BETTINA SPOERRI

KOPRODUKTIONS-GRENZEN — INTERVIEW MIT MARCEL HOEHN, CHRISTOPH SCHAUB

ESSAY

Im Herbst 2011 fanden die Dreharbeiten zu Christoph Schaubs neuem Spielfilm Nachtlärm (Arbeitstitel) in der Region Zürich und Oberbayern statt. Zu der schweizerischen-deutschen Koproduktion mit einem Gesamtbudget von 4,6 Millionen Franken, bei dem Marcel Hoehns T&C Film AG mit der deutschen X Filme Creative Pool GmbH zusammenarbeitet, hat Martin Suter das Drehbuch geschrieben. Geldgeber sind das Bundesamt für Kultur (BAK), die Zürcher Filmstiftung, das Schweizer Fernsehen SRF, der Teleclub, Suissimage, die ARD, Degeto, der FilmFernsehFonds Bayern (FFF) und die Filmförderanstalt (FFA). In den vier Hauptrollen spielen die deutschen Schauspieler Sebastian Blomberg und Alexandra Maria Lara, die Schweizerin Carol Schuler und der Österreicher Georg Friedrich. In weiteren Rollen sind Andreas Matti und Ingo Ospelt zu sehen. Das folgende Gespräch, das während der Dreharbeiten in Bad Tölz in Oberbayern stattfand und in den Folgetagen noch schriftlich ergänzt wurde, erörtert die Möglichkeiten und Begrenzungen einer solchen grösseren Koproduktion. In welchem Spannungsverhältnis stehen die erweiterten finanziellen Mittel zu den produktionellen Möglichkeiten und den inhaltlichen und künstlerischen Freiheiten? Inwiefern ist ein Film mit majoritärer Schweizer Beteiligung, in Hochdeutsch gesprochen, mit einem europäischen Cast und gedreht an Orten in der Schweiz und in Deutschland noch immer eindeutig ein «Schweizer Film»? Marcel Hoehn, Christoph Schaub und auch Martin Suter haben für Nachtlärm bereits zum wiederholten Male zusammengearbeitet, das Duo-Gespann Hoehn-Schaub kann sogar schon auf eine aussergewöhnlich lange, exemplarische Filmautor-Produzenten-Zusammenarbeit zurückblicken: Was sind die Grenzen und die Chancen solcher langfristiger Partnerschaften in der Filmproduktion? Wie werden Kompetenzen und Arbeitsfelder abgesteckt oder geteilt? – Zum Verständnis einzelner Diskussionspunkte hier noch eine kurze Synopsis der Filmhandlung: Im Laufe einer regnerischen Nacht erlebt das wegen ihres Schreibabys schlaf- und sexlose Paar Livia (Lara) und Marco (Blomberg) eine Tour de Force, um ihr Kind aus den Händen seiner unfreiwilligen Entführer (Schuler, Friedrich) zu befreien. Während einer wilden Verfolgungsjagd gelingt es den beiden, einen falschen Polizisten und andere Bösewichte zu überlisten und ein liegen gebliebenes Auto wieder flott zu machen. Doch können sie so ihre Ehe kitten? Der Morgen wird zeigen, ob das Paar auch sein verlorenes Kind wieder in die Arme schliessen kann. Der Film soll im Herbst 2012 in die Kinos kommen (Verleih: Columbus Film für die Schweiz bzw. X Verleih für Deutschland).

Spoerri: Marcel Hoehn und Christoph Schaub, dies ist das zweite Mal, dass Ihr beide mit einem Drehbuch von Martin Suter arbeitet. Wo ist dieses Projekt und wie die Idee für die Handlung, das Drehbuch entstanden bzw. gab es bestimmte Voraussetzungen und Eckpunkte, die für diese weitere Zusammenarbeit erfüllt sein mussten?

