit einer Vertretung dieser Behörde in Kontakt zu treten. So kam es, dass ich gemeinsam mit jenem Freund im Garten eines legendären Kaffees in Downtown Kairo sass und wartete. – Eine Frau mittleren Alters setzte sich zu uns, modern gekleidet. Eine Vertreterin dieser so einflussreichen und strengen Behörde hatte ich mir anders vorgestellt. Zumindest ein prüfender Blick, zumindest etwas abweisend. Doch sie war äusserst freundlich und kooperativ und erklärte uns, was sie brauchte. Zuerst benötige sie das Drehbuch in englischer Sprache, das sie dann prüfe. Später den Drehplan mit den Drehorten, die sie kontrolliere. Wenn der Film tatsächlich gedreht werde und sie die Drehbewilligung ausgestellt hätte, werde sie oder ein Kollege den Dreh begleiten. Sie würden auch keinen Einfluss nehmen auf die Dreharbeiten, nur beobachtend zur Seite stehen, und vor allem: Es sollten nur die positiven Seiten des Landes gezeigt werden.

Nach dieser aufschlussreichen Sitzung war klar: Am besten, der Film handelt von der Grossartigkeit der Pyramiden, den wunderbaren orientalischen Gassen und den schönen Nil-Landschaften. Das Leben selbst soll im Film nicht vorkommen. Ein Werbefilm sollte es sein. Doch das war nicht mein Plan.

Es ist mir noch gut in Erinnerung, wie ein Theaterschauspieler von seinen aufregenden Dreharbeiten für seinen ersten Spielfilm berichtete. Eine im ägyptischen Kino einzigartige Rolle dürfe er spielen, erzählte er geheimnisvoll. Das war Ende der 90er-Jahre, und ich kam gerade wieder nach Kairo, als der Film im Kino startete. Ich zögerte keinen Moment, diesen Freund nun als Filmschauspieler zu sehen. Der Kinosaal verdunkelte sich, und die Leinwand füllte sich mit der obligaten, von Hand geschriebenen Bewilligung der Zensurbehörde. Dann begann der Film. Gebannt folgte ich der Handlung, immer darauf bedacht, den durch gutes Make-up möglicherweise nicht auf den ersten Blick erkennbaren Freund zu entdecken. Nach der Hälfte des Films war er noch immer nicht erschienen und ich vermutete, dass er eine wichtige Rolle im zweiten Teil der Geschichte spielen würde. Der Film ging jedoch ohne ihn zu Ende. Wo war er geblieben? War ich im falschen Film? Doch dann: Sein Name erschien im Abspann. Kaum aus dem Kino, rief ich ihn an. Mit zerknirschter Stimme erzählte er, dass seine Rolle die eines schwulen Polizisten war. Doch Homosexuelle gibt es offiziell in Ägypten nicht und schwule Polizisten schon gar nicht. So wurden seine Szenen auf Order der Zensur kurzerhand aus dem Film geschnitten, und ich musste einige Jahre warten, bis ich ihn dann doch zum ersten Mal auf der Leinwand bewundern durfte.

Ägypten beherbergt eine der grössten Filmindustrien der Welt, «Hollywood am Nil» wird Kairo gerne genannt. Obwohl die Anzahl der grossen Produktionen in den letzten Jahren geringer geworden ist, dominieren ägyptische Filme nach wie vor den arabischen Markt. Neben der hiesigen Musikindustrie ist es der ägyptische Film, der den ägyptischen Dialekt zur Lingua Franca des Arabischen gemacht hat. Doch freie Produktionen waren kaum möglich, der Staat hatte seine Finger im Spiel und das bedeutete im Allgemeinen: Zensur und Kommerz. Und trotzdem war es gerade der Kommerz, der eine Lockerung der Zensur herbeiführte.

