Erwachsene tun oft so, als gäbe es eine klare Grenze zwischen Wahrheit und Lüge. Dabei wissen alle aus eigener Erfahrung, dass die beiden Kategorien erstens nahtlos ineinander übergehen, sie zweitens weit davon entfernt sind, eindeutig gut oder böse zu sein – und es drittens eine Rolle spielt, aus welchem Grund Unwahrheiten aufgetischt werden. Diesen komplexen Umgang mit der Realität müssen Kinder erst lernen. Darum dreht sich Tania Zambrano-Ovalles neuer Kurzfilm.
La vérité vraie handelt von einem achtjährigen Jungen, seiner Mutter und seinem Vater. Aus dem Off erzählt der Kleine, wie alles seinen harmonischen Alltagsverlauf nimmt – zumindest bis zu dem Tag, an dem der Vater bei seiner Tätigkeit in der Sägerei eine Hand verliert und arbeitslos wird. Da entdeckt der Vater als neues Hobby das Kino und die Filme Charlie Chaplins. Im Kreise der kleinen Familie imitiert er dann jeweils die Tricks des grossen Komikers und sorgt so für viel Heiterkeit. Doch die Idylle endet abrupt, als er eines Tages in aller Früh aufbricht – um nie wieder nach Hause zu kommen. Was sich erst als herzliches Treffen zwischen Vater und «Meister» Chaplin ausnimmt – und was der Kleine stolz all seinen Schulkameraden erzählt –, enthüllt sich bald als «Lüge». Der kleine Junge steht zu Unrecht als Aufschneider da und erfährt erst jetzt, was tatsächlich geschehen ist: nämlich ein Unfall, der seinen Vater das Leben gekostet hat und diesen nie wieder zurückkehren lässt.
Wie schon in ihrem preisgekrönten Vorgänger La limace (2005) erzählt die Filmemacherin auch in ihrem neuen Kurzfilm die Welt aus der Sicht der Kinder. Und auch hier steht im Mittelpunkt wieder eine der grossen Hürden des Erwachsenwerdens, die sie mit viel Originalität bei Kamera und Schnitt in Szene setzt: Ging es bei La limace um den ersten Kuss, steht hier der Umgang mit dem Tod im Zentrum. Und damit, wie mit gewissen schmerzhaften Aspekten der Wirklichkeit umzugehen sei, wozu auch gehört, die andern manchmal hinters Licht zu führen. Mit viel Geschick verschränkt Tanja Zambrano-Ovalle in La vérité vraie Realität und Vorstellungswelt, indem sie beide Sachverhalte dramaturgisch auf dieselbe Ebene stellt und so auch die Zuschauer und Zuschauerinnen – ähnlich dem kleinen Hauptdarsteller – erst im Lauf der Erzählung die «richtige» Variante der Wirklichkeit herauszufiltern lässt. So veranschaulicht die Regisseurin äusserst einfühlsam und humorvoll, wie Kinder ihre Umgebung wahrnehmen – und wie sie oft auf schmerzhafte Weise lernen müssen, die vielschichtigen Zeichen der Erwachsenenwelt zu deuten.