Hoehn: Meine Zusammenarbeit mit Suter, den ich ja noch aus der Werbevergangenheit kenne, geht zurück auf Daniel Schmid bei den Filmen Hors saison und Beresina. Es war vorgesehen, dass Daniel Giulias Verschwinden verfilmt, was aber aus bekannten Gründen leider dann nicht mehr möglich war. Einige Zeit nach Daniels Tod entschieden wir dann, das Drehbuch wieder hervorzunehmen und ich bot es Christoph an. Nach der Piazza-Vorführung von Giulias Verschwinden sagte Martin zu Christoph: ‹Für dich schreibe ich noch einmal ein Drehbuch.› Wir trafen uns zu einem Brainstorming, und Martin erzählte uns den Anfang einer Geschichte mit dem Titel ‹Schreibaby›. Eine Idee, welche er schon längere Zeit mit sich herumtrug. Wir vereinbarten, dass er ein Exposé schreibe, und da Martin sehr strukturiert ist und auf lange Zeit voraus weiss, wann er was macht, rief ich nach einiger Zeit an und fragte ihn, wie weit er mit der Entwicklung der Handlung sei. Er sagte: ‹Ich bin schon in der Mitte des Drehbuchs. Ich kann keine Exposés schreiben, bei mir müssen die Figuren reden.› Die erste Fassung des Drehbuchs wurde die Grundlage für unsere Zusammenarbeit für dieses Projekt.

Schaub: Ich lernte Martin Suter eigentlich erst nach dem Dreh von Giulias Verschwinden so richtig kennen, als der Film schon fast fertig war und wir gemeinsam für die Promotion arbeiteten. Davor gab es Gespräche und E-Mail-Verkehr in Bezug auf die endgültige Drehfassung von Giulias Verschwinden. Bei der Entstehung des Drehbuchs zu Nachtlärm war der Kontakt respektive die Zusammenarbeit viel enger. Für mich war es sehr interessant zu sehen, wie einfach und produktiv er Ideen, Änderungswünsche und Kritiken von unserer Seite aufnehmen und einbauen konnte. Auch wenn Martin natürlich das Drehbuch verfasst hat, war bei diesem Projekt wirklich eine Zusammenarbeit da, und das hat mich sehr beflügelt.

Wo verliefen die inhaltlich-konzeptuellen Grenzen zwischen Autor-Produzenten-Regie in der Stoff-Entwicklung dieses Filmprojekts? Und inwiefern unterscheidet sich die Arbeit mit einem Bestsellerautor wie Martin Suter allenfalls von der Zusammenarbeit mit einem unbekannteren Autor?

Hoehn: Wir trafen uns immer wieder zu Besprechungen zu dritt. Ich habe das als eine Art Pingpong-Spielen empfunden. Eine Zusammenarbeit kann ich mir nicht besser vorstellen als so einen Drehbuchprozess wie mit Martin Suter. Er arbeitet enorm ‹auf den Punkt›, was ich faszinierend finde. Das war auch schon bei Beresina so. Daniel Schmid war auf dem Weg zu Martin nach Guatemala, um eine neue Filmgeschichte zu entwickeln. Ich erzählte ihm von meiner Grundidee, einen Film machen zu wollen, in dem es in der Schweiz einen Staatsstreich gibt. Vier Wochen später kam er mit einem Treatment zurück und sagte: ‹Da hast du deinen Staatsstreich.› Bei unseren Diskussionen zu Nachtlärm ging es meist nicht um Grundsatzfragen oder grosse dramaturgische Probleme, sondern ums Fein-Tuning – allerdings ist das oft gerade entscheidend, insbesondere bei diesem Drehbuch, das sich so sehr auf die emotionalen Schwankungen der beiden Paare konzentriert.

Schaub: Ich glaube, Marcel hat unsere Zusammenarbeit sehr gut beschrieben. Das Dreieck Produzent-Drehbuchautor-Regisseur trägt ja im weitesten Sinn die Hauptverantwortung für das Gelingen eines Films. Alle drei haben verschiedene Aufgaben und Verantwortlichkeiten und müssen trotzdem übergreifend zusammenarbeiten und sich auch gegenseitig Ordnung bzw. Unordnung auf dem Arbeitstisch machen. Ich glaube, man sollte die sich zugeschriebene Rolle gleichzeitig diszipliniert und undiszipliniert spielen. Im Dreieck zwischen Marcel-Martin und mir habe ich das exemplarisch erlebt. Am Schluss geht es um den Film und nicht um einen Anteil, den man für sich beanspruchen will, kann oder soll, auch wenn gleichzeitig jeder am eigenen Resultat gemessen wird.

Wie habt Ihr aus und mit diesem Drehbuch, in dem die Dialoge dominieren, die Vorstellungen von einer visuellen Umsetzung entwickelt? Gibt es Storyboard-Vorgaben?

