DORIS SENN

PAS DOUCE (JEANNE WALTZ)

SELECTION CINEMA

Pas douce («Die Unsanfte») ist das Porträt einer jungen Frau, Fréd, die in einer grossen Lebenskrise steckt. Nach aussen hin verschlossen und unnahbar, brodelt es in ihrem Innern wie ein Vulkan vor dem Ausbruch. Als hervorragende Verkörperung dieser kontroversen Figur wählte die Regisseurin Jeanne Waltz die eigenwillige Schönheit Isild Le Besco, deren explosive Innenwelt und innere Zerrissenheit man auf Schritt und Tritt zu erspüren vermag.

Mit wenigen kräftigen Pinselstrichen skizziert die Filmemacherin die Ausgangslage: Fréd an ihrem Arbeitsplatz als einfühlsame Krankenschwester und bei ihrem Hobby, dem Gewehrschiessen. Ihrem Vater, dem sie unerwartet am Schiessstand begegnet, weicht sie zornig aus. Sie gehe fort, bald, teilt sie ihrem Freund in der Folge mit, ohne zu sagen, wohin und flüchtet mit ihrem Gewehr in den nahen Wald. Kurz bevor sie aber die Waffe unter dem eigenen Kinn platziert, wird sie durch den lauten Streit zwischen zwei Jungen aufgescheucht. Im puren Reflex wendet sie das Gewehr von sich ab, um auf den einen, besonders aggressiven, Jugendlichen zu zielen. Am Knie verletzt, landet der 14-Jährige dann ausgerechnet auf ihrer Station im Spital, wo Fréd von nun an im Angesicht des Opfers mit ihrer Tat zu Rande kommen muss.

Selbstmordgedanken, Liebe, Trauer und (neu erwachende) Lebenslust sind Themen, um welche die Filmemacherin bereits ihren Erstlingsfilm Daqui p’rá alegria (2003) kreisen liess. Und wie dort, wo ein lebensmüder junger Mann sich in einer Sackgasse wähnte und durch die Freundschaft mit einem aufgeweckten Mädchen auf der Schwelle zur Erwachsenen buchstäblich vor dem Tod errettet wird, ist es auch in Pas douce die Beziehung zwischen einer jungen Frau und einem Heranwachsenden, die das Leben beider in neue, versöhntere Bahnen weist. Schliesslich sind es gerade die Ähnlichkeiten ihres Wesens und ihrer Situation, die vor allem Fréd beim jüngeren Marco (Steven de Almeida) entdeckt, derentwegen sie sich – nebst ihrem Schuldgefühl – zu ihm hingezogen fühlt. Marco ist ein ebenso sensibler wie aufbrausender Junge, der seine Angst und seine Gefühle vor seiner Umwelt versteckt. Vor allem mit seiner Mutter steht er auf Kriegsfuss, fühlt er sich doch von ihr uneingestanden im Stich gelassen, weil sie die Familie verlassen hat. Im Gegensatz zu Fréd, die sich ebenso stolz und widerspenstig gebärdet wie er, aber alles hinter einer gleichmütigen Fassade verbirgt, versprüht Marco seine ganze Aggressivität nach aussen. Durch ihre Tat öffnet sich ihr wieder eine Türe zum Leben und zu den Menschen hin. Pas douce begleitet sie auf ihrem Weg zu Sühne, Eingeständnis, Verzeihen und zeichnet in einem eindringlichen Drama diesen langen Prozess des inneren Kampfs und der Läuterung nach. Der 35-jährigen Jeanne Waltz gelingt so ein eindringliches Schauspielerinnendrama, das insbesondere durch seine Protagonistin und ihre darstellerische Intensität besticht.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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