Omaret Yakobean (Der Jakubijân-Bau, 2006), das Regie-Debüt von Marwan Hamed, war und ist wahrscheinlich noch heute eine der teuersten und gleichzeitig kommerziell erfolgreichsten Filmproduktionen Ägyptens. Die Geschichte nach dem gleichnamigen Roman von Alaa al-Aswani ist in den 90er-Jahren angesiedelt und dreht sich um ein typisches Haus in Downtown Kairo und um seine Bewohner, die sich immer mehr im Unglück verstricken. Sie repräsentieren einen exemplarischen Querschnitt durch alle möglichen Facetten der vorrevolutionären Gesellschaft. Unter den Intellektuellen Kairos wurde das Buch und später auch der Film heftig diskutiert und kritisiert, weil sie die Gesellschaft zu klischiert wiedergäben. Trotzdem: Hoch anzurechnen sind Buch und Film, dass sie vor Tabuthemen wie sexuellen Übergriffen, Homosexualität, Korruption, Terrorismus, Folter oder Vetternwirtschaft nicht Halt machen und diese ohne stellvertretende Symbolik zeigen. Das Publikum im Kairoer Kino war begeistert von der mit grosser Starbesetzung inszenierten «Film-Lokomotive» und quittierte die Szenen, die den homosexuellen Verleger und sein schreckliches Ende zeigen, mit vielen Lachern. Das nicht, weil diese besonders lustig wären, sondern eher um zu überspielen, wie peinlich die Szenen berührten.

Omaret Yakobean war der erfolgreichste Beweis dafür, dass sich die Zensur gelockert hatte. Der Erfolg des Romans, der damals unter mutigen Bedingungen veröffentlicht wurde, und die gross angerührte Filmproduktion schafften eine gewisse Immunität. Trotzdem kann die Trivialität des Films nicht befriedigen, und einigen der grossen Stars, allen voran dem Schauspieler Adel Imam (geb. 1940), der hier die Rolle des älteren, im Ausland ausgebildeten und vor allem an Frauen interessierten Zaki Pasha spielt, möchte man nicht nur auf der Leinwand möglichst nicht mehr begegnen. Ein Jahr zuvor sah ich ihn in der Komödie El Safara fi el Amara (Die Botschaft im Gebäude, 2005) im Kino. Sie versprach, ein Versuch zu sein, die sensible Beziehung zwischen Israel und Ägypten zu thematisieren. Ein ägyptischer Petrol-Ingenieur und Frauenheld kommt nach vielen Jahren Arbeit in Dubai wohlhabend zurück nach Kairo. In der Zeit seiner Abwesenheit hat sich die israelische Botschaft in das Hochhaus, in dem sich seine Wohnung befindet, eingemietet. Die Idee dahinter: Durch ihren Standort in einem ansonsten von Ägyptern bewohnten Haus will sich die Botschaft vor Anschlägen schützen. Die Hauptrolle wird von einem in die Jahre gekommenen Adel Imam gespielt, der mit vielen Gesichtsverrenkungen den älteren, lüsternen Geschäftsmann spielt und sich mit dem Checkpoint in seinem Hauseingang konfrontiert sieht, wenn er Damenbesuch empfängt. Der Plot ist plump, der Humor kaum nachvollziehbar. Schade, denn ein Spiel mit den zahlreichen gegenseitigen Vorurteilen hätte interessant sein können. Der israelische Botschafter versuchte beim Kulturministerium ein Verbot des Films durch die Zensur zu erreichen, nicht zuletzt, weil seine Person im Film dargestellt ist. Doch die Zensur bewilligte den Film, der letztlich das Image der damaligen Regierung beim Volk aufpolieren wollte. – Adel Imam, der als junger Schauspieler einige durchaus gute Rollen spielte, ist unterdessen einer der teuersten und wohl beliebtesten Komiker des Landes, ja des gesamten arabischen Raumes. Heute, einige Monate nach der Revolution, kämpft er um sein Ansehen, war er doch jahrelang gut Freund mit dem alten Regime.