Hoehn: Martin Suter gibt ja, wie man es mehr bei Amerikanern antrifft, nur ganz knappe Bildbeschreibungen. Christoph hat da viel Raum, um seine eigenen Bilder zu entwickeln. Wir stellten in unseren Gesprächen aber fest, dass wir die Szenen in unserer Fantasie oft in ähnliche Bilder umgesetzt hatten. Wir führen ja dieses Interview hier mitten in der Drehzeit, und wenn vorgestellte Filmbilder Wirklichkeit werden, also wenn das ‹Hochrechnen› in der Fantasie in die tatsächliche Umsetzung kommt, gibt es immer Limiten. In dem Sinne, als Vorstellung und Umsetzung sicher nie ganz identisch sind. Als Produzent muss ich aber nur begreifen – Christoph muss entscheiden. Die Prozesse verselbständigen sich bis zu einem gewissen Grad. Und wenn man beispielsweise auf einer Autobahn dreht, muss man manchmal unmittelbar im Moment Lösungen suchen, wird von Umständen überrascht. Besonders bei diesem Film, der eine grosse Herausforderung für seine Herstellung ist. Ich mache das nun schon lange als Produzent, und doch ertappe ich mich immer wieder in der Begrenztheit, noch mehr vorauszusehen, noch mehr hinter die Sache zu sehen. Diese Begrenzung hat aber auch Vorteile, weil man in der Offenheit und Unsicherheit mehr zulässt, und so bleibt manchmal vielleicht eine gewisse Naivität. Solange man nicht an die Wand fährt, ok ...

Schaub: Die Drehbücher von Martin sind für die Schweiz ungewohnt und daher gab es wohl auch anfänglich Probleme bei der Finanzierung von Giulias Verschwinden, da es oft nur wenig Beschreibung von Ort und Handlung gibt und die Dialoge sozusagen nackt dastehen. Die Schauspieler haben da überhaupt keine Probleme, diese Szenen zu beleben, weil die Dialoge gut gedacht sind. Aber man muss Erfahrung dazu haben und eine emotionale und inszenatorische Fantasie. Ich habe Spass daran, eine Bilderwelt zu ‹erfinden›. Bei Nachtlärm habe ich mit dem Director of Photography Nikolai von Graevenitz eine genaue Auflösung in einem Storyboard entwickelt. Es geht bei diesem Projekt auch nicht anders, da die verschiedenen Herstellungsebenen (Studio, reale Drehorte, in Deutschland und der Schweiz) in ein stimmiges Verhältnis gestellt werden müssen. Das ist ziemlich anspruchsvoll und in dieser Art auch neu für mich. Ein grosser Teil der vielen Autoszenen werden im Studio gedreht, aber meistens in Kombination mit einem Teil der Szene, der in einem realen Dekor gedreht wird. Dann müssen die in Deutschland gedrehten Szenen zu denjenigen aus der Schweiz passen, und nicht zuletzt setzen wir rund zehn Tage eine Second Unit ein, die Bilder ohne Schauspieler macht und einige Actionszenen mit Stuntkoordinator dreht. Alles muss da vorgedacht und kommuniziert sein. Ich komme mir manchmal auch wie ein Ingenieur vor, der schauen muss, dass die Konstruktion hält, respektive einer, der ihre Umsetzung kontrollieren muss. Auch eine sehr technische Arbeit.

Das Drehbuch von Martin Suter gibt eine dichte Handlungsstruktur vor, dazu kommen die vielen Nachtszenen, und die Textvorgabe weist zudem eine Geschlossenheit auf, welche beinahe eine Einheit von Zeit, Aktion und Ort erzeugt. Welche dieser Punkte – oder andere? – bedeuten für Euch besondere Herausforderungen?