2009 erschien die Komödie Bedoun Reqaba von Hassan Ramzy. Der Name ist Programm: Ohne Zensur. Der Film bleibt zwar ohne erkennbare Handlung, ein Kinoerlebnis war es trotzdem. Während auf der Leinwand junge Männer das Studentenleben geniessen und dabei ohne Ende Bier trinken, Haschisch rauchen und jungen Frauen hinterherblicken, herrscht im Kino eisige Kälte: Hier schmilzt Eis-Crème nicht, und es ist ratsam, trotz den hochsommerlichen Temperaturen draussen eine wärmende Jacke dabei zu haben. Das Kinopublikum geht erstaunlich mit dem Film mit, lacht unentwegt und scheint den lauten Nonsens zu geniessen. Plötzlich taucht aus dem Dunkel ein Aufpasser auf, begibt sich zielstrebig zu den hinteren Rängen und verschwindet mit einem jungen Liebespaar im Ausgang. Was auf der Leinwand passiert, ist im richtigen Leben (noch) nicht erlaubt. Die beiden haben das Dunkel des Kinosaales genutzt, um Händchen zu halten. Das ist verboten, und es folgt neben der Schmach eine kleine Geldstrafe. Das war dann auch der Moment, selber das Kino zu verlassen.

Komödien sind bislang das meistproduzierte Genre in Ägypten, und der Kinobesuch ist nach wie vor ein Familienerlebnis für gross, klein und sehr klein; egal, ob in der Nachmittags- oder Mitternachtsvorstellung. Es heisst, jeder in Ägypten produzierte Kinofilm, und zwar nicht nur Komödien, schreibe schwarze Zahlen, obwohl die staatliche Förderung lediglich aus Steuervergünstigungen für die Branche besteht. Der arabische Markt ist derart gross – er zieht sich von Marokko bis hin zu den Golfstaaten – und jeder Film wird nach der Kinoauswertung an zumindest einige der Hunderten von arabischen TV- und Satellitensendern verkauft. Trotzdem wagten sich bisher die meisten der Produktionsfirmen nur an grosse Filme mit bekannten Namen.

Im gleichen Jahr als der Film Bedoun Reqaba (Ohne Zensur) in die Kinos kam, sollte auch unser Dokumentarfilm in Ägypten gedreht werden. Alles war bereit, nur die Drehbewilligung fehlte. Den bereits geknüpften Kontakt zur Zensurbehörde wollte ich nicht auffrischen, schien sich doch unterdessen einiges geändert zu haben. Der Co-Regisseur und ich mobilisierten unsere Freunde in der ägyptischen Filmbranche. Schnell wurden uns Assistenten vermittelt, die uns unterstützen wollten, jedoch nach einer ersten Kontaktaufnahme plötzlich wie vom Erdboden verschluckt schienen und unsere Anrufe nicht mehr entgegennahmen, was einer Kündigung des Auftrages gleichkam. Eine Firma, die spezialisiert war für die Organisation von Drehbewilligungen für ausländische Crews, schickte uns eine Offerte. Ihre Arbeit hätte aber mehr als die Hälfte des Drehbudgets geschluckt und war daher keine zu erwägende Alternative. Die Zeit drängte, und so begaben wir uns selbst in den Bürokratie-Dschungel. Mit einigem Glück und – unbescheiden ausgedrückt – viel Geschick gelang es uns, rechtzeitig alle Papiere mit allen notwendigen Stempeln bereit zu haben. Während der Dreharbeiten waren anstelle der Zensurbehörde die lokale Polizei und die Tourismus-Polizei anwesend, die uns nicht nur durch die vielen Checkpoints im Süden von Ägypten lotsten, sondern uns wider Erwarten nie im Wege standen und uns bei unserer Arbeit sogar unterstützten.

Anspruchsvolles Autorenkino wird neben den Komödien dennoch produziert, beispielsweise von der Produktionsfirma MISR International Films. Es sind dies Filme der grossen Altmeister des ägyptischen Films wie Youssef Chahine (1926–2008), der diese Produktionsfirma gründete, des um einiges jüngeren Yousry Nasrallah (geb. 1952) und weiteren Filmemachern, die einen anderen filmischen Weg gingen als der ägyptische Mainstream. Ihre Filme entstanden und entstehen oft in Koproduktion mit Europa, vor allem Frankreich, und sind längst nicht so erfolgreich auf dem arabischen Markt. Oft sind diese Filme nur kurz in den ägyptischen Kinos zu sehen, manche werden von der Zensur nicht oder erst Jahre später freigegeben. Sie finden aber ab und an den Weg in die europäischen Kinos und schreiben teils gar internationale Filmgeschichte.

Dass MISR International Films auch hervorragende Dokumentarfilme produziert, erfuhr ich unlängst am Filmfestival hot docs in Toronto, wo ich Zelal (Schattenwürfe. 2010) von Marianne Khoury und Mustapha Hasnaoui sah. In ihrem Dokumentarfilm porträtieren sie mit beobachtender Kamera die Insassen einer der grössten psychiatrischen Anstalten Kairos, sprich Ägyptens. Es sind von der Gesellschaft Ausgestossene – die meisten haben den Kontakt zu ihrer Familie verloren – die schon seit Jahren, Jahrzehnten in dieser Anstalt leben. Der Film geht behutsam mit dem Thema um, lässt Frauen und Männer von ihrem tristen Alltag und ihren Sorgen erzählen. Während des Filmes beginnt man sich zu fragen, wer eigentlich krank ist, die in der Anstalt oder jene ausserhalb. – Ein grossartiger, feinfühliger Film, der an einigen wichtigen internationalen Filmfestivals gezeigt wurde. Das ist erfreulich und der Plan der Regisseure scheint aufzugehen: Erst ein internationaler Erfolg gibt dem Film die notwendige Bedeutung, um ihn auch in Ägypten öffentlich zeigen zu können. In Kairo wurde dieser Film aber – wohl vor allem auch wegen mangelndem Interesse des Publikums – bis jetzt nur einem ausgewählten, internationalen Publikum gezeigt.

Dokumentarfilme haben es grundsätzlich schwer in Ägypten. Ihr Image wird bestimmt von den mehr schlecht als recht gemachten Fernsehdokumentationen über die Zeit der Pharaonen und ihre Kulturgüter, über die Schönheit des Landes, die Sonnenseiten des Lebens. Dokumentarfilme haben deshalb den Ruf, langweilig zu sein, und der «andere» Dokumentarfilm schafft es kaum, sein Publikum zu finden. Umso wichtiger sind die Filmfestivals, doch die diesjährige Ausgabe des Ismailia International Festival for Documentary & Short Films am Suez-Kanal, ein staatlich organisierter Event, ist wegen der Revol­u­tion erst einmal abgesagt. Das gleiche Schicksal ereilte auch das Cairo International Filmfestival, das im Herbst 2011 nicht stattfinden wird, da es immer schon ein «kulturelles Vorzeigeereignis» der abgetretenen Regierung gewesen sei. Es sind aber nun einige private Initiativen im Gange, durch neue oder neu positionierte Festivals auch dem unabhängigen Dokumentarfilm und Autorenfilm eine angemessene Plattform zu geben. Auch unser Film, der unterdessen international Aufmerksamkeit erhielt, wird Ende 2011 an einem solchen Festi­val in Kairo gezeigt. So findet er erfreulicherweise seinen Weg zurück in das Land, in dem er gedreht wurde.