Schaub: Das ist eine grosse Herausforderung. Diese Geschlossenheit ist Begrenzung und Freiheit zugleich. Man hat eine kleine Spielwiese mit wenig Spielsachen. Ich finde es sehr spannend, in dieser Reduktion eine Freiheit im Erzählen zu finden. Wie kann man Nacht erzählen? Nacht in der filmischen Darstellung unterscheidet sich vom eigenen Erlebnis. Wir sind daran, eine neue Art von Nacht zu erfinden ..., das Verhältnis von Hell und Dunkel anders zu definieren, als das man es konventioneller Weise in Filmen gewohnt ist. Dieser Ansatz ist auch, aber nicht nur von finanziellen Zwängen bestimmt. Der Entscheid, die Autoszenen im Studio zu drehen, hat mir in der visuellen Umsetzung Freiheiten gegeben, die man sonst nie hat. Ich kann in Bezug auf Auflösung und bildliche Gestaltung der vorbeiziehenden Hintergründe sehr viel mehr machen als bei konventioneller Umsetzung, wo man das Spielauto auf Trailer setzt oder die Kamera auf der Kühlerhaube befestigt und nur dort durchfahren kann, wo es verkehrstechnisch möglich und polizeilich erlaubt ist. Man kann eine bestimmte Stimmung, einen bestimmten Rhythmus etc. generieren und so gestalterisch im Sinne der Szene, der Figuren wirken – was nur in diesem Studioverfahren möglich ist.

Hoehn: Wir haben uns gefragt, ob das wohl geht: Eine Filmhandlung, die fast zur Hälfte in fahrenden Autos spielt. Wir fürchteten, dass sich das vielleicht irgendwann für den Zuschauer erschöpft. Diese Unsicherheit wird wohl bis zum Rohschnitt bleiben. In der Schweiz sind wir uns nicht so gewohnt, derart technische Filme zu machen, weil uns ja oft die Mittel fehlen. Wenn man über eine Landstrasse fährt, sieht man nicht viel, allenfalls zwischendurch ein einzelnes Licht. In Hollywood würden vielleicht ein paar hundert Meter ausgeleuchtet, darum sind dann diese Filme, die in der Nacht spielen, immer so hell. Das wäre für uns schon aus Budgetgründen nicht infrage gekommen, aber wir wollten das auch nicht machen. Aber das Ganze ist durchaus eine Gratwanderung.

Welches sind die Voraussetzungen, Zwänge und Grenzen für diese schweizerisch-deutsche Koproduktion?

Hoehn: Ich wusste von Anfang an, dass dieses Projekt zu teuer würde, um es allein in der Schweiz zu finanzieren. Es war klar, dass das Zusammensetzspiel von hohem technischem Aufwand, vielen Nachtdrehs und gutem Cast allein mit Schweizer Geldern – selbst bei Zusagen von allen Seiten, was wir mit T&C Film ja immer wieder erreicht haben – nicht möglich sein würde. Nüchtern gesagt erstrebt man eine Koproduktion, weil man einen Film finanzieren will. Bei Giulias Verschwinden wollte man mich zu einer Koproduktion zwingen, doch dort wäre es schlicht absurd gewesen, und ich habe das auch mit einer betriebswirtschaftlichen Analyse erklärt ... Aber hier bei Nachtlärm ist die Situation anders, denn der Anteil, den die Koproduktion kostet, steht in einem vertretbaren Verhältnis zu der Summe, welche der Koproduzent einbringt. Anders macht es wirklich keinen Sinn. Der X-Verleih wertete Giulias Verschwinden in Deutschland aus, und so war X-Filme die erste Adresse in Deutschland, an die ich mich für eine Koproduktion gewandt habe – und dann ging alles gleich sehr schnell.

Schaub: Nachtlärm ist mein bis jetzt grösster und teuerster Film. Das Verhältnis von der Menge Geld und Freiheit ist nicht gerade umgekehrt proportional, aber mindestens stehen die Parameter in einem sehr komplizierten Verhältnis. Mehr Produktionsgelder ergeben mehr gestalterische Freiheit, aber mehr strukturelle Einschränkungen und Druckmomente. Die Erkenntnis bleibt: Wie viel Geld man auch immer hat, man hat zu wenig und stösst an Grenzen, die mitunter gleich nervend sind wie bei meinem ersten Film mit 27 Jahren, als ich sozusagen auf ‹No-Budget›-Niveau filmte. Die Kunst bleibt, drastisch ausgedrückt, in einer Gefängniszelle – wie auch immer diese gestaltet ist, und da geht es darum, eine Freiheit zu finden, um sich darin auszudrücken. Freiheit ist ja beim Filmen (oder überhaupt) nie etwas Absolutes – es muss immer gerungen werden, um den für die Geschichte entscheidenden, geforderten und notwendigen Freiraum im Erzählen zu ergattern. Diese Einsicht begleitet mich auch bei dieser schweizerisch-deutschen Koproduktion mit relativ vielen Möglichkeiten.