Seit einigen Jahren finden auch Autorenfilme im Kino einige Beachtung. Daoud Abdel Sayed (geb. 1946) gehört der älteren Generation von unabhängigen Filmemachern an, er realisierte seinen ersten Film bereits 1985. Seine Filmografie weist einige herausragende Werke auf, unter ihnen Ard el-Khof (Land der Angst, 1999), in welchem der viel zu früh verstorbene, grossartige Ahmed Zaki (1949–2005) als Agent von der Regierung «under cover» in die Drogenmafia eingeschleust wird. Doch bald muss er feststellen, dass sein Auftraggeber in der Regierung ausgewechselt wurde, und niemand mehr von seiner Mission zu wissen scheint. Daoud Abdel Sayyed hat sich nach neun Jahren Pause im letzten Jahr mit dem Film Rassayel el-Bahr (Nachricht vom Meer, 2010) zurückgemeldet. Und wie: Yehia, hervorragend gespielt vom jungen, noch kaum bekannten Schauspieler Asser Yassin, stottert, wenn er mit den Menschen spricht; aber nicht, wenn er Selbstgespräche führt. Als studierter Arzt findet er mit seinem Handikap keine Arbeit. Nach dem Tod seiner Mutter verlässt er Kairo und geht zurück in das Haus seiner Kindheit in Alexandria. Dort sieht er sich, selber mittellos, konfrontiert mit dem verloren gegangenen Glamour der einst multikulturellen Stadt und der neuen Engstirnigkeit ihrer Bewohner. Yehia ist ein leiser Held und das nicht nur, weil ihm das Sprechen grosse Mühe bereitet. Die Geschichte des Films ist nicht auf Höhepunkte angelegt, sondern zeigt anhand seiner Protagonisten verschiedene Lebensentwürfe: Das Leben passiert einfach – und man schaut ihm gerne zu.

Jede Frau, die regelmässig in Kairo einen öffentlichen Bus besteigt, kennt es: Er ist überfüllt und nur wer mutig drängt, kann sich befördern lassen. Bei jedem Halt gibt es ein Gedränge durch den Mittelgang, bis die Fahrgäste wieder eng eingepfercht die Fahrt fortsetzen. Und plötzlich etwas Hartes am Oberschenkel. Kann es sein, dass dies ein in Aufruhr geratenes männliches Glied ist? Besser, es nicht so genau zu wissen. Besser, nicht zu schauen, wer es sein könnte. Es sei weise, sich nicht zu wehren und nichts zu sagen, wird allenthalben geraten. Zu schnell wird die Schuld auf die Frau geschoben, die diese körperliche Erregung durch ihr Äusseres provoziere. Genau diese Situation zeigt der Film 678 (2010) des jungen Regisseurs Mohamed Diab. Die Zahl entspricht der Nummer des Busses, mit der eine junge Frau jeden Tag zur Arbeit fährt. Und jeden Tag passiert ihr das Gleiche, bis sie eines Tages mit einem Messer bewaffnet, ohne zu schauen, wen es trifft, zusticht. Die Ironie ist, dass in der Männerwelt des Films der eigenartige Sport zur Mode geworden ist, eine dieser kleinen, runden ägyptischen Zitronen in die Hosen- oder die Seitentasche der Gallabayia zu stecken und sich mit ihr an den Schenkeln von Frauen zu reiben. Diese junge Frau – sie trägt ein Kopftuch: der Vorwand, sie provoziere mit ihren körperlichen Reizen, funktioniert also nicht – wehrt sich. Gemeinsam mit ihren Freundinnen sucht sie nach Gerechtigkeit im täglichen Kampf gegen sexuelle Belästigung. Und vor allem: Sie brechen das Schweigen. Bintein men misr (Zwei junge Frauen aus Ägypten, 2010) von Mohamed Amin reflektiert ein weiteres Tabuthema: ältere, unverheiratete Frauen in der modernen, ägyptischen Gesellschaft. Unter «älter» sind wohlgemerkt Frauen um die dreissig zu verstehen, denn in Ägypten wird mehrheitlich noch immer sehr jung geheiratet. Ihr Handicap: Sie sind gut ausgebildet, intellektuell und finden deshalb keinen passenden Lebensgefährten. Sie sind Jungfrauen und ihre Versuche, den Mann fürs Lebens zu finden, werden von vielen Frustrationen begleitet. Sie nutzen die neuen Medien, chatten, gehen an Blind Dates. Die Treffen sind jedoch ernüchternd. Endlich findet eine der beiden in einem der Chat-Räume eine sympathische Seele, vertrauliche Telefongespräche folgen – schon bald treffen sie sich und verstehen sich auf Anhieb. Doch es stellt sich heraus, dass er Regimekritiker ist und damit ebenso wie sie am Rande der Gesellschaft steht. Bei ihrem ersten Date muss sie mitansehen, wie er von der Polizei abgeführt wird.