Die deutsche Filmproduktionsfirma X-Filme steht für junge deutsche, innovative Filme, die Regisseure im Team, Tom Tykwer, Wolfgang Becker und – der ausgewanderte Basler – Dani Levy, haben mit Komödien oder formal experimentelleren Filmen wie Lola rennt Furore gemacht. Was bedeutet es für Euch, mit dieser Produktionsfirma zusammenzuarbeiten?

Hoehn: Das passt gut, denn wir haben eine vergleichbare Philosophie, wollen anspruchsvolle, aber auch unterhaltende Autorenfilme machen.

Schaub: Mich hat es sehr gefreut, dass sich diese Zusammenarbeit etablieren konnte, gerade weil ich sehr viel Respekt vor diesen Regisseuren und deren Filmen habe und ich die Arbeit der X-Filme schon länger aus Distanz mit Inter­esse und ein bisschen Neid verfolge. Ich finde, diese drei Regisseure haben mit dem Produzenten Stefan Arndt zusammen eine einmalige Arbeitskonstellation gefunden, die nicht nur gute und interessante, sondern auch sehr erfolgreiche Filme hervorbrachte. Es wäre schön, es gäbe so was auf diesem Niveau auch in der Schweiz.

In Martin Suters Drehbuch zu Nachtlärm heisst es einmal: ‹In der Schweiz werden doch keine Babys geklaut› – wir befinden uns jetzt aber, wegen der Koproduktionsbedingungen, hier in Oberbayern, wo grössere Teile von Nachtlärm gedreht werden; andere wurden in der Region Zürich gedreht. Wo erweisen sich für euch die Grenzen eines solchen Drehortes, der eine Handlung, die in der Schweiz spielt, fingieren muss? Und was verändert das vielleicht auch an der Identität eines Films bzw. wie bestimmt es sie?

Hoehn: Für mich ist ein Schweizer Film ein Film, bei dem die Entwicklung des Projekts, die kreative und produktionelle Federführung, in den Händen von Schweizern liegt, die ihre Basis in der Schweiz haben. Aber ob der Film in Japan spielt, auf dem Mond oder in der Schweiz, ist nicht entscheidend, sondern dass mich eine Geschichte überzeugt.

Trotzdem ist jener Satz bisher nicht aus dem Drehbuch gestrichen ...

Schaub: Es wäre schade und auch nicht nötig, denn Film ist immer Behauptung. Wir behaupten jetzt, die Geschichte spielt in der Schweiz und haben die nötigen organisatorischen und produktionellen Voraussetzungen dafür geschaffen. Nachtlärm wird ebenso ein Schweizer Film sein wie Giulias Verschwinden. Wir drehen alle jene Aussenaufnahmen in der Schweiz, die das Land genauer definieren: Also wo sich Oberbayern von der Schweiz unterscheidet, der gebauten Schweiz, Architektur im weitesten Sinne. Die Landschafts- und Studioaufnahmen werden hier in Oberbayern gemacht. Solche Aufteilungen werden ja auch auf internationaler Ebene oft gemacht.

Hoehn: Jener Drehbuchsatz ist in dem Sinne auch ein wenig augenzwinkernd gemeint. Das Projekt ist ja eine Schweizer Entwicklung, durch und durch. Wir sagen: Wenn der Zuschauer sehen soll, wo diese Geschichte verankert ist, soll er das Gefühl haben, sie spiele in der Schweiz. Aber es ist doch eine recht universale Geschichte, die da erzählt wird. Trotzdem, wenn sie in der USA oder in der Ukraine spielte, müsste sie anders erzählt werden.

Kann der Film vor allem deshalb auch eine Komödie sein, weil eben in der Schweiz normalerweise keine Babys gestohlen werden?

Hoehn: Genau genommen wird ja das Auto geklaut und nicht das Baby ... Und Marco, der Vater, sagt den Satz, weil er nicht glauben will, was eben passiert ist – und weil er annehmen muss, dass doch das Kind gestohlen worden ist.

Schaub: Das ist zwar ein witziger Satz, aber nicht nur für die Schweizer, sondern auch für die Deutschen, wie ich am Set gemerkt habe. Ich glaube jedoch nicht, dass der Film wegen dieses Satzes eine Komödie ist. Marco versucht lediglich seine Unaufmerksamkeit mit gravierenden Konsequenzen gegenüber seiner Frau so zu ‹entschuldigen›. Es ist einer dieser Dialogsätze im Drehbuch, die im ganzen Stress und dem Horror, dem die beiden Figuren Marco und Livia ausgesetzt sind, für Heiterkeit sorgen soll.

Inwiefern beeinflussten oder veränderten die Koproduktionsbedingungen Eure visuelle Vision in Bezug auf die Auswahl der Schauspielerinnen und Schauspieler? Und wie fiel die Entscheidung, in diesem ‹Schweizer Film› – nach Marcel Hoehns gerade formulierten Kriterien – in Hochdeutsch sprechen zu lassen?

Hoehn: Es gab da natürlich Zwänge, aber wir haben die nicht als solche empfunden. Wir wollten aber vor allem die bestmögliche Besetzung für jede Rolle, auch wenn teilweise Argumente von unseren Unterstützern kamen, beim Cast doch die Zuschauerbindung, die Identifizierung mit bekannten ‹nationalen Ge­sichtern› zu berücksichtigen. Für uns war übrigens klar, dass der Film in Hochdeutsch gesprochen sein würde, weil Martin Suter nicht für Dialektins­zenierungen schreibt – aber Deutsch ist, so steht es in der Schweizer Verfassung, eine offizielle Landessprache. Aber diese Situation erlaubte natürlich auch mehr Auswahl beim Cast, weil wir im ganzen deutschen Sprachraum suchen konnten.

Schaub: Macht man eine Koproduktion und sind auch deutsche Sender dabei, gibt es ja die Auflage, Schauspieler aus dem jeweiligen Land zu nehmen. Ich empfinde dies nicht als Einschränkung, im Gegenteil. Es erlaubt mir, im ganzen deutschsprachigen Raum zu casten und den bestmöglichen, den passendsten bzw. für die spezifische Rolle besten Cast zu finden. Ich empfinde dies als ein grosses Privileg, in diesem Sinne international zu arbeiten. Ich versuche die Besetzungsfrage immer möglichst offen anzugehen, also nicht nach Popularität, Bekanntheit, Nationalität oder ähnlichen Kriterien vorzugehen. Hier kommt man manchmal, wie Marcel sagt, in Konflikt mit den Geldgebern, die gewisse populäre Schauspieler vorziehen, oder denen die Nationalität wichtig ist. Bei Nachtlärm mit eigentlich nur vier Rollen war die Kombination der Schauspieler sehr entscheidend, und es gab einige Diskussionen, wie dieses Quartett zusammengesetzt werden sollte, insbesondere in Bezug auf die Herkunft der Schauspieler. Auch hier gibt es die absolute Freiheit nicht. Man ist zwar frei, in drei deutschsprachigen Ländern zu casten, sich in einem riesigen Markt zu ‹bedienen›, dem gegenüber stehen aber Einschränkungen und Auflagen von Geldgebern respektive Fernsehsendern. Wir haben es aber mit sachbezogenen und umsichtigen Partnern zu tun gehabt, sodass wir für alle Verantwortlichen eine gute Lösung finden konnten. Ich bin jetzt sehr glücklich, denn ich konnte eine eigentliche ‹Traumbesetzung› realisieren.

Das Filmprojekt bewegt sich über verschiedene Genre-Grenzen hinweg – wie geht Ihr mit dieser hybriden Form um? Oder gibt es für Euch eine dominierende Definition, und was bedeutet das für die Inszenierung?

Hoehn: Ja, es ist eine Komödie oder eher gar eine Tragikomödie, ein Thriller, ein Roadmovie ...

... und auch ein Beziehungsfilm ...

Hoehn: Es gibt ja diese Schulmeinung, das Genre müsse eindeutig sein ... Insofern ist Nachtlärm eindeutig grenzgängig, ja –

Schaub: Na ja, für mich ist eine Tragikomödie, ‹Beziehungsfilm› ist ja kein eigentliches Genre. Das Grenzgängige ist ja gerade interessant. Die Genre-Frage ist ja eigentlich nur wichtig für irgendwelche Formulare, die das abfragen. Und dann eben die Lehrmeinung, ein Genre müsse eindeutig sein, um kommerziell erfolgreich zu sein: Es gibt x Beispiele, die das belegen, aber auch ebenso viele, die das Gegenteil belegen. Für mich ist die Genre-Frage nicht wichtig. Vielmehr ist es wichtig, dass man mit den Figuren mitgeht, sich ihnen nahe fühlt, sich für sie interessiert, dass man Spass und Angst hat, eben im weitesten Sinn bewegt wird vom Film. Bei der Inszenierung ist wichtig, den Stil nicht zu wechseln, mit den Schauspielern einen Ausdruck zu finden, eine Emotionslage, die Spannweite für die Geschichte, und dem während der Dreharbeit treu zu bleiben. Dies ist für mich eigentlich die wichtigste Arbeit, in die ich aber auch vor Drehbeginn viel investiere. Das ist viel wichtiger als die Reinheit des Genres.