Bintein men misr trifft den Nerv der Zeit, den Nerv des modernen Ägyptens. Von Konservativen wird er heftig kritisiert: Der Film verunglimpfe das Bild ägyptischer Frauen und fördere die Unmoral im Land. Er solle verboten werden. Die Zensur jedoch hat den Film zugelassen. Der gleiche Regisseur realisierte bereits mit Film sakafi (Kulturfilm, 2001) einen Film, in welchem er mit viel Humor das gesellschaftliche System kritisierte, welches das intime Zusammenleben zwischen Frauen und Männern erschwert. Mit «Kulturfilm» sind pornografische Filme gemeint, die junge Ägypter aus mangelnden Möglichkeiten, das Sexualleben zu erproben, im Versteckten anschauen. Die drei Hauptfiguren erleben einige witzige Abenteuer, bis sie ein TV-Gerät, einen Video-Player und nicht zuletzt einen geeigneten Ort finden, um die Kulturfilme anzuschauen. Während der Regisseur Mohamed Amin in seinem ersten Film Männer ins Zentrum rückt, sind es bei Bintein men misr die Frauen.

Im Jahr 2011 sorgte der Film Microphone von Ahmad Abdalla (geb. 1978) für einigen Wirbel, vor allem auch, weil er verschiedene Preise an internationalen Festivals gewann. Der Film handelt von der Musik- und Skateboard-Szene in Alexandria und ist eine Mischung aus Fiktion und Dokumentarfilm. Die Musikerinnen und Musiker spielten sich selbst, gedreht wurde an Originalschauplätzen. Im Sommer 2011 war seine Spielzeit in den Kairoer Kinos bereits abgelaufen und ich verpasste ihn. Das Kino gegenüber meiner Wohnung, das mit dem Plakat von Microphone wirbt, hat seine Tore für immer geschlossen. Die Billett-Verkäuferin des einzigen Kinos, das den Film gemäss Kinoprogramm in Kairo noch zeigt, meint am Telefon: «Der Film lief nur kurz und ist schon seit Wochen abgesetzt.» Die anderen Kinos werben vorwiegend mit schrillen Komödien, die wie jedes Jahr auch diesen Kinosommer zu bestimmen scheinen. Doch in dieser Saison ist alles anders. Es ist die erste nach dem 25. Januar 2011, dem Tag, an dem die ägyptische Revolution begann. Diesen Sommer kamen zwar gleich viele Filme neu ins Kino wie zur selben Zeit im Vorjahr, doch die Einnahmen sind verschwindend klein. Das hat verschiedene Gründe. Die Realisierung einiger der grossen ägyptischen Produktionen wurde während der Revolution vorübergehend gestoppt. Ins Kino kamen daher nicht wie geplant diese grossen Filme, sondern solche, die für die Nebensaison bestimmt sind. Das Publikum machte da nicht mit. Es wird zudem spekuliert, dass es die neuerdings etwas unsichere Lage in den Strassen Kairos sei, die die Menschen daran hindert, nachts auszugehen. Doch vor allem: Alle sind mit der neuen politischen Situation beschäftigt und diskutieren diese zu Hause oder in Kaffeehäusern, viele gehen nach wie vor auf den Tahrir-Platz, um für ihre Rechte zu kämpfen. Der Gang ins Kino steht kaum mehr auf dem Plan. Gleichzeitig ist die Kinosaison in diesem Sommer besonders kurz, beginnt der Fastenmonat Ramadan bereits Anfang August. Während des Ramadans vergnügen sich die Leute lieber vor dem Fernseher und schauen sich die zahlreichen Soap-Operas an, als dass sie einen Kinobesuch in Erwägung ziehen. Dazu kommen die vielen verschiedenen neuen Talk-Shows, die seit einigen Monaten die Revolution und die Veränderungen im Land thematisieren und die Menschen vor den Fernseher locken. Viele haben entschieden, gewisse Filme aus politischen Gründen nicht anzuschauen. Der grösste Flop in diesem Sommer war die Komödie El-Fil fil Mandil (Der Elefant im Nastuch, 2011). Der Hauptdarsteller, bekannt für seine Pro-Mubarak-Filme, behauptete in einer Talk-Show, er habe beo­bachtet, wie während den 18 Tagen der Revolution auf dem Tahrir-Platz Drogen konsumiert worden waren und Sex gemacht worden war. Sprach er vom unterdessen abgetretenen Präsidenten, füllten sich seine Augen mit Tränen. Er geriet auf die «schwarze Liste» der Revolution und es wurde zu einem Boykott seiner Filme aufgerufen – mit einigem Erfolg. El-Fil fil Mandil wollte sich kaum jemand im Kino ansehen und die Karriere des Schauspielers ist somit wohl beendet.