Bei dieser so grossen Maschine, bei so vielen Beteiligten und einem technisch so anspruchsvollen Film – kann man da überhaupt noch die Kontrolle und den Überblick über alles behalten? Hast Du, Christoph, diesbezüglich bestimmte Strategien entwickelt?

Schaub: Man muss natürlich Vorgaben machen, ein Storyboard ist dazu ein wichtiges Mittel. Man muss, soweit es geht, bei der Auflösung Optionen generieren, sodass man nicht von einer Lösung abhängig ist. Wir haben auch möglichst genaue technische Abklärungen, Tests gemacht, damit wir auf ein solches Wissen aufbauen können. Wir haben gute Spezialisten, die schon bei den Busszenen im Key-Verfahren im Studio bei Giulias Verschwinden verantwortlich waren. Kontrolle ist natürlich auch wichtig. Die macht allerdings nur Sinn, wenn man zum Beispiel beim gedrehten Material der Second Unit über Ressourcen verfügt, etwas zu wiederholen lassen. Diese Ressourcen gibt es aber eigentlich nicht. Gezwungenermassen ist eine Strategie dann auch, Vertrauen zu haben gelassen zu bleiben, sich hinzugeben, was leider nicht so meinem Naturell entspricht. Tatsächlich ist dieser Film in Bezug auf deine Frage eine grosse Herausforderung und neu für mich, wo ich mich extrem gefordert fühle und heilfroh sein werde, wenn am Schluss alles gut kommt. Was ich jetzt, eine Woche vor Drehschluss, weiss: Alle haben gut gearbeitet, und es ist nur wenig auf der Strecke geblieben. Ich freue mich auf die Montage, wo sich auch nochmals neue Dinge auftun und nochmals neue Optionen geschaffen werden können.

Wie viel Raum gibt es für Unvorhergesehenes bei den Dreharbeiten, für neue Einschübe, Variationen der Suter-Drehbuchsätze, allenfalls gar für Improvisationen?

Schaub: Je mehr man zeitlich unter Druck steht, je grösser der technische Impact ist, desto weniger Raum bleibt für Improvisationen. Ich wusste das, so habe ich mich mit den Schauspielern sehr gut vorbereitet und dort Dinge ausprobiert, dazugefügt oder weggelassen. Die Dialoge von Martin Suter sind so gut geschrieben, dass selten das Bedürfnis von mir oder den Schauspielern aufkommt, etwas zu ändern. Es kann vorkommen, aber eben selten. Und wenn ich das Gefühl habe, der neue Vorschlag ist besser, machen wir es.

Seht Ihr das Ende des Films als offenes Ende?

Hoehn: In der Urversion des Drehbuchs schreit das Baby am Ende wieder los – es gab da also nicht so viel Zuversicht. Wenn man, bezogen auf den Subtext der Geschichte, das Baby als Metapher betrachtet und annimmt, dass der Hauptkonflikt zwischen den Erwachsenen am Ende gelöst wäre, müsste das Schreibaby in der Schlussszene vollkommen still sein. Doch solch eindeutige symbolische Botschaften mag ich weniger. Für mich bleibt die Zukunft des Paares offen. Übrigens auch die Figur, die von Carol Schuler gespielt wird: Die kann ja gut singen. Doch das muss nicht heissen, dass man ihr gleich ein konkretes Zukunftsprojekt gibt, dass sie Sängerin werden will oder so – die kann einfach gut singen, die will gar nichts, zumindest vorläufig.

Schaub: Für mich ist das Ende offen. In der Sprache des Dramaturgen: Das Ziel, das ‹goal› des Ehepaars ist erreicht, sie haben ihr Baby wieder. Ihr Bedürfnis (need), eine glückliche Beziehung mit oder trotz des Babys zu haben, ist im reinen Sinn nicht erreicht. Dies müssen sie sich noch erkämpfen. Das haben sie noch vor sich, doch die traumatischen Erfahrungen dieser Nacht erlauben ihnen, das Problem in Zukunft vielleicht anders anzugehen. Livia sagt am Schluss sinngemäss: Ein Kind zu haben, rettet nicht eine Beziehung, aber vielleicht sein Kind wieder zu finden. In diesem Sinn hat diese Nacht für die beiden eine kathartische Wirkung.

Ihr beide arbeitet nun schon seit längerer Zeit immer wieder zusammen, dies ist Euer siebtes gemeinsames Projekt. Welche Veränderungen hat Eure Zusammenarbeit durchlaufen – und gibt es da auch Grenzen, zeitliche und/oder inhaltliche beispielsweise, die Ihr Euch setzt?

Hoehn: Wenn es in einer Konstellation gut funktioniert, bin ich ein treuer Mensch. Nach Jeune Homme entschieden wir uns nicht wieder für eine Komödie, sondern für einen Episodenfilm, Happy New Year. Wie Giulias Verschwinden zustande gekommen ist, habe ich schon erzählt. Und für Nachtlärm haben wir uns wieder für eine ganz andere Geschichte und filmische Ästhetik entschieden. Insofern geht es für mich klar darum, eine Entwicklung zu durchlaufen, in unserer Zusammenarbeit ebenso wie für Christoph als Regisseur, dass er sich in verschiedene Richtungen entfalten kann. Christoph und ich haben bei jedem Projekt immer versucht, wieder etwas anderes zu machen, es gibt immer noch eine Entwicklung – und keine Ermüdung. Es ist so unaufgeregt, es geht um die Sache, wir diskutieren über Inhalte, Lösungen. Christoph versteht auch viel von der produktionellen Seite, was ich sehr schätze; den zum Teil existenten Konflikt Filmautor-Produzent, den gibt es bei uns nicht, wir haben totale Transparenz, das finde ich sehr gut.

Schaub: Die Zusammenarbeit mit Marcel begann vor zwölf Jahren mit dem Dokumentarfilm Die Reisen des Santiago Calatrava, danach haben wir mit Stille Liebe ein Drama gemacht, danach eine Komödie, dann einen weiteren Architekturfilm, dann einen Episodenfilm, dann einen Ensemblefilm und jetzt Nachtlärm, ein weiterer Film ist in Entwicklung. Eine ganze Menge Arbeit zusammen. Die Zusammenarbeit ist über die Jahre enger und tiefer geworden, intensiver, mehr ‹on the long term› und weniger nur für das nächste Projekt. Wenn man sich gut kennt und sich vertraut, gehen die Dinge schneller, und dies macht auch einen schnelleren Output möglich, was für mich wichtig ist, denn eigentlich bin ich sehr ungeduldig und kann schlecht warten. Sehr wichtig ist für mich auch, mich nicht zu wiederholen, bei jedem Spielfilm Neues auszuprobieren. Marcel ist ebenso wenig ideologisch wie ich und wir gehen diesen abwechslungsreichen Weg gemeinsam, in Absprache und auch in der gemeinsamen Diskussion über eine längere Zeitspanne als gerade den nächsten Film. Wohin soll meine Reise noch gehen? Ich finde das wunderbar, dass ich dies in der Partnerschaft mit einem Produzenten diskutieren kann. Mit Marcel habe ich das Rollenspiel zwischen Autor / Regisseur und Produzent begriffen. Es war in meinen Anfängen ja nicht so angelegt. Meine ersten Filme habe ich in einer Gruppe von Autorenproduzenten selber produziert, was ich ab einer gewissen Grösse der Projekte nicht mehr als seriös empfand. In Marcel habe ich einen Produzenten gefunden, der seine Rolle extrem fair, kaufmännisch korrekt und gleichzeitig sehr inhaltlich lebt. So war es für mich auch leicht, meine Rolle als Autor und Regisseur produktiv zu interpretieren und in die Reduktion auf die eine Rolle als produktiv zu empfinden. Ich habe gemerkt, wie viel Freiheit und Ressourcen mir dies gibt, nicht trotz, sondern wegen des disziplinierten Umgangs im Rollenspiel mit definierter Verantwortung und Kompetenzen. Einmal mehr, vielleicht paradox: In der Einschränkung, in der Reduktion findet man in diesem Zusammenhang die künstlerische Freiheit.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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