Auch einem Liebesdrama, das ich in einem fast leeren Kino in Kairo in der Sommersaison 2011 sah, konnte ich wenig abgewinnen, und ich wollte nochmals versuchen, Microphone aufzutreiben. Der ältere Herr vor seinem Kabäuschen mit DVDs und Video-CDs – als wandelndes Filmlexikon mein wichtigster Lieferant von ägyptischen Filmen, die ich im Kino verpasst habe, – beteuert, es gebe Microphone nur als Video-CD, illegal im Kino abgefilmt mit einem Mobiltelefon. Diese wolle er mir nicht verkaufen. Als Beweis für deren schlechte Qualität schiebt er die Video-CD in sein Abspielgerät. Auf dem lotterigen Fernseher erscheint ein wackliges, unscharfes Bild, das immer wieder von Schatten vorbeiziehender Zuschauer gestreift wird. Der Ton des Films scheppert und die Kommentare des Publikums übertönen den in der Ferne zu vernehmenden Originalton. Das ist dann doch zu viel der Authentizität.

Er preist einige der neuen Filme, die ich entweder bereits gesehen habe oder mich nicht interessieren, bis er auf die Revolution zu sprechen kommt. Es gäbe einige Filme zur Revolution. Die Tage auf dem Tahrir-Platz seien dokumentiert worden wie kaum ein anderes Ereignis zuvor, einige Spielfilme befänden sich in Vorbereitung.

Der ältere Mann wendet sich wieder seiner Auslage von DVDs zu. Er werde mir die Revolutionsfilme besorgen, ich solle wieder kommen. Wir können gespannt sein.

Kairo, im August 2011

Die Filmemacherin Sandra Gysi lebt zeitweise in Ägypten und realisiert dort eigene Projekte und Filme. Seit rund 15 Jahren verfolgt sie das ägyptische Filmschaffen in den lokalen Kinos und hat sich ein breites Wissen über die ägyptische Filmgeschichte angeeignet. Sie spricht fliessend Arabisch.

Sandra Gysi
*1969 in Aarau. Studium der Filmwissenschaft und der Ethnologie an der Universität Zürich. Lebt und arbeitet als freie Filmemacherin, Produzentin und Projektmanagerin in Zürich und Ägypten. Realisation zahlreicher Dokumentarfilme. Aktueller Film: Sira – Wenn der Halbmond spricht, www.sira-film.com.
(Stand: 2012)
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